Eingekuschelt in ein blaues Wolltuch, sitzt Sonja Schär im Behandlungszimmer und lächelt, nein, strahlt. Die 82-Jährige hat soeben von Praxisassistentin Miriam Grob erfahren, dass ihr Blutwert bei 6,3 liegt – hervorragend für eine Patientin mit Typ-2-Diabetes («Alterszucker»). Und das trotz dem Schöggeli, das sie immer vor dem Zubettgehen isst. «Es tut meiner Seele gut», sagt die rüstige Witwe. «Gottenfroh» ist sie, als Grob sagt, sie dürfe das Täfeli weiterhin nehmen. Die Praxisassistentin ist auf die Betreuung von Zuckerkranken spezialisiert.

Dann erzählt die weisshaarige Patientin von ihren anstrengenden Turnstunden und ihrer Vorliebe für süsse Bananen. Was wie ein Plauderstündchen wirkt, ist eine Pionierleistung. Denn hier, in der Landarztpraxis von Bruno Köhler im zürcherischen Mettmenstetten, nimmt sich jemand Zeit, auf die Patientin einzugehen – nicht bloss bezogen auf das rein Medizinische, sondern auch auf Aspekte des Alltags, die mit ihrer chronischen Krankheit zusammenhängen. Das nimmt im Kleinen die Zukunft vorweg, die im Grossen anzustreben ist.

Was heisst chronisch krank?

Ein Gesundheitsproblem, das mehr als sechs Monate besteht, gilt als chronisch. Eine andere Definition setzt alle nichtübertragbaren Krankheiten mit chronischen gleich.

Die heutige Realität sieht meist anders aus. Da werden Patientinnen wie Sonja Schär in fünf Minuten abgefertigt, man nimmt ihnen Blut ab, deckt sie vielleicht mit abstrakten Begriffen wie «HbA1c-Wert» ein – und überlässt sie dann mit ihrem gesundheitlichen Problem wieder sich selbst. «Bei der Suche nach Unterstützung stossen chronisch Kranke häufig auf Hürden, insbesondere wegen der Intransparenz und Instanzenvielfalt im Gesundheitswesen sowie der oft widersprüchlichen Hinweise und des kryptischen Fachjargons», heisst es in einem Bericht des Gesundheitsobservatoriums Obsan aus dem Jahr 2015.

Dieser Befund ist alarmierend: Um isolierte Akuterkrankungen wie einen Darmdurchbruch kümmern sich reihum hochqualifizierte Spezialisten. Doch viele Patienten mit einem chronischen, meist unheilbaren Leiden wie Diabetes fühlen sich vernachlässigt.

Das ist deshalb problematisch, weil das Leben mit einer chronischen Krankheit auch in Beruf und Familie hineinwirkt. Wenn es für diese vielschichtigen Bedürfnisse an verlässlichen Informationen fehlt, kommt es schnell zu falschen Handlungsentscheidungen. Unnötige Arztkonsultationen, falsche Medikationen und eine Verschlechterung des Gesundheitszustands können die Folgen sein, verbunden mit längeren Ausfallzeiten in Job oder Haushalt.

Fatal daran: Das Manko im Versorgungsangebot herrscht dort, wo der Bedarf am grössten ist. Denn in der Schweiz ist fast jede dritte Person ab 15 Jahren von einer chronischen Krankheit betroffen, insgesamt rund 2,2 Millionen Menschen. Fast jeder fünfte über 50-Jährige hat gar mehr als nur ein Leiden; man spricht von Multimorbidität.

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Diese hohe Verbreitung der chronischen Krankheiten geht ins Geld. Sie verursachen 80 Prozent der direkten Gesundheitskosten in der Schweiz, mehr als 51 Milliarden Franken im Jahr, besagt der «Nationale Gesundheitsbericht 2015». Hinzu kommen geschätzte 30 bis 40 Milliarden Franken pro Jahr an indirekten Kosten, etwa durch Erwerbsunterbrüche oder informelle Pflege durch Angehörige.

Weil die Gesellschaft altert, werden all diese Werte weiter ansteigen – nicht nur in der Schweiz, sondern in allen westlichen Ländern. Die Weltgesundheitsorganisation rechnet damit, dass chronische Leiden bis 2020 fast drei Viertel aller Krankheiten ausmachen. 1990 war es noch knapp die Hälfte. Die WHO spricht von einem «slow-motion disaster» – einem Unheil, das sich im Zeitlupentempo anschleicht. Das stellt die Gesundheitssysteme vor grundlegende Herausforderungen.

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Ist die Schweiz dafür bereit? «Erst teilweise», heisst es im Rapport des Gesundheitsobservatoriums Obsan. Die Instanz, die das Gesundheitswesen für Bund und Kantone durchleuchtet, macht klar, dass die Gewichte in den Versorgungsstrukturen verschoben werden müssen – «from cure to care». Also weg von der dominierenden Ausrichtung auf die Akutversorgung, die die schnelle Heilung der Erkrankten anstrebt, hin zu einer vernetzten Betreuung, die den Patienten und seine individuellen Bedürfnisse ins Zentrum stellt – und nicht einfach nur seine Krankheit.

Das fordert von den Akteuren im Gesundheitswesen Fähigkeiten, die nicht hoch im Kurs stehen. Sie müssen künftig über den Tellerrand ihres Fachgebiets schauen und von den eingemeisselten Rollenbildern abrücken.

Die Arztgehilfin wird zur Seelsorgerin

In der Praxis von Bruno Köhler im Säuliamt ist dieser Schritt längst vollzogen. Hier ist nicht der Doktor erste Ansprechperson der rund 50 Diabetespatienten, sondern die medizinische Praxisassistentin Miriam Grob. Dieses Modell ist auch auf andere chronische Krankheiten anwendbar. Voraussetzung ist allerdings, dass der Arzt bereit ist, Aufgaben abzugeben und Hierarchien abzubauen. Und dass sich die Praxisassistentinnen trauen, den Schritt nach vorn zu machen und die nötigen Kenntnisse zu erwerben. Eine Bereicherung für beide Seiten – und für die Kranken, die ganzheitlicher versorgt werden und deswegen weniger oft zum Spezialisten müssen.

In diesem Diabetesprogramm misst und interpretiert die Arztgehilfin die Blutwerte. Sie berät bei Ernährungs- und Bewegungsfragen, untersucht die Durchblutung der Füsse und hilft bei den Insulinspritzen. Sie ist so etwas wie die Seelsorgerin der Patienten. Die trauen sich bei ihr eher, auch scheinbar belanglose Fragen zu stellen. Weil Praxisassistentin Grob näher dran ist, weniger Fachchinesisch spricht und die Patienten weniger Berührungsängste haben als bei einem «Herrn Doktor».

Bruno Köhler wird nur gerufen, wenn medizinische Probleme auftauchen, etwa wenn ein Blutwert auffällig ist. So hat er mehr Zeit, sich um andere Patienten zu kümmern.

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«Man darf Patienten nicht länger bloss als passive Konsumenten von medizinischen Leistungen betrachten, sondern muss sie als Teil der Lösung verstehen.»

Claudia Steurer-Stey, Lungenärztin und Chronic-Care-Pionierin

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Szenenwechsel. Die Lungenärztin Claudia Steurer-Stey redet sich in Fahrt: «Wir müssen von der Idee wegkommen, dass für die Zukunft nur die Spitzenmedizin und das Spezialistentum zählen», sagt sie in ihrem Behandlungszimmer der Zürcher Gruppenpraxis Medix. «Die meisten chronisch Erkrankten brauchen einfach eine gute, nutzbringende Alltagsversorgung. Aber das ist für uns Ärzte halt nicht so prickelnd wie die neuste technische Hochleistungsmaschinerie.»

Das Gesundheitscoaching für die Patienten werde viel zu wenig genutzt, sagt Steurer-Stey. Sie ist Projektleiterin «Chronische Krankheiten» am Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich und propagiert das Chronic-Care-Modell, ein Konzept für die Betreuung von Langzeiterkrankten. In Ländern wie Dänemark oder Grossbritannien ist es ein festes Element der Grundversorgung. Der Schlüssel dazu ist, die Betroffenen miteinzubeziehen.

«Chronisch Kranke und ihre Angehörigen wollen durchaus Verantwortung übernehmen», ist Steurer-Stey überzeugt. «Aber nur wenn sie merken, dass das auch gewollt ist und sie dabei unterstützt werden.» Das bedinge einen Bruch mit gewohnten Mustern: Man dürfe Patienten nicht länger bloss als passive Konsumenten von medizinischen Leistungen betrachten, sondern müsse sie als Teil der Lösung verstehen.

Die 55-jährige Professorin und ihr Team praktizieren als Erste in der Schweiz den Chronic-Care-Ansatz mit COPD-Patienten. Dieses Lungenleiden ist eine der häufigsten chronischen Krankheiten weltweit, umgangssprachlich oft Raucherkrankheit genannt. In der Schweiz leiden rund 400'000 Personen an dieser Form der Atemnot, weltweit ist sie die vierthäufigste Todesursache.

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Quelle: PASCAL MORA

In Steurer-Steys Programm kümmert sich ein gemischtes Team um das Wohlergehen der Erkrankten – Ärztin, Physiotherapeutin, Praxisassistentin, Patienten, Angehörige. Gezieltes Coaching soll sicherstellen, dass Patienten und Angehörige rechtzeitig und richtig reagieren, wenn sich der Gesundheitszustand verschlechtert. So werden letztlich Aufenthalte im Spital vermieden, die am meisten zur Kostenexplosion beitragen.

Nach über zwei Jahren hat das Programm zu 62 Prozent weniger Spitaleinweisungen und Notfallkonsultationen geführt. Das konnte Steurer-Stey in einer Evaluationsstudie nachweisen. Zudem stieg die Lebensqualität der Betroffenen markant.

Weshalb gibt es in der Schweiz so erfolgreiche Modelle erst vereinzelt? Für die Zürcher Professorin hat das viel mit den Traditionen und Anreizen im heutigen System zu tun. «Bezahlt werden Krankheit, Komplikationen und Spitalaufenthalte – und nicht das Verhindern davon.» Zudem würden technische Leistungen besser vergütet als betreuerische: «An einem Röntgenbild verdiene ich mehr als an der Leitung einer Beratungsgruppe», sagt Steurer-Stey. Man müsse weg vom Schema der isolierten Einzelbehandlung. Kurz- und mittelfristig brauche es stattdessen einen Aufbau innovativer, vernetzter Chronic-Care-Modelle sowie entsprechende Aus- und Weiterbildung. Diese Investitionen dienten langfristig der Versorgungsqualität – und ebenso der Kosteneffizienz.

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Dabei kommt man nicht ohne ein weiteres englisches Schlagwort aus: Selfmanagement – das richtige Verhalten für ein selbstbestimmtes Leben trotz chronischem Leiden. Was das heisst, lernen in Solothurn gerade sieben Frauen und zwei Männer. Sie sitzen in Hufeisenform an Tischen, vor sich dicht beschriebene Flipcharts – Workshop-Atmosphäre.

Es ist der fünfte von sechs Kursteilen des Selbstmanagement-Programms Evivo. Das E steht für die Kernbotschaft: Empowerment – Stärkung und Sicherheit im Umgang mit der eigenen Krankheit. «Raus aus der Opferrolle kommen und wieder für sich selber schauen», fasst es Teilnehmerin Marguerite Egger zusammen. Die 74-Jährige leidet an Arthrose, Tinnitus und einem Lymphom.

Evivo baut auf einem Modell der US-Universität Stanford auf. Seit 2013 werden Kurse in der Schweiz durchgeführt, momentan an 16 Standorten mit etwa 400 Teilnehmenden mit ganz unterschiedlichen Diagnosen. Im Kurs geht es nicht um bestimmte Krankheiten, sondern um deren Begleiterscheinungen: etwa Schlafprobleme, Niedergeschlagenheit, Angstzustände, Schmerzen. Der Austausch in der Gruppe gibt Betroffenen wie Marguerite Egger «Anstösse, wie man das alles besser bewältigen kann». Wer erkennt, dass er mit seinen Einschränkungen nicht allein ist, kann seine Probleme besser relativieren. Zudem sind auch die Leitungspersonen direkt oder als Angehörige von chronischen Krankheiten betroffen – man tauscht sich auf Augenhöhe aus.

Dabei ist Evivo alles andere als eine lockere Gesprächsgruppe. Der Kurs ist eng strukturiert, man arbeitet sich durch einen dichten Themenkatalog. Die Gruppe in Solothurn befasst sich diesmal mit der Handhabung von Medikamenten. Das ist gerade für Multimorbide wichtig, die oft mit einem Cocktail von Pillen konfrontiert sind, von verschiedenen Ärzten verschrieben – und der eine weiss mitunter nichts von der Medikation des andern.

Wozu nehme ich was? Was tun bei Unverträglichkeiten? Die im Kurs vermittelten Informationen verarbeiten die Teilnehmenden mit Handlungsplänen. Jeder definiert zu bestimmten Themen eine Aktivität, die als Hausaufgabe zu erledigen ist. So wird Wissen zu Handeln.

«Der Kurs nimmt den Leuten die Schmerzen nicht weg, aber er hilft ihnen, mit den Schmerzen besser zu leben. Das trägt dazu bei, dass sie weniger oft zum Arzt müssen.»

Bruno Umiker, Leiter der Evivo-Netzwerkstelle

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Erste Auswertungen zeigen, dass es chronisch Kranken mit diesem methodischen Ansatz tatsächlich gelingt, ihren Alltag zu verbessern. In Franken und Rappen mag Bruno Umiker die positiven Effekte aber nicht beziffern. Der Leiter der Evivo-Netzwerkstelle in Aarau sagt es so: «Der Kurs nimmt den Leuten die Schmerzen nicht weg, aber er hilft ihnen, mit den Schmerzen besser zu leben. Das trägt dazu bei, dass sie weniger oft zum Arzt müssen.»

Evivo sei ein nachahmenswertes Programm zur Stärkung der Eigenverantwortung, heisst es in der NCD-Strategie des Bundesamts für Gesundheit. NCD steht für «non-communicable diseases» – nichtübertragbare Krankheiten, was im Wesentlichen die häufigsten chronischen Formen abdeckt. Die NCD-Strategie soll von 2017 bis 2024 umgesetzt werden. Sie bündelt die bisherigen nationalen Präventionsprogramme zu Tabak, Alkohol, Ernährung und Bewegung und will die Vorbeugungsaktivitäten besser koordinieren. Der Hintergrund ist klar: Nach Schätzungen der WHO lässt sich mehr als die Hälfte der nichtübertragbaren chronischen Krankheiten durch einen gesünderen Lebensstil vermeiden oder ihr Auftreten zumindest verzögern – ein starker Hebel, mit dem sich die Kosten für Gesundheitswesen, Wirtschaft und Sozialversicherungen steuern lassen.

Der Bundesrat hat die NCD-Strategie zur Priorität seiner Agenda Gesundheit 2020 erklärt. «Es ist höchste Zeit, dass sich auch die Politik verstärkt um die Anliegen der chronisch Kranken kümmert», findet Isabelle Peytremann-Bridevaux – auch wenn es erst auf dem Papier passiert. Die Professorin am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Uni Lausanne forscht zu neuen Versorgungsmodellen. Sie stellt fest, dass die Schweiz im internationalen Vergleich erheblichen Rückstand hat. Der Grund dafür? «Wir sind zu reich.» Obwohl die Kosten stetig zunehmen, habe es sich die Schweiz bisher leisten können, länger als vielleicht nötig an ihrem verästelten, hochspezialisierten Gesundheitssystem festzuhalten.

Modelle, die sich an den Bedürfnissen von chronisch Kranken orientieren, halten erst zögerlich Einzug. 2013 identifizierte die Lausanner Forscherin 44 lokale Programme – die allerdings kaum Wissen untereinander austauschten. «Damit ist die Schweiz noch sehr weit von einem bedarfsgerechten Angebot entfernt», vermerkt dazu der Obsan-Bericht. Inzwischen soll es etwa 150 solcher integrierten Versorgungskonzepte geben. Am konsequentesten umgesetzt ist der Ansatz mit dem Diabetesprogramm in der Waadt, das den ganzen Kanton abdeckt. «Immerhin: Die Richtung stimmt», sagt Peytremann-Bridevaux.

Anders dürfe es gar nicht sein, sagt Claudia Steurer-Stey, Schweizer Pionierin des Chronic-Care-Gedankens: «Wir werden alle älter. Und die meisten von uns werden chronische Krankheiten erleben. Kaum jemand stirbt gesund.»

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