Livia ist eine charmante, kluge und sensible Vierjährige. Sie ist wissbegierig und kennt schon die Entwicklung des Menschen vom Affen bis zum Homo sapiens. Sie verfügt über einen grossen Wortschatz und kann ihren Willen klar ausdrücken. So weit, so gut. Doch Livia hat täglich mehrere scheinbar grundlose Wutausbrüche, die jeweils bis zu einer Stunde dauern können, ohne dass sie sich beruhigen liesse. Die Eltern sind mit den Nerven am Ende und ziehen fachliche Hilfe bei.

Sie staunen nicht schlecht, als diskutiert wird, ob ihre Tochter hochbegabt sein könnte. Die heftigen kleinkindlichen Trotzanfälle passten für die Eltern einfach nicht ins Bild hoher Intelligenz, so dass sie nicht an diese Möglichkeit gedacht hatten.

Hochbegabung meint, dass ein Mensch besonders intelligent, also fähig ist, gute Leistungen zu erbringen, Problemsituationen konstruktiv und Aufgaben durch Denken und Erkenntnisse zu lösen. Ob eine Hochbegabung vorliegt, wird meist erst im Schulalter mittels Testverfahren durch die Schulpsychologin festgestellt.

Typische Anzeichen sind aber schon vorher da: Diese Kleinkinder wollen stets mit Gehirnnahrung gefüttert werden, fragen einen Löcher in den Bauch. Sie lernen besonders schnell, oft ohne äussere Hilfe. Sie sprechen früh und wortgewandt. Sie verfügen über ein Elefantengedächtnis und vergessen kein Detail. Ihre Beobachtungsgabe ist hervorragend. Sie denken logisch und analytisch: «Guck mal, Papa, die Barriere hat ein bewegliches Scharnier in der Mitte, weil sie sonst die Decke berührt.» Es ist ebenfalls typisch, dass sie körperlich sehr aktiv sind und oft mit auffallend wenig Schlaf auskommen.

Hochbegabung kann aber auch ihre Tücken haben. So macht diesen Kindern etwa ihr Perfektionismus zu schaffen. Eine an sich gelungene Zeichnung wird vom kleinen Künstler in Stücke gerissen.

Und manchmal fallen diese Kinder in jüngere Verhaltensweisen: Einige brauchen länger, um trocken zu werden, oder sie erleiden Wutanfälle, wie eben Livia.

Für den Erziehungsalltag bedeutet dies einige Anpassungen. Wegen ihres Hangs zur Autonomie wollen diese Kinder vieles selber entscheiden. Es ist deshalb sinnvoll, Regeln genau zu begründen und ihnen von klein auf Mitbestimmungsrecht zuzugestehen. Stur auf einer Regel zu beharren macht sie nur bockig. Diese Kinder wollen stets zu 100 Prozent ernst genommen werden – alles andere durchschauen sie sofort und nehmen es übel. Ihre Andersartigkeit darf benannt, aber nicht zum Druckmittel werden. «Wenn du das alles schon kannst, musst du aber jetzt auch ohne Windeln auskommen» das wäre falsch. Auch diese Kinder wollen in bestimmten Bereichen noch ganz klein sein dürfen.

Weit entwickelte Kinder brauchen besonders viel Feingefühl und Zuwendung. Und einen psychisch festen Halt, der auch darin bestehen kann, das tobende Kind festzuhalten, bis es sich beruhigt hat. Dies hat auch Livia geholfen. So hat sie gelernt, sich selber zu beruhigen, wenn sie sich unverstanden fühlt oder frustriert ist.

Buchtipp: Herbert Horsch und andere: «Hoch begabt – und trotzdem glücklich»; Oberstebrink-Verlag, 2006, 432 Seiten, Fr. 43.90