Zwei Jahre lang versuchte der Verein «Klartegscht!» auf sich aufmerksam zu machen. Doch «D Stimm vo de Jugend» blieb ungehört. Und dann, Ende letzten Jahres, sass eine ihrer Vertreterinnen, die 18-jährige Sonia Wieser, plötzlich im «Club» des Schweizer Fernsehens und durfte neben gestandenen Persönlichkeiten auf das Jahr 2009 zurückblicken.

Was war geschehen? Eines Morgens im November klebten rund 80 Jugendliche von «Klartegscht!» 800 Post-it-Zettel auf Zürcher Tramscheiben, Billettautomaten, Briefkästen und Abfallkübel. «To do! Chotzä, koksä, figgä, prüglä» stand darauf.

Die Aktion war ironisch gemeint und wollte provokant zeigen, «was für ein verzerrtes Bild der Jugend in den Köpfen der Leute vorherrscht», erklärt Sandra Meier, 28, «Klartegscht!»-Initiantin und Geschäftsführerin.

Die Aktion wurde nicht überall verstanden – und geriet einigen Passanten in den falschen Hals. «Die Jugendlichen haben sofort begriffen, dass es um Vorurteile geht. Viele ältere Leute leider nicht.» Die Rede war alsbald von jugendlichen «Post-it-Aktivisten». Die Stadt Zürich verzeigte die Verantwortlichen «wegen Verteilung von Werbematerial auf öffentlichem Grund».

Beobachter: Röbi Koller meinte im «Club», eure Aktion sei ein Aufreger des Jahres gewesen und «in die Hosen gegangen». Einverstanden?

Sonia Wieser
: Nein. Die Aktion hat doch gezeigt, was wir immer kritisieren: Jugendliche werden nur angehört oder sind Thema in den Medien, wenn sie provozieren, anderen den Kopf einschlagen oder U17-Fussballweltmeister werden. Ich wäre nicht in den «Club» eingeladen worden, hätten wir in Zürich Blumen verteilt.

Beobachter: Eure To-do-Liste war ironisch und zugespitzt. Was steht tatsächlich auf der Aufgabenliste eines heutigen Teenagers?

Sandra Meier
: Wer meint, die Welt der Jugendlichen drehe sich nur um Gewalt, Alkohol, Drogen und Sex, hat längst aufgehört, Jugendlichen zuzuhören, und betet nur nach, was gewisse Medien und Politiker vorpredigen. Ich behaupte mal, dass ich nah an den Jugendlichen dran bin und kann sagen: Jugendliche beschäftigen ganz andere Dinge. Sie fühlen sich mehrheitlich einsam, frustriert, sind auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, wollen gehört und verstanden werden. Aber gleichzeitig müssen sie funktionieren, sie müssen auf die kleine Schwester aufpassen, eine Lehrstelle suchen, für Prüfungen lernen et cetera.

Beobachter: Sandra Meier nennt sich eure «grosse Schwester». Sagt sie die Wahrheit?

Jann Welde, 18
: Zu 100 Prozent. Natürlich trinke auch ich mal über den Durst, habe mich schon geprügelt und mir einen Pornofilm angesehen. Aber diese Dinge sind nicht zentral in meinem Leben. Und ich bin kein Kind vom noblen Zürichberg, sondern aus dem angeblichen Ghetto Zürich-Schwamendingen.

Wieser
: Im Allgemeinen ist die Jugend von heute äusserst nett, positiv und leistungsfähig. Aber wir sind keine Maschinen, deshalb gibt es auch unter uns Problemfälle, die mit dem Druck, den Erwartungen und dem Stress nicht klarkommen und nicht anders damit umzugehen wissen, als saufend und prügelnd Dampf abzulassen.

Beobachter: Manche Medien mögen allzu schwarz malen, aber tätliche Übergriffe von Jugendlichen sind nun mal keine blossen Hirngespinste.

Meier
: Die Gesellschaft mag sich zum Negativen verändert haben, doch das betrifft auch die Erwachsenen. An jedem Politabend wird fröhlich Alkohol getrunken. Gestresste Banker koksen sich die Nasen voll. Häusliche Gewalt kommt in den besten Familien vor. Viele dieser Probleme sind Ausdruck von Frustration, die in vielen Menschen steckt, nicht nur in Jugendlichen.

Welde
: Man kann sagen: Die Probleme der Gesellschaft sind auch unsere Probleme – und umgekehrt.

Meier: Wirklich Sorgen macht mir der grassierende Kokainkonsum unter Jugendlichen. Das ist neu, aber darüber wird seltsamerweise kaum diskutiert.

Beobachter: Neu ist auch die Omnipräsenz von Pornographie.

Wieser
: Ja. Und es ist auch logisch, dass ein 15-Jähriger Pornos schaut, wenn er die Gelegenheit dazu hat. Das sollten Eltern einsehen, ohne gleich in Ohnmacht zu fallen. Zudem haben nicht wir das Internet erfunden. Was fehlt, ist der ehrliche Dialog. Man muss nicht mit Blümchen und Bienchen kommen, wenn der 14-jährige Sohn mit Analsex konfrontiert wird. Doch Erwachsene machen ständig einen Eiertanz, wenn es um die entscheidenden Fragen geht. Eltern müssen ihren Kindern eben klarmachen, dass Sex mehr ist als Rein-raus.

Beobachter: Frau Meier, Sie sind keine ausgebildete Sozialpädagogin. Ist das ein Vor- oder ein Nachteil?

Meier
: Klar ein Vorteil, weil ich authentisch bin. Ich bin eine von ihnen. Und ich glaube an die Liebe. Liebe heisst Vertrauen. Bei mir dürfen Jugendliche sein, wie sie sind.

Wieser
: Man scheint sich einig zu sein, dass die Jugend zuerst einmal krank und hilfsbedürftig ist. Dabei brauchen wir nicht in erster Linie Sozialarbeiter, die uns aufpäppeln, sondern Menschen, die uns Vertrauen schenken und an das Gute in uns glauben.

Beobachter: Funktioniert denn die Selbstkontrolle unter den Jugendlichen? Sagt ihr euren Kumpels, wenn euch etwas nicht passt?

Welde
: Klar. Wenn ein Freund zu viel säuft, sag ich ihm das. Auch Jugendgewalt ist ein grosses Thema. In meinem Kollegenkreis rede ich mehr über die relevanten gesellschaftlichen Themen als in all den Jahren an der Oberstufe zusammen.

Wieser
: Unser Privileg ist: Wir müssen noch nicht perfekt sein, dürfen auch mal übers Ziel hinausschiessen. Deshalb fällt es uns leichter, jemandem zu sagen: He, schraub mal ein bisschen runter! Da sind die Tabus unter den Erwachsenen viel grösser. Welche Frau sagt ihrem Mann schon, der jeden Abend eine Flasche Wein killt, er solle weniger trinken? Die entschuldigt das doch und meint, das gehöre zu einem gemütlichen Feierabend.

Meier
: Man redet von Toleranz, verwechselt sie aber mit Gleichgültigkeit. Alle lassen alle tun und lassen, was sie wollen. Ich stehe ein für Zivilcourage. Ich weise Leute zurecht, wenn sie jemanden im Tram nicht aussteigen lassen oder Abfall auf den Boden werfen.

Beobachter: Jann, stehst du auf, wenn eine alte Frau das Tram betritt?

Welde
: Manchmal vergesse ich es. Dann kriege ich den Ellbogen meiner Freundin zu spüren (lacht).

Wieser
: Wenn eine alte Frau die Leute nicht aussteigen lässt, was gar nicht so selten vorkommt, dann sagt keiner was. Benimmt sich ein Jugendlicher daneben, heisst es: typisch, einfach keinen Respekt mehr.

Meier
: Als Jung und Alt noch zusammen in der Dorfbeiz sassen, konnten alle sehen, was Jugendliche beschäftigt. Heute fehlen diese Begegnungsorte völlig. Stattdessen transportieren die Medien ein Bild der Jugend, das nicht der Realität entspricht.

Beobachter: Man muss also keine Angst vor euch haben?

Wieser
: Das Schlimme ist ja gerade, dass manche Leute sogar schon vor mir die Strassenseite wechseln. Das ist absurd.

Meier
: Wenn jeder Schiss vor dem anderen hat, kommt keine vernünftige Auseinandersetzung, kein Dialog zustande. Was bleibt, sind Angst, Vorurteile und Misstrauen.

Beobachter: Welche Werte vermittelt ihr beim Verein «Klartegscht!»?

Meier
: Dass man wieder lernt, auf seine innere Stimme zu hören. Die verrät einem fast immer, ob man richtig oder falsch handelt – wenn man ehrlich mit sich ist. Zudem ist für uns kritisches Denken und ein Auseinandersetzen mit der Welt absolut zentral. Dazu kommen Werte wie Respekt, Toleranz, Eigeninitiative, Eigenverantwortung – und natürlich «Klartegscht» reden.

Wieser
: Viele Eltern sitzen im Hamsterrad und haben keine Zeit mehr, sich mit ihren Kindern auseinanderzusetzen, sie zu erziehen. Erziehen klingt so negativ, nach Handschellen und Hausarrest, bedeutet aber vor allem Information, Begleitung, Aufklärung – und da hapert es zum Teil gewaltig. Aber ist das ein Jugendproblem?

Welde
: Wir Jugendlichen sind doch extrem auf der Suche nach Werten. Und bei Themen wie Krieg oder soziale Gerechtigkeit sind unsere Ideale viel klarer als jene der Erwachsenen. Wo sind denn die Alten, wenn es darum geht, gegen den Krieg in Afghanistan oder gegen die Abzocker in der Schweiz zu protestieren? Wir glauben noch, dass man die Welt verändern kann. Die Erwachsenen haben diesen Glauben doch verloren, sind längst abgelöscht.

Beobachter: Dafür treten die Jugendlichen irgendwelchen Facebook-Protestgruppen bei ...

Wieser
: ... was genauso sinnlos ist. Das Mitdenken fehlt eben nicht nur unter den Erwachsenen.

Welde
: Es ist ja auch nicht unbedingt das selbständige Denken, das heute an den Schulen gefördert wird, sondern das Funktionieren. Ich zum Beispiel habe enorm Mühe mit dieser Konsumgesellschaft und mit einer Welt, die alles dem Profit unterordnet. Ich würde mir wünschen, es würde wieder mehr über die Menschen geredet.

Meier
: Man muss einfach mal festhalten, dass die Mehrheit der Gesellschaft ignorant und völlig auf sich bezogen ist. Wie oft hörte ich schon den Satz: Wieso regst du dich auf? Geniess das Leben! Nein, eben nicht. Ich bin überzeugt, dass man etwas zum Guten bewegen kann. Und diese Kraft teile ich vor allem mit Jugendlichen. Sie sind es, die mich jeden Tag aufs Neue beeindrucken. Vielleicht bin ich naiv, aber dafür schäme ich mich nicht.

Beobachter: Vielleicht seid ihr die positive Minderheit?

Wieser
: Genau, und die prügelnden, koksenden, saufenden und fickenden Jugendlichen sind die Mehrheit.

Beobachter: Das war jetzt ironisch gemeint, oder?

Wieser:
(lacht) Gut festgestellt.

Der Verein «Klartegscht!» wurde 2008 in Zürich gegründet und hat rund 100 Mitglieder. Den Kern bilden zwölf Leute zwischen 14 und 20 Jahren. Der Verein will den Dialog zwischen Jugend und Gesellschaft fördern und organisiert Gespräche und Begegnungen. «Klartegscht!» produziert auch Videos und Songs, um Meinungen Jugendlicher festzuhalten. www.klartegscht.com