Beobachter: Sie haben als Präsident der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen bis vor einem Jahr den Bundesrat in Sachen Drogenpolitik beraten. Fast 30 Jahre lang. Jetzt dürfen Sie es ja sagen: Gab es Bundesräte, die besser zugehört haben als andere?
François van der Linde: Ich hatte es zu allen Zeiten mit zugänglichen und weniger zugänglichen Menschen zu tun. Wenn ich jemanden besonders hervorheben müsste, dann alt Bundesrätin Ruth Dreifuss. Sie hat in der Zeit der offenen Drogenszenen und der aufkommenden Aidsepidemie vieles möglich gemacht, das auch 20 Jahre später noch revolutionär ist.

Beobachter: Sie sprechen die Spritzenabgabe an, die Aids-prävention. Vor 20 Jahren wurde der Platzspitz geräumt. Was empfinden Sie beim Blick zurück?
van der Linde: Nachträglich ist für mich die Zeit der offenen Drogenszenen ein notwendiger Fehler. Wir hätten vieles nicht gelernt, wenn wir dieses Desaster nicht erlebt hätten. Auch wenn das heute kaum mehr vorstellbar ist: Die Schweiz war damals die Nummer eins in Europa, was die Aidsinfektionen betrifft. Als Verantwortliche für die öffentliche Gesundheit waren wir gefordert, unkonventionelle Lösungen zu suchen, ohne uns auf Erfahrungen oder wissenschaftliche Grundlagen stützen zu können.

Beobachter: Sie scheinen trotzdem überzeugend gewesen zu sein. Die Abgabe sauberer Spritzen ist heute unumstritten.
van der Linde: Das ist nicht mein Verdienst. Viele Experten und auch das Bundesamt für Gesundheit vertraten diese Meinung. Zudem schaffte das sichtbare Elend ein Klima der Offenheit und drängte Ideologien in den Hintergrund. Nur darum gelang es uns, diese aus juristischer Sicht «Beihilfe zu einer illegalen Handlung» leisten zu können. Im Auftrag des Staates.

Beobachter: Wenn man heute durch Schweizer Städte geht, sieht man höchstens ein paar betrunkene oder von einem Joint benebelte Jugendliche. Haben wir das Drogenproblem gelöst?
van der Linde: Nein. Was ich jetzt sage, ist sehr unwissenschaftlich, aber ich bin der Meinung, dass die Summe der Suchtmittelprobleme in einer Gesellschaft mehr oder weniger konstant ist. Es wechseln lediglich die Substanzen. Es gehört zum Homo sapiens, dass er das Bedürfnis hat, sein Lustzentrum im Gehirn zu aktivieren. Das kann man gut finden oder schlecht.

Beobachter: Wo sind denn heute die Leute, die Drogen konsumieren? Und welche nehmen sie?
van der Linde: Das weiss man gar nicht so genau. Sicher ist, dass Heroin heute weniger attraktiv ist, dafür wird mehr Kokain konsumiert, und zwar von breiteren Kreisen. Überhaupt scheinen leistungssteigernde Mittel die Drogen der Zeit zu sein.

Beobachter: Ist die Schweizer Politik gegen dieses Problem gewappnet?
van der Linde: Ich bin der Meinung, dass man das gut im Auge behalten muss. Aber es fehlt der Druck, etwas zu tun. Wenn jemand leistungssteigernde Medikamente wie Modafinil oder auch Kokain nimmt, fällt er lange Zeit nicht auf. Am Arbeitsplatz bringt er weiterhin seine Leistung.

Beobachter: Zur Katastrophe kommt es dennoch?
van der Linde: Vielleicht nicht gleich zu einer Katastrophe. Aber vor allem bei Kokain weiss man, dass das auf Dauer meist nicht gutgeht. Bei den anderen Substanzen zur geistigen Leistungssteigerung hat man schlicht zu wenig Erfahrung. Man kennt die Langzeitwirkung nicht. Wir wissen zwar, dass diese Medikamente jahrelang konsumiert werden, aber wir haben keine Ahnung, was das bedeutet. Als Arzt macht mir die Vorstellung Bauchweh, dass jemand über längere Zeit etwas einnimmt, das auf sein Hirn einwirkt. Festzustellen, was dabei genau geschieht, ist unheimlich schwierig. Betrachten wir Cannabis. Da forscht man seit Jahren. Man weiss daher, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Cannabiskonsum und psychischen Erkrankungen. Was zuerst da war, weiss man allerdings bis heute nicht mit Bestimmtheit.

Beobachter: Cannabis kauft man sich auf dem Schwarzmarkt. Die angesprochenen Medikamente werden von Ihren Berufskollegen verschrieben. Haben diese weniger Bedenken?
van der Linde: Auch die Medikamente werden zum grossen Teil auf dem Schwarzmarkt besorgt und nur zum Teil über Ärzte. Im Hintergrund wirkt natürlich auch eine Industrie. Sie profitiert, wenn gesunde Menschen diese Medikamente schlucken. Das angesprochene Modafinil ist ein gutes Beispiel für diesen Mechanismus. Modafinil ist ein Medikament für Menschen mit Narkolepsie. Das ist eine relativ seltene Schlafkrankheit. Heute bewerben die Hersteller dieses Medikament in den Ärztezeitungen auf ganzseitigen Inseraten mit dem Slogan «Modafinil bringt den Tag zurück». Für die paar Narkolepsie-Patienten würde sich das nicht rentieren…

Beobachter: Sie haben während der Abschlussprüfungen des Medizinstudiums selber Ritalin geschluckt…
van der Linde: (lacht) Stimmt! Das war damals für Medizinstudenten nicht anrüchig. Ritalin ist ein altbekanntes Aufputschmittel, das schon die Kampfflieger im Zweiten Weltkrieg schluckten, um wach zu bleiben. Wir vereinfachten uns damit an den Tagen vor grossen Prüfungen das Lernen. So sporadisch eingenommen, halte ich diese Mittel nicht für problematisch.

Beobachter: Beschränkt sich Ihre persönliche «Drogenerfahrung» auf Ritalin, oder haben Sie mit weiteren Substanzen experimentiert?
van der Linde: Als Experimentieren würde ich das nicht bezeichnen. Ich habe lange geraucht. Zwei Päckli Gauloises am Tag. Im Nachhinein bin ich froh um diese Erfahrung. Ich konnte dadurch nachvollziehen, was es heisst, süchtig zu sein. Diese Momente vor dem Zigarettenautomat, wenn man kein Münz im Sack hat. Und ja, ich habe sogar einmal Cannabis geraucht.

Beobachter: Ein gutes Stichwort: Bis heute ist es so, dass Sie dafür bestraft würden. Nicht aber, wenn Sie täglich vier Gin Tonic trinken.
van der Linde: Das ist so und lässt sich nur kulturell begründen. Eine wissenschaftliche Rechtfertigung gibt es dafür nicht. Alkohol ist eine Substanz, die in unserer Gesellschaft seit eh und je integriert ist. Cannabis als Rauschmittel kennt man in der Schweiz erst seit den siebziger Jahren. Dazu muss man auch sagen, dass Cannabis nicht problemfrei ist.

Beobachter: Alkohol auch nicht. Es gibt deutlich mehr Abhängige von Alkohol als von Cannabis.
van der Linde: Das stimmt. Gesundheitlich problematisch ist, dass Cannabisraucher den Rauch bewusst tief inhalieren. Das ist nicht harmlos.

Beobachter: Warum fordern Sie trotzdem, dass der Konsum von Cannabis straffrei werden soll?
van der Linde: Wenn ich für die Straffreiheit des Konsums eintrete, heisst das noch lange nicht, dass ich der Meinung bin, alles soll frei erhältlich sein. Mich stört aber die Ungleichbehandlung von Alkohol und Cannabis. Vor allem die junge Generation bemängelt das zu Recht. Wir haben heute einen Staat, der mit unterschiedlichen Ellen misst. Aber eigentlich haben wir dringendere Probleme.

Beobachter: Zum Beispiel?
van der Linde: Als Präventivmediziner macht mir der Leistungsdruck Sorgen, dem sich viele Leute subjektiv oder objektiv ausgesetzt sehen. Er führt dazu, dass sich viele genötigt sehen, auf problematische Substanzen zurückzugreifen. Es spielt letzten Endes keine Rolle, was sie konsumieren. Sie können sich mit Alkohol genauso zugrunde richten wie mit Heroin. Darum plädiere ich für ein Regulierungsmodell, das sich am Schadenspotential der einzelnen Substanzen orientiert, also an der Wahrscheinlichkeit, dass der Konsum Probleme für den Konsumenten wie für die Gesellschaft mit sich bringt. In einem Regulierungsmodell gäbe es keine legalen und illegalen Substanzen mehr. Der Konsum von Drogen wäre straffrei. Was nicht heisst, dass keine Verbote denkbar sind. Im Jugendschutz zum Beispiel, in der Herstellung oder im Verkauf.

Beobachter: Und was tun die Eltern, wenn sie ihre kiffenden Kinder ermahnen und die erwidern: «Das ist im Fall nicht verboten!»?
van der Linde: Ich plädiere nur dafür, dass die Jugendlichen nicht kriminalisiert werden. Ich rate nicht zu einer Laisser-faire-Haltung. Stellen Sie um Gottes willen klare Regeln auf und setzen Sie sie durch!

Beobachter: Sie haben selber vier erwachsene Kinder. War Cannabis ein Thema?
van der Linde: Ja, ja, die haben schon mal gekifft. Aber ich darf behaupten, dass wir ziemlich unaufgeregt reagiert haben. Natürlich waren wir dagegen. Aber es war so offensichtlich, dass es in erster Linie darum ging, sich von uns abzugrenzen, dass wir uns keine ernsthaften Sorgen machten.


Beobachter
: Sie fordern, mündige Erwachsene sollen psychoaktive Substanzen konsumieren dürfen, solange sie keine Dritten schädigen. Wie soll das gemessen werden? Raucher belasten die Krankenkasse, betrunkene Autofahrer die Unfallversicherung
van der Linde: Das ist tatsächlich ein wunder Punkt. Aber warum soll man Drogen eine Sonderstellung beimessen? Auch Bergsteiger und Skifahrer belasten die Unfallversicherung. In diesen Fällen kommt die Gesellschaft widerstandslos solidarisch für Schäden auf. Wenn man die Schäden an Dritten betrachten wollte, dann müsste man Cannabis erlauben, aber den Alkohol verbieten. Er verursacht die grössten Schäden.

Beobachter: Mit diesen Widersprüchen wurden Sie als Präsident der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen fast täglich konfrontiert. Haben Sie nie die Geduld verloren?
van der Linde: Nein. Als Präventivmediziner weiss man: Prävention braucht Zeit. Viel Zeit. Verhaltensänderungen brauchen eine ganze Generation. Wenn man das berücksichtigt, haben wir viel erreicht: den Jugendschutz beim Alkohol, das Vier-Säulen-Modell und die gesetzliche Verankerung der heroingestützten Behandlung.