Ich bin 56. Bis zur Pensionierung dauerts noch neun Jahre. Bis dahin darf mir nur eins nicht passieren: dass ich den Job verliere. Sonst wirds eng. Weil ich vor der Pensionierung meine Ersparnisse anzapfen muss, und weil nachher die Rente noch dünner ausfallen wird. Dann ist der Traum vom fröhlichen Rentnerleben akut gefährdet: weite Reisen – vorsorglich gestrichen; tolle Wohnung – schon gekündigt; ein bisschen Luxus – längst vergessen.

Schlagzeilen wie jene über den Arbeitslosen Thierry Andreotti, 57, machen es mir nicht leichter. «Hurra, ich habe einen Job!», jubelte er Anfang Jahr im «Blick». 300 Bewerbungen habe er geschrieben und dann Glück gehabt. Nach drei Jahren. Ich gratuliere! Wobei mir Andreottis Geschichte erst recht klar macht: einmal draussen, immer draussen.

Das stimmt nicht, sagt die Statistik. Für mich als über 55-Jährigen ist das Risiko, gekündigt zu werden, relativ klein. Aber je älter ich werde, desto mehr Zeit würde ich brauchen, um eine neue Stelle zu finden. Und alle kennen Geschichten von Leuten wie Thierry Andreotti, die Bewerbung um Bewerbung versenden. Kürzlich hat mir eine Frau gemailt, sie habe sich 480-mal beworben, ohne Erfolg.

Es kann nicht sein, dass wir über 50-Jährigen als lukrative Kunden heiss umworben sind, aber geschreddert werden, sobald wir den Job verlieren.

George Sheldon: «Tempo zählt!»

Mit meinen Fragen wende ich mich an einen, der sich in der verwirrenden Welt der Statistik auskennt: George Sheldon, Wirtschaftsprofessor in Basel und profilierter Experte für Arbeitsmarktfragen in der Schweiz. Das Erste, was mir der 68-Jährige sagt: «Das Risiko, dass Sie in Ihrem Alter entlassen werden, ist sehr klein. Ihre Ängste sind trotzdem nicht aus der Luft gegriffen. Falls Sie nämlich entlassen werden, haben Sie ein gröberes Problem.» Mit Folgen, womöglich bis ans Lebensende. Finanzielle Lücken, die bis zur Pensionierung aufklaffen, lassen sich nachher nicht mehr stopfen.

Nach einer Entlassung müsse man schnell aktiv werden. «Gerade bei älteren Arbeitnehmern ist Tempo wichtig. Ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind umso besser, je schneller sie handeln.» Über 50-Jährige brauchten länger, bis sie eine neue Festanstellung gefunden haben.

Warum das so ist, kann Sheldon nicht sagen. Als Wissenschaftler tappe er im Dunkeln, die Datenlage sei unklar. Aber: «Einen neuen Mitarbeiter anzustellen, bedeutet aus Sicht der Firma eine Investition. Und es lohnt sich naturgemäss eher, in Jüngere zu investieren als in Ältere – einfach weil Jüngere noch ein paar Berufsjahre mehr vor sich haben.» Das sei jedenfalls bei Weiterbildungen so: Firmen förderten ihre Mitarbeiter, bis sie 55 sind, danach kaum mehr. – Schöne Aussichten, denke ich. Mit meinen 56 kann ich auf den nächsten Weiterbildungskurs ewig warten.

Quelle: Stephan Schmitz

Jobs mit über 50: Das sind die Fakten

Das Risiko, gekündigt zu werden, sinkt mit dem Alter. Die Arbeitslosenquote der über 50-Jährigen liegt leicht unter dem Schnitt. Am tiefsten ist sie bei den über 60-Jährigen: bloss 2,6 Prozent. Je älter man wird, desto länger dauert allerdings die Jobsuche. Die Faustregel: Fünf Jahre älter bedeutet einen Monat länger suchen.

71 Prozent der über 55-Jährigen haben eine feste Stelle. Das ist fast Weltspitze. Nur Norwegen und Schweden sind besser dran. Aber die Schweiz hat zuletzt mächtig aufgeholt.

Heute sind 33 Prozent der Arbeitnehmer mindestens 50, in vier Jahren werden es 35 Prozent sein. Ökonomen fordern deshalb, dass mehr Jobs für Ältere geschaffen werden. Personalabteilungen könnten es sich bald nicht mehr leisten, nur unter 50-Jährige zu suchen, wenn sie alle Stellen besetzen wollen.

Als liberaler Ökonom hält Sheldon erwartungsgemäss wenig von staatlichen Schutzmassnahmen für ältere Arbeitnehmende. «Sie nützen jenen, die – noch – einen Job haben. Für jene, die draussen sind, bedeuten sie: Die Chancen auf eine Anstellung sinken.» Das sehe man in Deutschland und Frankreich. Weil über 50-Jährige dort quasi unkündbar sind, werden kaum mehr Ältere eingestellt. Denn die werde man fast nicht mehr los.

Es sei aber gut und richtig, dass über 55-Jährige doppelt so lang Taggelder erhalten wie Jüngere: 520 statt bloss 260 Tage, wenn sie zuvor mindestens zwei Jahre lang Arbeitslosengeld eingezahlt haben.

Wie die Gewerkschaften fordert Ökonom Sheldon für über 60-Jährige längere Kündigungsfristen und einen wirksamen Kündigungsschutz. Doch bezahlen sollen das nicht die Firmen. Denn: «Alterung ist ein gesellschaftliches Problem, Kosten für Sondermassnahmen muss daher die Gesellschaft tragen.» Firmen, die überdurchschnittlich viele Ältere beschäftigten, sollten dafür nicht noch bestraft werden.

Hans-Ulrich Lüthi: «Sofort mit der Suche beginnen!»

Darauf zu hoffen, dass Sheldons Vorschläge irgendwann umgesetzt werden, wird mir nicht helfen. Das sagt mir Hans-Ulrich Lüthi. Er studierte Maschinenbau, machte eine schöne Karriere und stand mit Mitte 50 plötzlich auf der Strasse. 13 Monate lang. Jetzt hat er in Aarau wieder eine Stelle gefunden, als Informatiker. Im Rückblick meint er: «Leider wusste ich nach meiner Entlassung nicht, dass Tempo alles ist. Man muss sehr schnell alle Leute angehen, die einem helfen können, und sofort mit der Stellensuche beginnen.» Das sei sehr schwierig. Denn eine Entlassung sei immer eine schwere persönliche Niederlage. Und die müsse man erst verarbeiten.

Lüthi warnt mich davor, mir Illusionen zu machen. «Grössere Firmen scannen die Unterlagen nach festen Rastern durch. 50 plus ist ein Ausschlusskriterium. Die schauen das Dossier nicht einmal an, wenn sie einen mit Jahrgang 1966 oder älter sehen.» Man müsse hartnäckig bleiben und alle Kontakte ausnützen. Auch wenn einem das schwerfalle.

Das klingt in meinen Ohren alles andere als beruhigend.

Quelle: Stephan Schmitz

Urs Schmid: «Ein Jahresverdienst als Reserve!»

Wie ich mit meinen Ängsten umgehen soll, frage ich Urs Schmid vom Aargauer Amt für Wirtschaft und Arbeit. Der 62-Jährige hat vor drei Jahren jene Vorzeigekampagne für ältere Arbeitslose ausgeheckt, bei der Lüthi mitmachte. Meine Frage kontert Schmid mit einem handfesten Tipp: «Indem Sie so viel Geld auf die Seite legen, dass Sie ein Jahr lang davon leben können. Das gibt Ihnen Luft.» Und: «Indem Sie sich das Schlimmste vorstellen, was Ihnen passieren kann. Dann geht etwas vom Schrecken verloren.»

Schmid weist auch darauf hin, dass man als Arbeitsloser immer wieder kleinere Jobs annehmen und etwas dazuverdienen könne. Zwischenverdienste tun der verwundeten Seele gut und haben den angenehmen Nebeneffekt, dass man halbwegs im Arbeitsleben bleibt und länger stempeln gehen kann. Ich wäre nicht der Einzige, der sich so über Wasser hält, erzählt Schmid. Im Aargau erzielt inzwischen jeder vierte über 50-jährige Arbeitslose einen Zwischenverdienst.

Meistens sei gar nicht das Alter das Problem, sondern die mangelnde Fitness für den Stellenmarkt, beruhigt mich Schmid. Besonders gefährlich sei, die ganze Karriere in ein und demselben Unternehmen zu machen. Dann wisse man zwar alles über seine Firma, verliere aber mit den Jahren den Kontakt mit der sich rasch wandelnden Arbeitswelt ausserhalb. Illoyal zu sein und sich beruflich ständig weiterzuentwickeln, sei deshalb das bessere Rezept. «Wer bis 50 immer den gleichen Arbeitgeber hatte und dann entlassen wird, hat grösste Mühe, einen neuen Job zu finden. Wer dagegen immer wieder wechselt, hat mit 56 bessere Chancen», sagt Schmid.

Quelle: Stephan Schmitz
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Quelle: Beobachter Edition

Gut für mich. Ich habe regelmässig den Arbeitgeber gewechselt. Die Halbwertszeit bei meinen Jobs liegt bei fünf, sechs Jahren. Ein Vorteil, erklärt Schmid: «Sie wissen eher, was Sie auf dem Arbeitsmarkt wert sind, was Sie für einen Arbeitgeber speziell macht und dass Sie Ihre Haut bei der Stellensuche möglichst teuer verkaufen müssen.»

Nur, was nützt mir das, wenn es mir wie Hans-Ulrich Lüthi ergeht und meine Bewerbungsdossiers sofort retourniert werden, wenn man meinen Jahrgang sieht? «Sie können sich darüber aufregen, aber das nützt Ihnen nichts», sagt Schmid. «Konzentrieren Sie sich lieber auf die Faktoren, die Sie beeinflussen können.»

Schön und gut, denke ich mir beim Abschied. Aber wäre es nicht Sache der Arbeitgeber, umzudenken und ein vernünftiges Verhältnis gegenüber älteren Angestellten zu entwickeln? Es wäre schon viel erreicht, wenn sie die Arbeiten von Thomas Ng zur Kenntnis nähmen. Der Hongkonger Wirtschaftswissenschaftler hat 418 Studien ausgewertet. Das Fazit: Die meisten Vorurteile gegenüber älteren Angestellten sind aus der Luft gegriffen:

Falsch liegen auch Politiker, wenn sie sagen, dass höhere Pensionskassenbeiträge ein Hinderungsgrund seien, Ältere einzustellen. Das hat George Sheldon vor Jahren zweifelsfrei nachgewiesen.

Solange die Personalchefs solche Erkenntnisse ignorieren, werden sie jüngere Bewerber trotzdem vorziehen. Was also kann ich unternehmen, dass mir das nicht passiert?

Brigitte Reemts: «Aktiv, aber nicht hektisch!»

Statt an einen dauerüberlasteten RAV-Berater wende ich mich an eine ausgewiesene Spezialistin für Outplacement: an Brigitte Reemts, Partnerin beim Consulting-Unternehmen Dr. Nadig + Partner in Zürich. Sie weiss, wie man eine neue Stelle findet. Darauf hat sich die 52-Jährige spezialisiert. Was ich tun soll? «Ruhe bewahren», sagt Reemts. Ich solle mir den Ausspruch eines Lastwagenfahrers zu Herzen zu nehmen. Der habe ihr erklärt: «Gas geben kann jeder Tubel. Bremsen muss man können!»

Ich müsse bei der Suche aktiv, aber auf keinen Fall hektisch vorgehen. «Jedem erzählen, dass man arbeitslos geworden ist, sein Dossier wild herumschicken und sich bei jedem Headhunter melden, den man kennt, ist ein Fehler», sagt Reemts. Grundfalsch sei auch, auf gut Glück nach Thailand zu fahren und zu hoffen, dass einem eine grandiose Jobidee wie eine Kokosnuss vor die Füsse falle. «Nur wenige finden mit Glück und Inspiration einen guten Job.»

Eine Stelle suchen sei ein Vollzeitjob. Man müsse strukturiert vorgehen. Für mich heisst das: Am Anfang muss ich eine Standortbestimmung durchführen. Ich muss wissen, wer ich bin, in welche Richtung ich mich beruflich bewegen will und was ich meinem künftigen Arbeitgeber bieten kann, sonst wirds nichts.

Neuorientierungen seien gerade für meine Generation der Babyboomer wichtig, sagt Brigitte Reemts. «Ihnen standen zu Beginn des Berufslebens alle Türen offen, die Karriere wurde vom Arbeitgeber quasi vorgespurt.» So hätten sie von Job zu Job langsam die Karriereleiter erklommen. Eine Standortbestimmung eröffne ihnen die Chance, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen und Antworten auf zwei drängende Fragen zu finden: Mach ich noch das, was ich will? Und will ich das, was ich mache?

Das sei so wichtig, weil sich die Arbeitswelt seit den Achtzigerjahren enorm verändert habe, sagt Reemts. Bis dahin habe ein einmal erlernter Beruf für ein Leben gereicht und sich Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber bezahlt gemacht. «Grössere Chancen auf dem Stellenmarkt hat heute, wer immer wieder Boxenstopps eingelegt und sich überlegt hat, ob sein Berufsprofil überhaupt noch gefragt ist.» Daher sei es so wichtig geworden, sich weiterzubilden und nicht stillzustehen.

Quelle: Stephan Schmitz
Quelle: Stephan Schmitz

Schön und gut, wenn ich weiss, was ich will, denke ich mir. Aber was tun, wenn sich wegen meines Jahrgangs niemand mein Bewerbungsdossier anschaut? Reemts Rezept dagegen ist einfach: «Bewerben Sie sich nur für Jobs, für die man Leute mit Ihren beruflichen Erfahrungen sucht.» Die finde man nicht, wenn man den Stellenanzeiger durchkämme, sondern meist über aktives Netzwerken. Das heisse nicht, dass man auf Apéros Cüpli trinkt oder im Freundeskreis um einen Job betteln müsse. «Netzwerken bedeutet, dass man gezielt Informationen über eine Firma sammelt und persönliche Kontakte knüpft – zum Beispiel über Berufsverbände oder auch über Social-Media-Plattformen wie Linkedin oder Xing.»

Das sei gar nicht so schwer, denn in der Schweiz funktioniere das Kleine-Welt-Prinzip nach wie vor. Doch was ist mein Vorteil, wenn ich Kontakte zu einem möglichen Arbeitgeber geknüpft habe, bevor ich mein Dossier einreiche? Es wird nicht auf dem Pult einer Personalverantwortlichen landen, die den Auftrag habe, den Job an eine 30- bis 45-Jährige zu vergeben.

Das klingt nach einem guten Stück Arbeit und viel Zeit, die ich mir nehmen muss. «Aber das ist doch viel besser, als 100 Bewerbungen zu schreiben und 100 Absagen zu erhalten», sagt Reemts. «Wenn man seine Bewerbungskampagne gut vorbereitet, muss man sich nur an ausgewählten Orten bewerben und hat gute Chancen, mindestens zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.» Und dann brauche es eigentlich nur noch das nötige Quäntchen Glück.

Wertlose Berufserfahrung?

Für die Frau, die 480 Bewerbungen geschrieben hat, klingt das reichlich realitätsfremd. Als 59-jährige Buchhalterin habe sie keine echte Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt: «Man will nur Leute mit Uniabschluss, langjährige Berufserfahrung zählt nichts mehr.» Das letzte Mal, dass sie sich vorstellen konnte, war im vergangenen Juni. «Ich bin inzwischen schon dankbar, wenn man mir überhaupt noch eine Absage schickt.»