«Nie macht ihr das, was ich will», brüllt die fünfjährige Anna und stampft mit dem Fuss. Sie ist die Jüngste in der Familie und fühlt sich immer ungerecht behandelt. Sie bleibt beim Spaziergang stehen – in der Hoffnung, einer der beiden grösseren Brüder würde sie huckepack nehmen. Sie redet und redet und erwartet, dass man ihr endlich zuhört. Aber sie geniesst es auch, wenn die Brüder sie überallhin mitnehmen und ausdauernd mit ihr spielen.

Mit diesem Verhalten gilt Anna als typisches Nesthäkchen. Aber ist überhaupt etwas dran an den Aussagen über «typische» Erstgeborene, Sandwichkinder oder eben Nesthäkchen?

Es ist sicher übertrieben, aufgrund der Geburtsfolge definitive Charakterzuordnungen zu machen. Dennoch halten sich die Stereotype hartnäckig. Auch weil immer wieder entwicklungspsychologische Studien vor allem aus den USA sie stützen – mit Kernaussagen wie: Erstgeborene seien herrisch, rechthaberisch und eifersüchtig, Sandwichkinder unauffällig, schüchtern und diplomatisch. Und Nesthäkchen süss, charmant, heiter, verspielt, aber manchmal echte Nervensägen.

«Alles halb so wild», sagt der Experte

«Die Prägung durch die Geschwisterposition ist gering», widerspricht der deutsche Entwicklungspsychologe Hartmut Kasten. «Nur wenn sehr konservative Eltern in ihrer Erziehung klassischen Rollenbildern nachstreben und echte Stammhalter oder Nesthäkchen heranziehen, kann das Wirkung zeigen.» Solche klassischen Rollenzuschreibungen aufgrund der Geschwisterpositionen seien aber eher von gestern. Und wenn es einen solchen Einfluss gebe, sei er immerhin nur vorübergehend: «Enge Beziehungen, die uns prägen, kommen immer wieder – in der Jugend die Altersgenossen und dicken Freunde, dann die Beziehungs- und Berufspartner.»

Tipp: Eltern sollten...

  • es vermeiden, die Geschwister miteinander zu vergleichen. Sonst kommt es zu Konkurrenzdenken und Machtkämpfen.

  • jedes Kind einzeln wahrnehmen, stärken und fördern.

  • den Jüngsten Anerkennung und Zuwendung geben. 

  • den Jüngsten wichtige Aufgaben stellen. Dann können diese zeigen, was in ihnen steckt. Sie erweisen sich meist als fantasievoll, kreativ und sehr belastbar.

  • dafür sorgen, dass das Nesthäkchen im Familiengefüge seine Nische findet und so leichter als eigenständige Person wahrgenommen wird.

  • beständig und konsequent sein und ihr Jüngstes immer wieder zum Handeln ermutigen. Das hilft auch, launenhafte Kinder zur Kooperation zu überreden.

  • die Geschwistersolidarität fördern. Beispiel: Bei Streit gibt es Fernseh- oder Ausgangsverbot für alle, wenn sie nicht zu einer Einigung kommen. Die Streithähne werden sich wegen des gemeinsamen Ziels verbünden.

  • sich aus dem Geschwisterstreit heraushalten. Geschwister können Konflikte sehr gut selbst lösen. Altersgerechte und klare Regeln müssen selbstverständlich vorhanden sein.

  • älteren Kindern mehr Rechte gewähren – und zugleich ein Mehr an Pflichterfüllung von ihnen fordern. So fühlt sich niemand ungerecht behandelt.

Geschwister profitierten immer voneinander, ganz gleich, ob sie älter oder jünger seien, sagt Kasten: «Sie üben, Kompromisse zu verhandeln, Bündnisse zu schmieden, konstruktiv zu streiten – das ist soziales Training für das ganze Leben.»

Manchmal sind sich Geschwister ganz nah, manchmal regiert die Eifersucht. Die Beziehung bleibt ambivalent und ist stetig im Fluss. Fest steht aber: Je nach Reihenfolge der Geburt lernt ein Kind, sich in seiner Familie auf unterschiedliche Art anzupassen, sich zu behaupten, zu teilen und sich zu verbünden. Dabei entwickelt es Strategien der Selbstbehauptung.

«Dafür bist du noch zu klein», sagen die Eltern

Ein Nesthäkchen geniesst meist viele Vorteile. Das jüngste Kind muss um gewisse Rechte nicht mehr kämpfen – da haben die Geschwister vorgespurt. Bei Freunden übernachten, in die Ferien fahren, abends lange aufbleiben, länger fernsehen: Was die Eltern den Grossen erlaubt haben, werden sie den Kleinen nicht verwehren. Zudem sehen die Eltern vieles lockerer als noch vor Jahren. Auch das verdankt das Nesthäkchen seinen Geschwistern.

Nesthäkchen sehen ihre Rolle dennoch nicht immer positiv. Sie fühlen sich wie Anna ungerecht behandelt. Immer hinken sie den Grossen hintennach und werden mit diesen verglichen. «Das darfst du noch nicht. Dafür bist du noch zu klein»: Das bekommen die Kleinsten oft zu hören. Und es treibt sie auf die Palme. Vielen genügt es nicht, einfach nur als niedlich zu gelten. Als Reaktion darauf beginnen sie zum Beispiel zu schauspielern und neigen zur Clownerie, da sie meinen, nur so wahrgenommen zu werden.

Die Nachzügler müssen sich ausserdem vielen Erwartungen anpassen. Besonders den grossen Geschwistern wollen sie beweisen, dass sie auch schon einiges draufhaben. Das Verhältnis zwischen Nesthäkchen und den Älteren ist deswegen oft gespalten. Einerseits stehen sie in einem ständigen Konkurrenzkampf. Sie buhlen um die Aufmerksamkeit und die Liebe der Eltern, was hart sein kann.

Zugleich kommt die Konstellation allen Beteiligten zugute. Nicht selten muss sich das Nesthäkchen nämlich mit den Geschwistern gegen die Eltern verbünden, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Für das Nesthäkchen heisst das oft, dass es eine Entscheidung treffen muss: Möchte es sich mit der Rolle des «süssen Kleinen» zufriedengeben oder will es mit den grossen Geschwistern konkurrieren und sie übertrumpfen?

Für Eltern ist es wichtig, sich über die Zusammenhänge von Verhalten und Geschwisterpositionen klarzuwerden. Dadurch wächst das Verständnis für die Eigenheiten der einzelnen Kinder und auch für deren Verhältnis untereinander.

Buchtipp

Christine Kaniak-Urban, Andrea Lex-Kachel: «Wenn Geschwister streiten. Lösungswege, die funktionieren»; Verlag Kösel, 2014, 192 Seiten, CHF 24.90. Hier bestellen.