Jairo Suarez ist ein ausdauernder Mensch. Er hat jeden Nebensatz aus 300 Megabytes Gerichtsbeschlüssen und Gutachten durchleuchtet. Er sucht die Wahrheit über den Tod seines Vaters. Der gebürtige Argentinier sitzt in einer Zürcher Beiz und bestellt einen «Café con dos terrones de azúcar». Mit Koffein, Zucker und Durchhaltevermögen will er, wenn nötig, bis zur letzten Instanz. Seine Widersacher sind drucksende Staatsanwälte, schweigende Ärzte und die Stiftung Sozialwerke Pfarrer Sieber. 

Ein einsamer Junkie an Weihnachten

Der 35-Jährige zeigt auf ein blaues Buch: Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Arzthaftpflicht und Arztstrafrecht. «Die sollen sich nicht mehr hinter ihren Fehlern verstecken dürfen», sagt Jairo Suarez.

Vor fünf Jahren war Felix Suarez aus der Zürcher Wohnung seines Sohnes ausgezogen, versuchte sich zwei Wochen lang allein auf der Strasse. Einen Tag vor Heiligabend stand er entkräftet vor Pfarrer Siebers Drogenklinik Sune-Egge. Einsam und allein – wie es an Weihnachten nur ein Junkie ist.

Der diensthabende Arzt an diesem Donnerstag gibt ihm Obdach und viele starke Medikamente. Etwas künstliche Geborgenheit – nicht aus Nächstenliebe, sondern aufgrund einer Polytoxikomanie: Suarez ist mehrfach abhängig, von Alkohol, Kokain und Heroin.

Der Vater fällt zu Boden, bleibt liegen. Man versucht, ihn zu reanimieren. Eine Stunde lang. Vergeblich.

Dagegen sollen Temesta, Seresta und Methadon helfen. Starke Beruhigungsmittel, sogenannte Benzodiazepine, und Heroinsubstitut. In hohen Dosen, die der 56-Jährige nicht unbedingt gewohnt ist. Bei einem unkomplizierten Entzug, sagt der behandelnde Arzt später der Polizei, sei das üblich.

Am frühen Abend des 27. Dezembers 2010 fällt Felix Suarez auf den Boden und bleibt hinter seinem Bett liegen. Das Gesicht gedunsen, die Pupillen starr. Eine Krankenpflegerin versucht ihn zu reanimieren, die Sanitäter ebenso. Eine Stunde lang. Vergeblich.

Dabei deutete laut Aussage des Oberarztes nichts auf einen Notfall hin. Er hatte Felix Suarez am Morgen noch schwankend auf dem Gang angetroffen, nahm ihm den Puls, stellte aber keine weiteren Fragen. Am Nachmittag beobachtete eine Pflegerin, wie er tief schlafend und aussergewöhnlich stark schnarchend im Bett lag. Es ist der letzte Eintrag im Pflegeprotokoll.

Vergrössertes Herz, verfettete Leber

Wie üblich bei ungewöhnlichen Todesfällen begannen medizinische Abklärungen. Erste Erkenntnisse lieferte der Obduktionsbericht des Unispitals Zürich. Das Herz des Argentiniers war krankhaft vergrössert, die Leber verfettet, von einer beginnenden Zirrhose gezeichnet. Die Todesursache wurde bis heute nicht geklärt. Weil es nichts zu klären gibt, sagt die Staatsanwaltschaft. «Weil sie es nicht klären wollen», sagt Jairo Suarez.

Wenn es nötig ist, will Jairo Suarez bis zur letzten Instanz gehen.

Quelle: Kornel Stadler

Die Nachricht vom Tod seines Vaters reisst Jairo Suarez aus der Verankerung. Erst Wochen später findet er neuen Halt. In seiner kleinen Wohnung recherchiert er minuziös und leidenschaftlich. Er beginnt, jeden Stein zweimal umzudrehen. «Warum hat mein Vater im Sune-Egge so viel Methadon erhalten? Er hatte Heroin immer in sehr geringen Dosen konsumiert.» Das Medikamentenprotokoll belegt die ärztlich verschriebenen Mengen: 30 Milligramm am ersten, 50 am zweiten und dritten, 60 am vierten und 70 Milligramm am letzten Tag.

Ungewöhnlich, sagt Jairo, zudem sei «im Obduktionsgutachten festgehalten, dass mein Vater an einer Leberzirrhose litt, wodurch er eigentlich nicht mehr in der Lage war, das viele Methadon abzubauen». Die Leberwerte wurden erst nach seinem Tod untersucht, und auch auf die 11,5 Kilogramm Gewichtszunahme in nur vier Tagen hat niemand reagiert.

«Ich bin niemandem böse, aber…»

«Und es gibt noch viel mehr Unklarheiten», holt Jairo Suarez aus. Mit seiner Akribie hatte weder der Arzt noch die Staatsanwaltschaft Zürich Sihl gerechnet, als sie die Untersuchungen rund ein Jahr nach dem Tod des Vaters einstellten – wegen fehlender Hinweise auf ein strafrechtlich relevantes Verhalten. Da hatte Jairo Suarez zusammen mit seinen vier Geschwistern bereits einen Anwalt engagiert und reichte Beschwerde ein. Suarez studiert Arzneimittel-Kompendien, vergleicht Benzodiazepine mit Antidepressiva, berechnet die Dosierung der Beruhigungsmittel und stellt sie gängigen Richtwerten gegenüber. Er fordert Einsicht in Obduktionsberichte, Verhörprotokolle und insistiert unermüdlich, weil ihm Arztberichte vorenthalten werden. Und findet schliesslich doch Hinweise auf eventuell strafbares Verhalten in der Drogenklinik der Sozialwerke Pfarrer Sieber.


Die zweite Tasse Kaffee wird serviert, Jairo lehnt sich zurück und senkt die Stimme: «Ich bin niemandem böse. Wir machen alle Fehler, wir sollten aber daraus lernen. Sonst kann man sich nicht entwickeln.»

Ein Fremder platzt in die Wohnung, ein Junkie. «Das ist ein Freund», versichert der Vater dem fassungslosen Sohn.

Der 35-Jährige hat bereits aus seinen Fehlern gelernt. Vor über zehn Jahren sass er bei seinem Vater, als ein Fremder in die Wohnung platzte. Ein Junkie. Jairo forderte ihn auf zu gehen, scheuchte ihn zur Tür und aus der Wohnung. «Das ist ein Freund», versicherte der Vater dem fassungslosen Sohn. «Ich bin noch immer schockiert von meiner Reaktion», sagt Jairo Suarez. Doch damals realisierte er, dass die Drogen das Leben seines Vaters bestimmten. «Intellektuell konnte ich es nachvollziehen, hatte ich mich damit abgefunden. Emotional aber konnte ich es nicht akzeptieren. Bis heute lerne ich, damit umzugehen.»

Mit der Zeit kamen immer mehr «solche Freunde», machten sich in der Wohnung breit, nützten die Gutmütigkeit des Vaters aus. Dabei war Felix Suarez früher eine starke Persönlichkeit gewesen. In Argentinien politisierte er als Anarchist, schrieb gegen den Filz an, kämpfte für eine gerechtere Welt ohne das Joch der Oberschicht.

Jetzt litt er, abgestürzt in die Unterschicht, unter dem gesellschaftlichen Druck. Die Nachbarn wollten ihn loswerden. Viel zu viel Stress in der Wohnung des Junkies. Sie beschwerten sich beim Vermieter und forderten die Kündigung. Jairo konnte nicht länger zusehen. Er fing an, den Vater in die Therapie zu begleiten, therapeutisch auch für ihn. Aus dem Sohn, der seinem Vater nur beisteht, wurde ein Idealist, der für dessen Rechte kämpft, Paragraphen liest, Gesetze zitiert und juristisch interveniert – bis sein Vater in der Wohnung bleiben durfte.

Den Kampf gegen die Drogensucht des Vaters sollte er nicht gewinnen. Also machte er ihn zu seinem Mandanten. Aus dem hilflosen Opfer wurde ein Mann mit Rechten. Aus Papa wurde Felix. Nach Gerechtigkeit sucht er nun bei den Richtern.

Mit List gewinnt er einen Mitkämpfer

Die Beschwerde gegen die Einstellung der Untersuchungen wird gutgeheissen. Das Obergericht weist die Staatsanwaltschaft an, das Verfahren fortzuführen. Toxikologische Untersuchungen werden eingeleitet, der Stationsarzt wird zum zweiten Mal befragt. «Er hatte schlicht zu wenig fachliche Kompetenz, um meinen Vater richtig zu versorgen», ist Jairo überzeugt.

Um das zu beweisen, kämpft er nicht mehr allein. Als das Verfahren stockte, besuchte er im vergangenen Jahr eine Koryphäe der Zürcher Drogenpolitik, Dr. André Seidenberg. Mit einer List verschaffte er sich Gehör in dessen Praxis: Zur Behandlung seiner Rückenschmerzen ging er statt zum Hausarzt zu Seidenberg. Während dieser ihn untersuchte, erzählte er vom Vater und den vielen Ungereimtheiten.

Ist Suarez vielleicht an einem Infarkt gestorben, ohne dass jemand etwas dagegen getan hätte?

André Seidenberg war interessiert, studierte die Akten ausführlich und fand tatsächlich Hinweise auf eine mögliche Verletzung der Sorgfaltspflicht durch den behandelnden Arzt der Drogenklinik Sune-Egge. Seidenberg schickte ihm ein ausführliches Dossier, voll mit präzisen Analysen. Unter anderem sei für ihn nicht nachvollziehbar, warum Felix Suarez überhaupt mit Benzodiazepinen in dieser hohen Dosis sediert wurde. Und warum Felix Suarez innerhalb von vier Tagen 11,5 Kilogramm zugenommen hatte. Das sei nur durch massive Wassereinlagerungen überhaupt möglich, was wiederum auf ein schwaches Herz hindeutet. Ein EKG war zwar gemacht worden, doch die Klinik Sune-Egge hält es auch noch nach Jahren unter Verschluss. Ist Suarez vielleicht an einem Infarkt gestorben, ohne dass jemand etwas dagegen getan hätte?

«Die Wahrheit kommt ans Licht»

Der Verteidiger des Arztes kontert: Im Nachhinein gäbe es immer Hinweise, was hätte besser gemacht werden können. Doch für das Obergericht sind es zu viele offene Fragen. Deshalb forderte es im November ein ausführliches medizinisches Gutachten und gibt den Fall zurück an die Staatsanwaltschaft. Eine Sorgfaltspflichtverletzung ist auch fünf Jahre nach dem Todesfall nicht ausgeschlossen. Jairo Suarez ist sicher: «Die Wahrheit kommt ans Licht.»

Mittlerweile hat der 35-Jährige sein Arbeitspensum auf 60 Prozent reduziert – an zwei Tagen die Woche studiert er nun Akten ohne Ende. «Was kommt, wenn die Sache vorbei ist, weiss ich nicht. So weit denke ich nicht voraus.» Er analysiert weiter, bis in kleinste grammatikalische Details.

«Kein Arzt, sondern eine medizinische Assistentin hat den Verlaufsbericht zum Tod meines Vaters in der Ich-Form verfasst und unterschrieben, obwohl sie laut Pflegeprotokoll erst am letzten Tag anwesend war! Wie kann so was bitte passieren?» Mit Leidenschaft kämpft er weiter. Für den wichtigsten Mandanten seines Lebens.