Beobachter: Betroffene berichteten im Beobachter, wie sie in Kinderheimen bis in die siebziger Jahre unter Gewalt litten. Weshalb konnten sich Erziehungsmethoden aus dem 19. Jahrhundert so lange halten?
Remo Largo: Die Situation in Kinderheimen spiegelt die Erziehungshaltung, die damals auch in der übrigen Gesellschaft verbreitet war. Die repressive Haltung war auch in Familien üblich. Dies änderte sich erst in den sechziger Jahren. Hinzu kam, dass sich niemand um diese Arbeit in Heimen riss.

Beobachter: Was ging bei den Betreuern schief?
Largo: Wer mit fremden Kindern zu tun hat, benötigt eine hohe emotionale Bereitschaft und erzieherische Kompetenz. Beziehung schützt das Kind am besten vor Gewalt. Doch das Personal war schlecht ausgebildet und oft komplett überfordert. Wer überfordert ist, schlägt irgendwann zu. Es wäre aber zu einfach, nur dem Personal die Schuld zu geben. Im Grunde genommen führten die von der Gesellschaft gesetzten Rahmenbedingungen in Heimen dazu, dass solche Zustände und Erziehungsmethoden überhaupt entstehen konnten.

Remo Largo, Kinderarzt

Beobachter: Was lösen Strafen wie kopfüber in einen Wassereimer gesteckt zu werden oder auf den Hintern angebundene Nachttöpfe bei Kindern aus?
Largo: Es gibt Betroffene, die leiden ein Leben lang darunter und werden allenfalls auch wieder zu gewalttätigen Erziehenden. Andere können das Trauma verarbeiten und überwinden – je nach Persönlichkeit.

Beobachter: Viele berichten von Prügelstrafen.
Largo: Körperstrafe war zu dieser Zeit weit verbreitet. In den sechziger Jahren wurde in Familien mehr als die Hälfte der Kinder geschlagen. Heute sind es noch 20 Prozent. Aber nur noch fünf Prozent der Eltern sehen die Körperstrafe als legitimer Teil der Erziehung. Eine Mehrheit jener Eltern, die heute noch schlagen, tun dies, weil sie in Konfliktsituationen nicht mehr weiterwissen und die Kontrolle verlieren. Die meisten bedauern dies im Nachhinein.

Beobachter: Wann hörte man auf, den Willen der Kinder zu brechen und sie so zu Gehorsam zu erziehen?
Largo: Das war ein schleichender Prozess. Die 68er Bewegung und die antiautoritäre Erziehung waren lediglich Phänomene eines viel tiefer gehenden gesellschaftlichen Wandels. Gehorsam war bei uns nicht nur ein Mittel, sondern der eigentliche Zweck der Erziehung. In der jüdisch-christlichen Tradition wurde das Kind so erzogen, dass es als Erwachsener nicht aufmuckt und sich der Obrigkeit fügt.

Remo Largo, Kinderarzt

Beobachter: Was leitete diesen Wandel ein?
Largo: Am eindrücklichsten sieht man diesen generellen Wandel in der Wirtschaft. Eine industrielle Wirtschaft ist extrem hierarchisch strukturiert. Zuoberst steht der Chef, der Besitzer. Zuunterst ist eine entrechtete Arbeiterschaft, die nicht aufmucken darf. Die Volksschule hatte den Auftrag, die Kinder so zu disziplinieren, dass sie Arbeiter werden, die sich acht Stunden am Tag für eine eintönige Arbeit einspannen liessen. Das wirkt sich bis heute auf die Schule aus. Jetzt haben wir jedoch zu 70 Prozent eine Dienstleistungsgesellschaft, die nach einem ganz anderen Typ Menschen verlangt. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Emanzipation der Frau. Frauen sind besser geeignet für eine Dienstleistungswirtschaft als Männer. Sie sind sozial kompetenter und ziehen flache hierarchische Strukturen vor.

Beobachter: Inwiefern erziehen Frauen anders?
Largo: Bei einer autoritären Erziehung wird erwartet, dass Macht und Status des Erwachsenen ausreichen, damit das Kind gehorcht, – ein männliches Prinzip. Frauen haben immer schon ganz anders erzogen, denn mit einem Säugling und Kleinkind müssen sie eine enge Beziehung eingehen. Damit wird das Kind emotional abhängig und deshalb gehorcht es. Es kann zwar murren, verweigert sich aber nicht grundsätzlich.

Remo Largo, Kinderarzt

Beobachter: In Kinderheimen legten aber auch Frauen bei Strafen eine unglaubliche Phantasie an den Tag.
Largo: Das waren Ausnahmesituationen mit überforderten Erzieherinnen. Die überwiegende Mehrheit der Frauen hat sich nicht so verhalten – was den Männern gar nicht behagte. Die Pädagogen beklagten bereits vor Jahrhunderten die enge Beziehung zwischen Mutter und Kind. Daher der Begriff «Affenliebe».

Beobachter: Was braucht es für eine Erziehung ohne Repression und Autorität?
Largo: Wenn man nicht autoritär und repressiv erziehen will, braucht es erstens eine Beziehung, in der sich das Kind akzeptiert und aufgehoben fühlt. Zweitens braucht es eine natürliche Autorität, die sich aus der Kompetenz des Erwachsenen ergibt. Ein Kind akzeptiert den Vater nicht einfach nur deshalb, weil er der Vater ist. Es akzeptiert ihn, wenn dieser etwas besser weiss oder besser kann. Genauso ein Lehrer, er kann heute den Schülern nicht einfach nur deshalb Anweisungen geben, weil er der Lehrer ist. Er muss mit seinen Kompetenzen glaubwürdig sein.

Beobachter: Gleichzeitig rufen heute viele, Lehrer müssten eine härtere Linie fahren.
Largo: Das wäre völlig falsch. Schwierige Klassen brauchen jemanden, der hinsteht und mit den Kindern eine Beziehung aufnehmen kann. Nur Grenzen ziehen funktioniert heute nicht mehr.

Beobachter: Andere fordern härtere Strafen.
Largo: Ja, aber schauen Sie, aus welcher Ecke diese Forderungen kommen. So etwas verlangen fast nur rückwärtsgewandte, konservative und autoritäre Männer. Der Wandel der Gesellschaft bedingt heute eine andere Erziehung. In Stelleninseraten sucht die Wirtschaft sozialkompetente Menschen, die teamfähig sind, Verantwortung übernehmen, die mitdenken, selbständig und kreativ sind. Damit die Kinder zu solchen Menschen werden, braucht es nicht eine autoritäre und repressive, sondern eine auf tragfähigen Beziehungen aufbauende und kindorientierte Erziehung.

Remo Largo, 67, leitete 30 Jahre lang die Abteilung «Wachstum und Entwicklung» am Kinderspital Zürich. Seine Studien über die kindliche Entwicklung finden international Beachtung, seine Bücher «Babyjahre», «Kinderjahre» und «Schülerjahre» wurden Klassiker.

Quelle: Maurice Haas/13 Photo