Antwort von Christine Harzheim, Psychologin und systemische Familientherapeutin:

Für diese bewegten Jahre ist die Frage nicht ganz einfach zu beantworten. Zunächst mal sind Sie mit Ihrem Eindruck nicht allein. «Die heutige Jugend liebt den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Leuten und schwatzt da, wo sie arbeiten sollte. … Sie widerspricht ihren Eltern … legt die Beine übereinander und tyrannisiert ihre Lehrer.» Diese Einschätzung ist über 2000 Jahre alt und wird dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschrieben.

Sie zeigt, dass ähnliche Irritationen und Sorgen die Eltern aller Generationen umtreiben. Das neue, herausfordernde Verhalten der Jugendlichen trifft uns. Nicht nur die Pubertierenden sind genötigt, sich in dieser Phase des Wandels neu zu finden. Uns Eltern kommt die gleiche Aufgabe zu.

Wir können nicht länger die beschützenden, belehrenden Helden und Heldinnen unserer Kinder sein. Was sind wir dann? In vielen Familien sind die Hauptgefühle in dieser Episode Unsicherheit und Hilflosigkeit, und zwar auf beiden Seiten. Das Alte löst sich auf, und der permanente Wandel lässt nicht zu, etwas fixes Neues zu definieren. Es gibt keine Methoden, die hier anwendbar sind. Es geht um Haltungen und Werte, um Verständnis, Geduld und Vertrauen.

Die Notwendigkeit einer «familiären Insel»

Der bekannte Kinderarzt Remo Largo beschreibt, dass in der Pubertät das Gehirn der Heranwachsenden einem gigantischen Umbau unterliegt. Alte, unbrauchbar gewordene Verknüpfungen werden gelöst, neue Vernetzungen entstehen in rasantem Tempo. Chaos, Schwankungen und noch unangepasste Verhaltensweisen sind unvermeidlich. Für Jugendliche ist dieser Prozess höchst anspruchsvoll. Sie müssen ihre aktuellen Lebensaufgaben bewältigen (Ausbildung, Ablösung aus der Herkunftsfamilie, Bildung einer körperlich-geistig-seelischen Identität, Ankoppelung an soziale Systeme). Dies angesichts der Tatsache, dass alles im Fluss ist.

Das auszuhalten und einigermassen zu managen braucht Kraft. Hier kann eine «familiäre Insel» sehr wichtig sein, in der man «einfach sein» kann und für wertvoll befunden wird – auch wenn es noch an diesem oder jenem mangelt. Aufgrund unserer Zukunftssorgen fällt es uns leider oft schwer, diese Insel zur Verfügung zu stellen.

Wenn wir unsere Jugendlichen betrachten, haben wir sofort die eine oder andere Optimierungsidee und teilen sie mit. Viele Jungen und Mädchen beklagen, dass die Erwachsenen sich sehr dafür interessieren, wie sie sich benehmen, aber kaum dafür, wer sie sind. Wie denken und fühlen sie? Was ist ihnen wichtig im Leben? Häufig wissen wir Erwachsenen es besser, bevor wir wirklich wahrgenommen und verstanden haben.

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul schreibt hierzu: «Vertrauen Sie. Nicht darauf, dass Ihre Kinder es so machen, wie Sie es sich wünschen. Aber darauf, dass sie es so machen, dass sie der Mensch werden können, der sie sein wollen.»

Es gehört dazu...

Natürlich sind Jugendliche aufgrund ihrer Entwicklungssituation gefährdeter in Bezug auf Alkohol- und Drogenmissbrauch, aber auch Medienkonsum. Sie haben einerseits ein grosses Autonomiebedürfnis. Anderseits weiss man, dass das Hirnareal, das für die Abwägung von Risiken zuständig ist, mit als Letztes reift. Gleichzeitig spielen Identifizierung über das Ausloten von Grenzen und Gruppendruck eine grosse Rolle.

Es gehört also dazu, dass Jugendliche falsche Entscheidungen treffen und schmerzliche Erfahrungen machen. Das hilft ihnen herauszufinden, wer sie sind und sein wollen.

4 Tipps für das Zusammenleben mit Jugendlichen

  • Interessieren Sie sich dafür, wer Ihr Sohn, Ihre Tochter ist.

  • Nehmen Sie Ihr Kind an, so wie es ist. Bewerten Sie wenn nötig das Verhalten, aber nie Gefühle, Gedanken und Persönlichkeit.

  • Haben Sie Vertrauen und Geduld. Verlieren Sie nicht den Humor.

  • Bleiben Sie trotz allen Widrigkeiten beziehungsbereit.

Buchtipps

  • Remo H. Largo, Monika Czernin: «Jugendjahre. Kinder durch die Pubertät begleiten»; Verlag Piper, 2015, 400 Seiten, CHF 17.90

  • Jesper Juul: «Pubertät. Wenn Erziehen nicht mehr geht»; Verlag Kösel, 2010, 208 Seiten, CHF 23.90