Eines Tages hielt Thomas Fingerlin die Heimlichtuerei nicht mehr aus. Während vieler Jahre hatte er sich in einer Freien Missionsgemeinde im Vorstand und in der Jugendarbeit engagiert. 2005 offenbarte sich der verheiratete Vater von zwei erwachsenen Kindern an einer Vorstandssitzung, hatte sein Coming-out als Schwuler. «Das Doppelspiel hat mir am meisten zu schaffen gemacht», sagt Fingerlin. «Ich hatte am Sonntag Gottesdienstleitung und wusste, dass meine Lebensweise abgelehnt würde, wenn ich dazu stünde.»

In der Tat: «Noch an derselben Sitzung sagte man mir, ich sei nicht mehr erwünscht, und verbot mir die Jugendarbeit.» Für Fingerlin, der sich mit Leib und Seele in dieser evangelikalen Gemeinde engagiert hatte und in der auch sein Sohn Missionar war, brach eine Welt zusammen. «Ich fragte noch, ob sie Schwulsein mit Pädophilie gleichsetzten. Sie bejahten.»

«Immerhin zivilisiert»

Wie Fingerlin ist es schon Dutzenden von Schwulen und Lesben ergangen, die in einer Freikirche wegen ihrer sexuellen Orientierung nicht mehr erwünscht waren. So auch Beat Feurer, der sich in einer Gemeinde in Biel engagierte. «Ich wusste seit meinem 16. Lebensjahr, dass ich schwul bin», sagt er, «doch ich lebte das damals nicht aus, weil ich glaubte, dass es der Bibel widerspreche.» Jahrelang war er in einem inneren Konflikt gefangen. Erst mit 45 stand er offen zu seiner Homosexualität und fand auch bald einen Freund.

Weil er wollte, dass seine Gemeinde sich mit dem Thema auseinandersetzte, suchte er das Gespräch. «Man sagte mir, ich sollte nicht mehr in die Kirche kommen. Aber immerhin hat man in zivilisiertem Rahmen diskutiert», so Feurer. Er geht allerdings bis heute noch einmal pro Monat in den Gottesdienst. «Das war vor allem am Anfang schwierig.» Gleichzeitig hat er sich aber mit anderen betroffenen Schwulen und Lesben in der Gemeinschaft «Zwischenraum» organisiert, wo Frömmigkeit und eine «in Verantwortung vor Gott gelebte Sexualität» in Einklang gebracht werden sollen.

«Ich empfand es als Sünde»

In einer Freikirche hat die heute 38-jährige Hebamme Eva Kaderli ihre Lebenspartnerin kennengelernt. Sie wurde vor die Alternative gestellt, entweder ihre Freundin aufzugeben oder die Kirche. «Das brachte mich in grosse seelische Nöte», sagt Eva Kaderli, «weil ich diese Beziehung damals als Sünde empfand.»

Schliesslich entschied sie sich für ihre Freundin, mit der sie auch heute noch zusammen ist, und kehrte jener Kirche, nicht aber Jesus, den Rücken. Sie trifft sich regelmässig mit rund einem Dutzend Gläubigen – Männern wie Frauen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben – zu Gebet und Diskussionen über biblische Themen. «Ich habe die tiefe Überzeugung, dass wir alle von Gott so geschaffen und geliebt sind.»

Die einzelnen Freikirchen gingen unterschiedlich mit homosexuellen Mitgliedern um, sagt Markus Häsler, Vorsteher der Vereinigung Freier Missionsgemeinden. «Es ist möglich, dass gewisse Gemeinden sie ausschliessen.» Häsler sieht seine Position so: «Wir betrachten die Homosexualität als Problem, dulden aber Gottesdienstbesucher, die kein Aufheben um ihre Neigung machen.»

«Keine guten Vorbilder»

Für Häsler ist eine heterosexuelle Beziehung in der Ehe moralisch höher zu werten als eine homosexuelle. Ausgeschlossen ist für ihn, dass Schwule Jugendleiter sein können, «weil sie für die Jugendlichen keine guten Vorbilder sind». Für die Freikirchen es mit einem Leben getreu der Bibel nicht vereinbar, die homosexuelle Orientierung auszuleben. Auf die Frage jedoch, was die Bibel zu Homosexualität sage, weiss Häsler spontan keine Antwort. Deshalb hier eine Stelle aus dem Alten Testament: «Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Greueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen» (2. Mose, Lev 20, 13).

Von Homosexualität abkehren

Für viele Evangelikale ist Homosexualität nicht fester Teil der Identität, sondern veränderbar. «Homosexualität ist ein Lebensstil, der in einem Leben gemäss Jesu nicht praktiziert werden soll. Ich glaube aber, dass Homosexuelle kraft des Glaubens davon abkehren können», sagt Max Schläpfer, Präsident des Verbandes evangelischer Freikirchen Schweiz und der Pfingstmission. Er kenne solche Beispiele.

Wie passt es zur christlichen Nächstenliebe, wenn Freikirchen Homosexuelle hinausekeln? Schläpfer findet die Frage unfair. «Ich kann doch jemanden gernhaben, auch wenn ich nicht alles billige, was er macht. Als Vater habe ich meine Kinder immer gern, auch wenn ich sie ab und zu in die Schranken weisen muss.»

Während einem homosexuellen Gemeindemitglied höchstens der Ausschluss droht, kann es den Arbeitsplatz kosten, wenn der Arbeitgeber den Freikirchen nahesteht. Das musste Elisabeth Kaiser* vor wenigen Wochen erfahren. Sie leitete ein Heim der Heilsarmee, das behinderte Kinder und Jugendliche zur Entlastung der Eltern für eine gewisse Zeit aufnimmt. Seit einigen Monaten lebt sie in einer lesbischen Partnerschaft mit Ursula Kägi*, die im selben Heim eine Kaderfunktion hat. Weil sie ihre Beziehung nicht heimlich leben wollten, informierten sie ihre Vorgesetzten und das Personal. «Innert weniger Tage erhielt ich die Kündigung», erzählt Kaiser, «und diese wurde später bestätigt, obwohl die Mitarbeitenden sich mit mir solidarisiert hatten.» Das «Hauptquartier» der Heilsarmee sagt ausdrücklich, die Kündigung sei erfolgt, weil sie «aussereheliche und gleichgeschlechtliche Verbindungen» nicht tolerieren könne.

Rechtlich nicht haltbar

Arbeitgeber mit religiösen oder politischen Zielen können von ihren Angestellten bestimmte Verhaltensregeln verlangen. Dazu Thomas Geiser, Spezialist für Arbeitsrecht an der Universität St. Gallen: «Ein sogenannter Tendenzbetrieb kann Regeln aufstellen, etwa die katholische Kirche, die keine verheirateten Priester anstellt. In diesem Fall hätte aber die Heilsarmee Mühe darzulegen, dass sie keine homosexuellen Mitarbeitenden in Kaderfunktionen akzeptiert.»

Geiser ist kein so krasser Fall bekannt, bei dem jemandem aufgrund der sexuellen Orientierung gekündigt wurde. «Die Kündigung ist missbräuchlich, weil sie gegen das Arbeitsvertragsrecht verstösst. Und mit einer solchen Begründung macht sich diese Organisation auch noch lächerlich.» Die beiden Frauen sind auf Stellensuche.

*Name geändert

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