Kleine Kinder, grosse Sorgen: Es geht wieder einmal ums Geld. Ruth K., alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Kindern, kann mit den 1600 Franken aus Alimenten und Monatsverdienst kaum überleben. Dem Hauseigentümer schuldet sie die Miete. Jetzt hat er ihr die Kündigung angedroht.

Ruth K. ist ein Fall für die Sozialhilfe – wie rund 350'000 andere Menschen in der Schweiz. Die Sozialhilfe ist das letzte Sicherheitsnetz für all jene, die sich selber nicht mehr helfen können – und denen auch sonst niemand mehr hilft. Sie haben Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch die Wohngemeinde. So steht es in der Bundesverfassung und den kantonalen Sozialhilfegesetzen.

Allerdings umschreiben weder die Verfassung noch die Gesetze näher, wann ein Anspruch auf Sozialhilfe entsteht. Von der «Gewährung des notwendigen Lebensunterhalts» ist da die Rede oder von «Mitteln für ein menschenwürdiges Dasein» – wohlklingende, aber ungenaue Begriffe, die jeder und jede nach Belieben mit Inhalt füllen und auslegen kann.

Damit das nicht geschieht, gibt es die «Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe» der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Sie halten fest, dass Menschen wie Ruth K. Anspruch auf ein «soziales Existenzminimum» haben, das ihnen nicht nur das nackte Uberleben sichert, sondern auch die Teilnahme am sozialen und wirtschaftlichen Leben ermöglicht. Die Richtlinien konkretisieren auch, was alles zu diesem Existenzminimum gehört.

Viele Beamte sind überfordert
Ruth K. hat bis vor kurzem nichts gewusst von ihrem verfassungsmässigen und gesetzlichen Anspruch auf finanzielle Unterstützung. Auch die SKOS-Richtlinien waren ihr nicht bekannt – obschon der Kanton Solothurn diese in seinem Sozialhilfegesetz als verbindlich erklärt. Wer hätte es ihr auch sagen sollen? Einen Sozialdienst gibt es im kleinen Dorf nicht. Nur einen Sozialvorsteher, der seine Aufgabe nicht sonderlich liebt.

Nennen wir ihn «Herr Kummer». Er ist seit einem Jahr im Amt und hat nach eigenem Bekunden schon ziemlich «die Nase voll». Nichts als Schwierigkeiten habe er. Vor allem die Bürokratie, die ihm der Kanton bei der Berechnung der Sozialhilfe vorschreibe, sei ihm zuwider. Er würde lieber ohne «all diese Vorschriften» arbeiten – nach seinem «gesunden Menschenverstand». Doch dieser hat Ruth K. bisher wenig geholfen.

Nachhilfekurse für Sozialfürsorger
Zwar wurde sie nach ihrem Zuzug in die Gemeinde vor anderthalb Jahren für einige Zeit mit monatlich 700 Franken unterstützt. Eine klare Abrechnung ist ihr aber nie vorgelegt worden. Als dann ihr Exfreund aus dem gemeinsam bewohnten Haus ausgezogen war, stellte die Gemeinde plötzlich die Zahlungen ein. Die Miete sei für sie allein zu hoch; in der Gemeinde gebe es auch günstigere Wohnungen. Im übrigen solle sie halt mehr arbeiten.

Bernhard Felder, Leiter des kantonalen Sozialamts in Solothurn, ist die Geschichte von Ruth K. peinlich: «Es ist uns wichtig, dass die Sozialhilfe professionell ausgeübt wird und die SKOS-Richtlinien korrekt angewandt werden.» Die Voraussetzungen dafür müssen jedoch vielerorts erst noch geschaffen werden. Felder: «In kleinen Gemeinden ohne professionellen Sozialdienst sind die Laienbehörden manchmal ziemlich überfordert.» Aus diesem Grund bietet das kantonale Sozialamt Weiterbildungskurse und Beratung an.

Ein solcher Kurs wäre auch für Sozialvorstand Kummer nützlich. Dort könnte er lernen, dass die Anwendung des Sozialhilfegesetzes und der SKOS-Richtlinien keine Hexerei und auch kein bürokratischer Leerlauf ist. Die Sozialhilfe kennt nämlich eine einfache Formel: Lebensbedarf minus Eigenmittel gleich Hilfe.

Der Lebensbedarf besteht gemäss SKOS-Richtlinien aus einem nach Haushaltsgrösse normierten «Grundbedarf für den Lebensunterhalt» (Haushaltungsgeld) und den Kosten für die medizinische Grundversorgung. Dazu kommen «situationsbedingte Leistungen» wie Erwerbsunkosten, Kinderbetreuungskosten sowie Ausgaben für Ferien und Erholung. Zum Lebensunterhalt gehören auch die Wohnkosten. Diese müssen jedoch im ortsüblichen Rahmen liegen.

Doch die Sozialhilfe ist nicht rein bedarfsorientiert, wie Kritiker fälschlicherweise immer wieder behaupten. Sie ist «subsidiär»: Sie bildet das letzte Auffangnetz der sozialen Sicherung. Das heisst, Hilfesuchende müssen zuerst alle anderen Möglichkeiten der Selbst- und Fremdhilfe ausschöpfen, bevor sie Unterstützung beanspruchen können. Vom Lebensbedarf werden deshalb Eigenmittel (Erwerbseinkommen und Vermögen) und die Leistungen von dritter Seite (Sozialversicherungsleistungen, Beiträge von unterstützungspflichtigen Verwandten) abgezogen. Erst wenn der Bedarf die eigenen Mittel übersteigt, entsteht ein Anspruch auf Hilfe.

Ruth K. hat sich selbst geholfen. Das Problem mit den zu hohen Wohnungskosten löste sie mit einem Untermieter, der die Hälfte der Miete bezahlt. Und sie lebt sehr sparsam. Sie versorgt sich und ihre Kinder mit selbstgezogenem Gemüse aus dem eigenen Garten.

Zudem geht Ruth K. einer geregelten Arbeit nach. Der Teilzeitjob als Nachtwache in einem Pflegeheim bringt zwar nur wenig Einkommen. Mehr arbeiten kann und will sie aber nicht. Denn die Kinder brauchen ihre Mutter. Zudem wäre es gar nicht so einfach, in der Region eine besser bezahlte Stelle mit grösserem Pensum zu finden.

Sozialvorstand Kummer sah dennoch «keinen Handlungsbedarf» – obwohl Ruth K. ihn in den letzten vier Monaten immer wieder auf ihre Notlage aufmerksam machte. Die Zahlungen blieben weiterhin aus.

Eine Einsprache lohnt sich
«Wenn wir von einem solchen Fall hören, ermuntern wir die Betroffenen, eine Beschwerde einzureichen», sagt Bernhard Felder. «Eine Einsprache hätte gute Aussichten auf Erfolg», sagt der Chef des kantonalen Sozialamts, «denn wir orientieren uns in der Beurteilung an den SKOS-Richtlinien.»

Von Ruth K. hätte er allerdings kaum je etwas gehört. Sie kannte nämlich ihre Rechte nicht, und sie wurde immer mündlich abgewimmelt: Eine schriftliche Verfügung über die Ablehnung der Unterstützung mit Rechtsmittelbelehrung erhielt sie nie.

Doch der Beobachter half. Nach einer Nachhilfelektion in Sachen Sozialhilfe und SKOS-Richtlinien durch den Experten des Beobachter-Beratungsdienstes war plötzlich alles klar. Sozialvorstand Kummer rechnete und fand heraus, dass Ruth K. doch einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung hat: Monatlich rund 1500 Franken wird sie künftig zusätzlich zu ihrem Einkommen von der Gemeinde erhalten. Und mit der rückwirkenden Zahlung für den Anspruch der vergangenen Monate wird sie auch die Mietzinsschuld beim Hausbesitzer bezahlen können.

Sozialvorstand Kummer hat jedoch immer noch keine Freude an seinem Amt: «Ich werde bei der nächsten Gelegenheit zurücktreten», sagt er. Das ist wohl auch besser so.

SVP will sparen

Mit den «Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe» will die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe für eine einheitliche Praxis der Sozialhilfe sorgen. Nach dem Willen der SVP soll es damit im Kanton Zürich bald vorbei sein. «Mit diesen überrissenen Richtlinien wird nur eine riesige Anspruchsmentalität geschaffen», sagt SVP-Kantonsrat Willy Haderer. Fürsorge sollen nur jene erhalten, die in einer «echten Notlage» sind – und darüber sollen im Einzelfall die Gemeinden entscheiden. Nur so sei eine individuell ausgerichtete Fürsorge möglich.

Wirklich? Oder will die SVP auch noch bei den Ärmsten sparen, um ein anderes Ziel zu erreichen: die Senkung des Staatssteuerfusses um zwanzig Prozent?