«Die Bäuerin und die Haushalthilfe hatten ein Festessen gekocht. Sie hatten den Tisch mit Blumen geschmückt, aber die Dekoration wirkte fast schäbig neben den vollen Schüsseln. Da begriff ich, was Erntedank heissen kann nach einem Jahr der Unwägbarkeiten, nach spätem Frost und langen Regenperioden: der Dank und die Freude, dass die Ernte eingebracht ist.» So schreibt Schriftsteller Peter Stamm im Geschäftsbericht von Bon appétit.

Heute ist Erntedank für die Aktionärinnen und Aktionäre der Bon appétit Group. Vor dem Schützenhaus Albisgütli in Zürich flattert ein Fahnenwald im Wind. Die 26 Kantonsflaggen, die zu Ehren des kantonalen Schützenfestes gehisst sind, gehen nahtlos in die Firmenflaggen von Bon appétit über: Usego, Primo/Visavis, Pick Pay, Frimago, Howeg, Prodega, Growa und Lekkerland steht dort in knalligen Farben auf weissem Grund. Es ist halb zwei, Türöffnung – und auf der rollstuhlgängigen Rampe vor dem Eingangszelt stehen bereits rund 30 Personen, um sich die besten Plätze im Saal zu sichern.

«Stimmmaterial bereithalten», steht auf einer Tafel, die über ihren Köpfen baumelt. Die Wartenden klauben die Eintrittskarte mit den angehefteten Stimmzetteln hervor: ihr Ausweis als Aktionär der Firma. Neugierige schielen auf die Stimmcoupons der andern, denn dort ist die Anzahl Aktien vermerkt, die sie besitzen. Ob Klein- oder Grossaktionär, ist bei diesem Fest jedoch zweitrangig. Wer die Einladung gegen den roten Zettel mit dem Aufdruck «Gutschein für ein Aktionärsgeschenk» eintauscht, bekommt am Schluss die wichtigste Trophäe des heutigen Tages.

Alles gratis – alles gut

Unter den «zehn besten Fress-Aktien» im Land verspreche die Generalversammlung (GV) der Bon appétit Group «am meisten Spass», schrieb der «Blick» im März. Die Zahlen belegens: 560 Leute haben sich angemeldet – 160 mehr als im letzten Jahr. «Wir sind sehr überrascht über den Andrang», sagt Caterina Braedler. Sie leitet das Aktionärsregister der Firma und hat die GV mitorganisiert. Heute kontrolliert sie den Zutritt. Viele Gesichter sind ihr schon seit Jahren bekannt: «Das ist der, der keine Weinflaschen will» oder «der kommt immer mit Frau und Sohn», sagt sie. Einen Herrn ertappt sie dabei, wie er sich mit einer zweiten Eintrittskarte einen weiteren Gutschein erschleichen will.

Gleich im Zelt nach dem Eingang offerieren junge Männer mit grüner Schürze zuerst einmal einen kleinen Aufputscher: Espresso und Capuccino von Starbucks. Bon appétit führt diese amerikanische Kaffeekette in der Schweiz und in Österreich ein. Die Absperrung, die die Neuankömmlinge vom Gratiskaffee trennt, wurde am Vorabend noch leicht verbreitert: «Die hüpfen sonst über die Abschrankung, wenn es etwas gratis gibt», hatte eine Helferin gescherzt.

Obwohl es bis zum Beginn der Versammlung noch eine Dreiviertelstunde dauert, füllt sich der Albisgütli-Saal allmählich. An den runden Tischen ist für je acht Personen gedeckt. Auf den rosa Tischtüchern stehen blaue Töpfe mit Fleissigen Lieschen in Weiss oder Pink, daneben Sektkühler mit kalifornischem Weisswein. Die Aktionäre begrüssen sich, viele kennen sich – sagen «Sali Herr Generaldirektor», «weisch no, s letscht Johr?» oder «gohsch au a d Phonak-GV?» –, und suchen sich einen Platz. Eine elegant gekleidete Grauhaarige erklärt freundlich: «Das ist das Vergnügen der Pensionierten, das sind unsere Jahrgänge, die sich hier treffen.»

Promille schon vor der GV

An einem Tisch im hinteren Teil des Albisgütli-Saals, dort, wo die goldenen Kränze früherer Schützenfeste in den Vitrinen hängen, haben sich ein ehemaliger Steuerexperte, eine Exprokuristin, ein früherer Verbandsfunktionär, ein Gartenbauamtleiter und eine Professorenwitwe zusammengefunden. Walter Muster, früher 28 Jahre lang Zigarettenvertreter, schenkt vom kalifornischen Chardonnay mit Jahrgang 1997 ein und lächelt: «Das ist selten, dass es schon vor der Versammlung Wein gibt.» Er entschied sich aufgrund des «Blick»-Artikels, Aktionär von Bon appétit zu werden. «GVs sind mein Hobby», sagt er.

An den Tischen werden Trophäen anderer GVs vorgezeigt: Einer wedelt mit der neuen Swatch, die er beim Uhrenhersteller erhalten hat. Agenden werden gezückt und die Termine für die nächsten Generalversammlungen abgesprochen. Die Professorenwitwe schwärmt von der GV der Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn von morgen: «Die Versammlung findet auf einem Schiff statt, und am Abend gibt es ein Bankett im Kursaal Bern.»

Walter Musters Lieblings-GV ist die von Mövenpick in Regensdorf. «Da gibt es vier Gänge, Lachs und Champagner als Vorspeise.» Manchmal besucht er sogar zwei Veranstaltungen an einem Tag. Doch die hektischsten Monate seien bald vorbei, ab Juli gehe er höchstens noch zweimal die Woche. Insgesamt besucht Muster jedes Jahr rund 20 Generalversammlungen.

Sein Tischnachbar ist hingegen ein so genannter Pandur, einer, der fast überall dabei ist: 80 oder 100 GVs seiens vermutlich – er hat noch nie gezählt. Sein persönlicher Rekord: vier Versammlungen an einem Tag. Das sei aber nur bei Martin Ebners Visionen möglich. Bei Bon appétit schätzt man, dass rund 60 bis 70 Prozent der Gäste zu den Profi-GV-Gängern gehören; weniger charmant ausgedrückt werden sie auch «Bhaltis-Jäger» oder «Fress-Aktionäre» genannt.

Die zwei Damen am Tisch plaudern immer noch über ihre geselligsten GV-Erfahrungen, als punkt 14.30 Uhr der Verwaltungsratspräsident Mario Fontana ans Rednerpult tritt und das Publikum begrüsst: «Es ist schwer verständlich, dass Sie so zahlreich gekommen sind, wenn das Wetter draussen so schön ist.» Nach ein paar Worten zum Abstimmungsprozedere präsentiert Edwin A. Scherrer als Vorsitzender der Geschäftsleitung Folien zur erfolgreichen Ernte im Geschäftsjahr 2001.

Das Geschäft ist zweitrangig

Während Scherrer über Zielsetzungen, Frischezonen im Detailhandel und die Umstellung des Klosters Fahr zum Biobetrieb spricht, erlaubt man sich am Tisch nebenan leise die ersten Scherze. Der Ex-Verbandsangestellte studiert schon mal die Menükarte. «Geld ist zwar wichtig, aber nicht alles», sagt Scherrer und erntet dafür zustimmendes Kopfnicken. Seine Rede zum Geschäftsbericht endet mit den Worten: «Wir sind ein Unternehmen mit Zukunft, das auch Ihnen Freude machen wird.» Der Applaus ist ihm sicher.

Ein Herr Grob aus Bern meldet sich zu Wort. «Den kenne ich», sagt der Pandur. «Dem gebe ich ab und zu Eintrittskarten für GVs in Bern, damit ich nicht selber hinfahren muss.» Im Gegenzug erhält er Eintritte für Zürcher Generalversammlungen. Kartentausch ist unter GV-Gängern gang und gäbe. Redner Grob will wissen, welche Sportanlässe Pick Pay sponsert. «Sackgumpen», ruft der Rekord-GV-Besucher. Er heimst dafür ein paar Lacher ein.

Filet für die gute Laune

Zu jedem Abstimmungstraktandum gehen die Hände praktisch geschlossen in die Höhe: Berichte und Gewinnverwendung werden genehmigt, und der Verwaltungsrat wird entlastet. Am Tisch ist man sich einig, dass man hier eh nichts zu sagen hat: «Die da vorn haben mehr als 50 Prozent der Stimmen.» 52 Prozent der Aktien gehören Verwaltungsrat Beat Curti, der auf der Bühne sitzt. «Wissen Sie, wir sind hier nur kleine Fliegen, wir kommen, um die schönen Seiten der Generalversammlung zu geniessen», sagt Walter Muster.

Nur einmal kommt noch ein bisschen Spannung auf. Eine Handvoll Aktionäre möchte jeden Verwaltungsrat einzeln wieder wählen statt als Gesamtpaket. «Die wollen wieder an Reutlinger rütteln», ist ein Tischnachbar überzeugt. Im letzten Jahr hatten ein paar Aktionäre den Versuch gestartet, Verwaltungsrat Paul Reutlinger wegen seiner Mitverantwortung für die Swissair-Krise abzuwählen. Der Antrag bleibt auch diesmal chancenlos.

Inzwischen ist es Viertel vor vier, die Fleissigen Lieschen auf dem Tisch sind bereits etwas lahm, und der Chardonnay ist schon lange leer getrunken. Roberto Fröhlich, Generalsekretär der Firma, tritt ans Mikrofon: «Wir kommen jetzt zum hoffentlich nicht weniger spannenden informellen Teil. Gleich wird unser robuster Imbiss aufgefahren. Auf den ausdrücklichen Wunsch aus Ihren Kreisen ist es uns wieder gelungen, eine der besten Blasmusiken des Landes zu engagieren.»

Die Stadtmusik Schwerzenbach ZH übernimmt die Bühne und bläst einen Marsch, während 26 Kellnerinnen und Kellner Spargelsalat mit Rauchlachsstreifen servieren. Auf die Schweinsfiletmedaillons mit Garnitur folgen Chaux aux Fraises zum Dessert. Das währschafte Mahl ist sehr beliebt: Manche Aktionäre fragen schon im Januar bei Bon appétit nach, was es im Juni an der GV zu essen gibt.

Noch vor wenigen Jahren kamen immer weniger Aktienbesitzer an die Versammlung. Roberto Fröhlich: «Wir wollten nicht, dass Beat Curti plötzlich allein dasitzt, wir wollten eine gelebte Aktionärsdemokratie. Darum haben wir uns gesagt: Es muss an der Generalversammlung ein gutes Essen geben, Musik und eine kleine Überraschung.» Bei Bon appétit gilt mit Ausnahme von Schnäpsen und Raucherwaren seither «all inclusive».

Fleissige Lieschen abgetischt

Während die ersten Stumpen entbrannt werden, schreitet Verwaltungsratspräsident Mario Fontana die Tischreihen ab und plaudert mit den Gästen. Ab und zu wippt er gar zum Takt der Blasmusik in den Hüften. Um Viertel nach fünf haben sich die ersten bereits ihre Bhaltis geholt und unter den Stühlen verstaut: Kaffee, Tee, Guetsli und eine Tasse von Starbucks, dazu eine Flasche australischen Cabernet-Sauvignon und ein Piccolo Schampus.

Die ehemalige Prokuristin sichert sich vorsichtshalber schon mal die Fleissigen Lieschen: «Die nehm ich mit, die passen wunderbar auf meine Terrasse.» Nach eigenen Angaben ist sie Aktionärin bei rund 120 Firmen. Um halb sieben trinken die Letzten in ausgelassener Stimmung noch die Reste des Lausanner Grand Cru 2000 aus. Es soll auch schon Aktionäre gegeben haben, die Weinzapfen von zu Hause mitbrachten – um die angebrochenen Flaschen für den Heimtransport zu verschliessen.

Die meisten Tische sind leer gefegt: Die Fleissigen Lieschen sind weg, und selbst ein Teil der Ständer mit den Firmenwimpeln fehlt. «Ein paar Aktionäre haben wirklich das Gefühl, dass ihnen die Firma gehört», kommentiert Fröhlich.

Das stimmt ja auch, selbst wenn es nur ein bisschen ist. An einem Tag im Jahr fahren sie ihren Teil der Ernte ein.