Es ist Freitagabend im vergangenen Januar. Kurz nach 23 Uhr verlässt ein 39-jähriger Mann zusammen mit seinem Arbeitskollegen eine Beiz in der Nähe des Bahnhofs von Hedingen ZH. Dort trifft er auf eine Gruppe Jugendlicher, es kommt erst zu einem Wortgefecht, dann schlägt ein 16-Jähriger aus der Gruppe zu. Der Mann stürzt, fällt auf den Hinterkopf, die Jugendlichen machen sich aus dem Staub. Am nächsten Tag ist der 39-Jährige tot, gestorben an den Folgen des Schlags und der schweren Kopfverletzungen.

In seiner Ohnmacht findet der Hedinger Gemeinderat und Vorsteher Sicherheit, Robert Pupikofer, dazu pathetische Worte. «Das Resultat verfehlter Gesellschaftspolitik beschäftigt den Gemeinderat seit Jahren. Die Probleme unserer gelangweilten, oft alkoholisierten, pöbelnden und drauflosschlagenden Jugendlichen führten zu einem unglaublichen Gewaltakt mit Todesfolge.»

Der Fall fand schweizweit einige Resonanz in den Medien. Nur noch in die Randspalten der lokalen Blätter schaffte es folgende Meldung vor zwei Monaten: «Frau verletzt und beraubt». Wieder passiert es am Freitagabend. Im Zürcher Stadtviertel Oerlikon ist eine junge Frau, 24jährig, unterwegs. Gegen 22 Uhr wird sie auf offener Strasse von drei Unbekannten niedergestochen. Die drei mutmasslich minderjährigen Räuber flüchten mit der Handtasche.

Jede Gemeinde geht ihren eigenen Weg
Massive Gewalt, ausgeübt von jugendlichen Tätern, hat den Status des Ausserordentlichen verloren und ist Bestandteil des Alltags geworden. Längst kämpfen nicht mehr nur Städte und grössere Agglomerationen mit dem Problem. Das Phänomen der Verrohung eines Teils der Jugendlichen zeigt sich auch in kleineren Ortschaften.

Eine Umfrage des Beobachters bei mehr als 1000 Gemeinden macht deutlich: Die Palette von Projekten zur Bekämpfung der Jugendgewalt ist enorm. AntiRassismusKiosk, mitternächtliches Basketballspielen, körperzentrierte BodyMindProjekte, Plakataktionen, Wettbewerbe.

Die meisten Gemeinden suchen ihren eigenen Weg. «Das geht so weit, dass oft sogar innerhalb einer einzelnen Gemeinde etwa die Schule ein Projekt verfolgt, ohne dass die Gemeindebehörden davon wissen. Kleinere Randgemeinden sind oft nicht bereit, Zentrumsgemeinden bei der Gewaltprävention zu unterstützen», sagt Miryam Eser von der Hochschule für soziale Arbeit in Basel. Sie hat im Rahmen einer noch nicht veröffentlichten NationalfondsStudie die Präventionsbemühungen von 16 Gemeinden unter die Lupe genommen. Eine der Schlussfolgerungen aus ihren Untersuchungen: «Eine bessere Vernetzung in der ganzen Schweiz wäre wichtig. Die Gemeinden könnten sich austauschen und erfahren, welche Projekte sinnvoll sind und etwas bringen und welche nicht.»

An einigen Orten ist man bereits auf dem richtigen Weg. Etwa in Wädenswil. Die kleine Zürcher Stadt bekämpft Gewalteskalationen Jugendlicher seit längerem mit spezialisierten Institutionen, adäquater Infrastruktur und gezielten Aktionen - etwa mit Schulsozialarbeit und aufsuchender Jugendarbeit, einem Jugendhaus, einem Präventionsprojekt, Jugenddiscos. «Die Massnahmen haben zu einer Beruhigung vor Ort beigetragen», sagt Ivica Petrusic, Leiter der Jugendarbeit.

Eine massive Schlägerei am Bahnhof mit Körperverletzungen aller Beteiligten hatte vor fünf Jahren die Behörden aufgerüttelt und zum Handeln veranlasst. Bei Gewaltvorfällen spielten jedoch Gruppen Jugendlicher aus anderen Gemeinden eine wesentliche Rolle, was sich vor allem bei grösseren Anlässen wiederholt zeige. «Es ist davon auszugehen, dass auch Jugendliche aus Wädenswil in anderen Gemeinden die Anonymität nutzen und gewalttätig auftreten», sagt Petrusic. Um diesem Phänomen zu begegnen, arbeiten die betroffenen Stellen und Jugendarbeiter in der Region zusammen. Sie haben eine MemberCard für Jugendanlässe geschaffen, die den 13- bis 18-Jährigen diverse Vergünstigungen einräumt. Im Gegenzug geben die Besitzer ihre Anonymität preis, denn für die MemberCard müssen Name und Adresse deponiert werden. Ungebührliches Verhalten wird mit Hausverboten bestraft, Übeltäter werden von den Jugendarbeitern zu Gesprächen zitiert.

Bemühungen von Gemeinden wie Wädenswil erhalten jetzt auch auf politischer Ebene Unterstützung. In einem Postulat fordert die CVPNationalrätin und Briger Stadtpräsidentin Viola Amherd eine nationale Koordinationsstelle, um Jugendgewalt besser bekämpfen zu können. «Viele Gemeinden schlagen sich mit ähnlichen Problemen herum. Mit einer effizienten Vernetzung können die Mittel besser eingesetzt werden», so Amherd. Konkret kann sie sich einen runden Tisch vorstellen, an dem ein, zweimal jährlich alle zusammenkommen, die an Projekten gegen Jugendgewalt arbeiten. Das Parlament hat das Postulat in der Märzsession überwiesen. Mit dem Verfassen eines Berichts dazu ist das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beauftragt. «Bis wir Vorschläge ausgearbeitet haben, wird es sicher nächstes Jahr. Es ist tatsächlich so, dass es kein Konzept für eine Kinder und Jugendpolitik gibt, die präventive Massnahmen gegen Gewalt vorsieht», sagt Ruth CalderonGrossenbacher, Leiterin des Bereichs Kinder, Jugend und Altersfragen im BSV.

In Flims setzt man derweil auf die harte Tour. «Wir mussten in diesem Jahr die Patrouillentätigkeit der Polizei wegen verschiedener Schlägereien verstärken», sagt Gemeindeschreiber Martin Kuratli. Im Bündner Kurort sind die Patrouillen nächtens mit Hund unterwegs, weil dieser, so Kuratli, eines der letzten Mittel sei, «mit denen sich Ordnungshüter heute noch Respekt verschaffen können». Auch sonst verfolgt Flims eine NullToleranzPolitik: «Gewaltbereite Jugendliche, Randalierer und Vandalen werden konsequent strafrechtlich verfolgt.»

Bei einem grossen Teil der Bevölkerung dürfte die Strategie des Flimser Gemeinderats auf Zustimmung stossen. Im Januar veröffentlichte die SRG die Resultate einer Umfrage zur Jugendgewalt. Landesweit hatten sich 70 Prozent für eine generelle Verschärfung des Jugendstrafrechts ausgesprochen.

Ebenso hoch war der Ja-Stimmen-Anteil bei der Frage, ob jugendliche Straftäter ausländischer Herkunft wieder ausgebürgert werden sollen. Wahrscheinlicher Grund: die bekannt gewordenen Fälle von Massenvergewaltigungen oder von sexuellen Übergriffen in Zürich Seebach, Steffisburg BE und Rhäzüns GR. In allen Fällen waren die mutmasslichen Täter ausländischer Herkunft.

Im luzernischen Wolhusen setzte die Gemeinde nicht auf Repression, sondern auf Integration, als es Konflikte zwischen Schweizer und ausländischen Jugendlichen gab. Das aktuelle Projekt: Am 3. Juni organisiert die Gemeinde ein Fussballturnier, an dem Türken, Albaner und Schweizer in gemischten Mannschaften gegeneinander antreten. «Bei diesem Turnier geht es weniger um die Rangliste als darum, Jugendliche und Erwachsene aus dem Dorf zusammenzubringen», sagt Jugendarbeiter Christoph Stampfli.

Gespielt wird ohne Schiedsrichter
Auch in Romanshorn TG, wo 40 Prozent der Kinder fremdsprachig sind, fördert man das Miteinander. «Die Sitzordnung wird von der Lehrkraft vorgegeben und regelmässig verändert, um ungute Gruppenbildungen und Ausgrenzungen zu vermeiden», sagt Primarschulpräsident Hanspeter Heeb. Die Klassengrössen wurden kontinuierlich von durchschnittlich 26 auf 19 Schüler reduziert sowie Klein und Einführungsklassen, entgegen dem Trend, aufgelöst. «Kinder mit Lernbehinderungen sind integriert, werden innerhalb der Klasse mit angepassten Lernzielen gefördert und nicht mehr sichtbar stigmatisiert», so Heeb.

In über 30 Deutschschweizer Gemeinden haben Jugendliche am Wochenende regelmässig die Möglichkeit, bis Mitternacht Basketball zu spielen. An weiteren 30 Orten werden Turnhallen für einzelne Turniere geöffnet. Der Förderverein Midnight Projekte Schweiz betreibt diese Form von Jugendarbeit seit 1999. Bis Ende des letzten Jahres verzeichneten 2000 Spielabende über 120'000 Besuche 13- bis 17-Jähriger. Durchschnittlich 80 Prozent der Besucher sind ausländische Jugendliche, der Frauenanteil unter den Teilnehmern beträgt 25 Prozent. Ein einziges Mal sei es bisher zu einer Eskalation gekommen, bilanziert Geschäftsleiter Robert Schmuki. Im Jahr 2001 gab es bei einer MidnightBasketVeranstaltung in Oerlikon eine Schlägerei.

«Wir sprechen vor allem Jugendliche an, die in den Quartieren zurückbleiben», sagt Schmuki. Es seien meist die sozial Schwächeren, die es sich nicht leisten könnten, in die Zentren in den Ausgang zu fahren. Auf Glamour wird bewusst verzichtet. Es geht darum, den Jugendlichen einen Treffpunkt zu bieten. Die Anlässe werden jeweils von fünf bis acht Jugendlichen und zwei Sozialpädagogen durchgeführt. Gespielt wird ohne Schiedsrichter, es gibt keine Sieger und keine Preise.

In Balgach SG findet im Primarschulhaus einmal pro Quartal eine Vollversammlung mit allen 150 Schülerinnen und Schülern statt. Experten sind sich einig: Gewaltprävention muss möglichst früh einsetzen. «Kinder, die früh aggressiv sind, haben ein erhöhtes Risiko für eine Reihe von Verhaltensproblemen im Jugendalter. In frühen Phasen ist der Charakter noch am besten formbar», so Manuel Eisner, der an der britischen University of Cambridge soziologische Kriminologie lehrt. Gemeinsam mit der Universität Zürich hat der Forscher eine Studie zu den möglichen Ursachen von Jugendgewalt realisiert. Eines der Ergebnisse: Bei der Erziehung liegt vieles im Argen.

«Aktiver auf Eltern zugehen»
«Es gibt eine beträchtliche Anzahl von Familien, in denen erziehungsmässig einiges deutlich schiefläuft», sagt Eisner. So hätten etwa über ein Drittel der befragten Unterstufenkinder angegeben, einen eigenen Fernseher im Schlafzimmer zu haben. Ein Fünftel verbringe mehr als drei Stunden pro Tag vor der Kiste. Eisner hat einen Zusammenhang zwischen exzessivem Medienkonsum, namentlich von gewalttätigen Inhalten, und aggressivem Verhalten festgestellt. Er fordert deshalb eine öffentliche Debatte zum Thema Erziehung: «Elternbildung ist zu lange stiefmütterlich behandelt worden. Man sollte aktiver auf Eltern zugehen.»

Gerade aber zugewanderte Eltern mit bildungsfernem Hintergrund sind schwer zu erreichen. Diese Erfahrung machte der Bieler Lehrer Alain Pichard. Er organisierte mit seinen Arbeitskollegen einen Informationsmorgen für alle Eltern der Migrantenkinder. «Wir bereiteten in fünf verschiedenen Sprachen ein Programm vor über den Alltag in unserer Schule. 90 Eltern meldeten sich schriftlich an. Doch effektiv kamen nur 27.»

«Die Eltern von Kindern scheuen den Besuch von Elternabenden, weil sie sich gegenüber den Eltern, die sich sprachlich gut ausdrücken können, ausgeschlossen fühlen», sagt Josef Sachs, Facharzt für Psychiatrie an der Klinik Königsfelden und Autor des Buchs «Checkliste Jugendgewalt». Der einzige Weg, diese Eltern an einen Elternabend zu bekommen, sei, sie direkt anzusprechen.

Aber auch Schweizer Eltern geraten bei der Erziehung der Kinder mitunter an ihre Grenzen. Etwa die alleinerziehende Anna Disch (Name geändert). Nach der Scheidung macht ihr Exmann bei den zwei gemeinsamen Kindern Stimmung gegen sie. Disch verliert die Autorität, die Kinder geraten ausser Kontrolle. «Mein 15-jähriger Sohn war immer häufiger an Schlägereien beteiligt und brüstete sich noch damit. Auch die Tochter scherte aus», sagt Disch. Sie zog nach Bronschhofen SG. Dort nahm sie das Angebot der JugendhilfeStelle an: Während fünf Jahren bot eine SuperNanny Unterstützung bei der täglichen Erziehungsarbeit (siehe Nebenartikel «Integration: Erfolgsrezepte»). «Das Familienleben ist respektvoller und ruhiger geworden», sagt Disch. Der Sohn habe Schule und Lehre erfolgreich absolviert. «Heute hat er eine Arbeitsstelle und eine eigene Wohnung. Ich bin überzeugt: Ohne die Hilfe der SuperNanny wäre er auf der Strasse gelandet.»