Ich fühle mich moralisch verpflichtet, meinen kranken Vater zu pflegen. Muss ich das?

Eigentlich müssen Sie das nicht, nein. Aber nur schon die Tatsache, dass Sie sich moralisch verpflichtet fühlen, lässt mich aufhorchen: Wenn Sie es nicht tun, ist Ihnen auch nicht wohl dabei… Es wäre wichtig zu wissen, ob Sie im selben Haus wie Ihr Vater oder aber weit weg wohnen. Dann sollte man wissen, woran Ihr Vater leidet: «Krank» kann vieles bedeuten, und er könnte ja im besten Fall auch wieder gesund werden. Heutzutage lässt sich ja auch fast alles organisieren: Spitex, Mahlzeitendienst, notfalls ein Tagesheim für einen oder mehrere Tage pro Woche. Aber eben, es kommt auf die Art der Erkrankung an. Abgesehen davon spielt es eine Rolle, ob die Mutter noch lebt, wie Ihre Beziehung zum Vater zeitlebens war, ob andere Geschwister sich an der eventuellen Pflege oder Betreuung beteiligen würden. Aus moralischer Verpflichtung heraus muss niemand seinen Vater pflegen.

Mich ekelt allein schon die Vorstellung, bei meiner dementen Mutter die Intimpflege verrichten zu müssen. Bin ich deshalb eine schlechte Tochter?

Nein, das sind Sie nicht! Es gibt so viel, was Sie Ihrer dementen Mutter zuliebe tun können, die Intimpflege jedoch sollten Sie Fachpersonen überlassen können. Diese gehen mit mehr «Abstand» an solche Verrichtungen heran. Lebt denn die demente Mutter noch zu Hause? Dann würde ich die Spitex organisieren für die Körperpflege, denn auch ein eventuell noch lebender Ehemann wäre damit restlos überfordert. Sie als Tochter sollten viel eher einfach Zeit haben können für Ihre Mutter, die Sie unbelastet von Verrichtungen mit ihr verbringen können, denn das tut beiden gut.

Ich brauche dringend einmal Ferien – aber wer soll dann meinen pflegebedürftigen Vater daheim betreuen?

Erkundigen Sie sich im Pflegeheim an Ihrem Wohnort, ob der Vater dort ein Ferienbett mit Pflege bekommen könnte. Wenn Sie das früh genug organisieren, sollte das durchaus möglich sein. So könnten Sie beruhigt Ferien machen. Abgesehen davon kennt Ihr Vater das Pflegeheim dann schon, denn es könnte ja sein, dass er später ohnehin nicht mehr zu Hause bleiben kann.

Mein Umfeld versteht nicht, dass ich meine kranke Mutter nicht pflegen will. Dabei war unsere Beziehung schon früher sehr angespannt. Jetzt habe ich grosse Schuldgefühle und frage mich, ob meine Entscheidung richtig ist.

Nur Sie allein können diese Entscheidung einschätzen. Ihr Umfeld hat eigentlich keine Meinung zu haben, denn diese Menschen sehen die Situation ja nur von aussen, und es geht sie eigentlich auch gar nichts an. Es ist sehr schweizerisch, immer vor anderen Türen wischen zu wollen. Versuchen Sie, das zu ignorieren. Sie müssen, falls Sie konsequent zu Ihrer Entscheidung stehen wollen, nur noch lernen, mit diesen Schuldgefühlen umzugehen. Hat Ihre Umgebung damit zu tun, dass Sie Schuldgefühle empfinden, oder aber sind Sie sich doch nicht ganz sicher, ob Ihre Entscheidung die richtige ist? Diese Frage müssen Sie sich selbst beantworten.

Die Autorin Annette Rüegg ist Gerontologin, verwitwet, zweifache Mutter und hat zehn Jahre lang ihre an Alzheimer erkrankte Mutter gepflegt. Sie leitet eine Gesprächsgruppe für pflegende Angehörige.