Die sechs Familien sitzen nicht freiwillig im Londoner Klassenzimmer. Ihnen droht der Schulausschluss der Kinder oder gar eine Platzierung des Kindes ausserhalb der Familie. Doch bevor es so weit kommt, schickt man sie hier in ein sogenanntes Familienklassenzimmer. Während zwölf Wochen besuchen dann Eltern und Kinder die Schule gemeinsam.

Begleitet von Lehrkräften und einem Familientherapeuten, lernen Mütter und Väter, ihre Kinder so weit zu unterstützen, dass diese in der Regelschule bleiben können. Für viele ein beschwerlicher Weg, denn die meisten Eltern bringen einen Rucksack an Problemen mit: Alkoholismus, Gewalterfahrungen, psychische und finanzielle Probleme.

Umso verblüffender ist das Konzept: Die Eltern coachen sich gegenseitig. «Du kannst nicht einfach eine rauchen gehen, wenn du dem Sohn bei den Aufgaben helfen sollst», sagt eine Mutter zur anderen. «Wenn du immer gleich durchdrehst, wenn er etwas nicht kann, wird er es nie lernen», mahnt ein Vater.

Das Konzept dieser «Multifamilienarbeit» stammt vom Berliner Arzt und Kinderpsychiater Eia Asen. Seit mehr als 40 Jahren wendet er es in London erfolgreich an. Seine Erfolgszahlen sind schwindelerregend: 95 Prozent der Kinder können nach dem Familienklassenzimmer zurück in die angestammte Klasse, 70 Prozent der Eltern, denen ein Obhutsentzug droht, werden befähigt, ihre Kinder bei sich zu behalten.

Längst sind Asens Methoden ein Exportschlager. Auch in Skandinavien sind sie verbreitet. Nun holt sich auch Zürich Hilfe aus London. Im Schulkreis Glatttal ist ein Projekt für eine erste Familienklasse lanciert. In diesen Tagen reisen Schulamt samt Stadtrat nach London, um Asens Arbeit vor Ort zu erleben.

Beobachter: Wenn Kinder in der Schule Probleme machen, schicken Sie die ganze Familie ins Klassenzimmer. Warum?
Eia Asen: Weil ich davon ausgehe, dass die meisten Probleme, die sich in der Schule zeigen, Probleme in der Familie widerspiegeln. Es ist also sinnlos, nur am Kind herumzudoktern.

Beobachter: In der Schweiz wird in gewissen Schulen bereits ein Drittel der Kinder sonderpädagogisch oder therapeutisch unterstützt. Reicht das nicht?
Eia Asen: Das Familienklassenzimmer ersetzt einen grossen Teil der anderen Therapien. Ich bin ein ziemlicher Gegner von Individualtherapien für Kinder. Auch den immer häufigeren ADHS-Diagnosen stehe ich kritisch gegenüber.

Beobachter: Warum?
Eia Asen: Weil es kurzfristig einfacher ist, solche Diagnosen zu stellen, als die Umstände zu verändern, in denen ein Kind lebt. Die Diagnose entlastet die Eltern moralisch, aber die Kinder werden dadurch stigmatisiert. Zudem haben Ritalin und ähnliche Medikamente starke Nebenwirkungen. Dass man sie in solchen Mengen für ein Krankheitsbild verschreibt, das sich nicht einmal nachweisen lässt, sollte Fragen aufwerfen. Ich mache das seit zehn Jahren nicht mehr.

Beobachter: Oft sind es die Lehrer, die Druck machen, das Kind «abklären» zu lassen.
Eia Asen: Das ist so. Auch in London. Wir bekommen sehr viele Kinder zugewiesen, bei denen die Schule eine ADHS vermutet, ein Asperger- oder, was seit kurzem sehr populär ist, ein Tourettesyndrom. Wir sollen die Diagnose medizinisch bestätigen. Für die Schulen ist das verständlicherweise attraktiv. Das Kind macht Probleme, jemand anders kümmert sich darum.

Beobachter: Trotzdem arbeiten inzwischen Schulen in halb Europa mit Ihnen zusammen. Warum?
Eia Asen: Das war nicht von Anfang an so, das ist das Resultat von 40 Jahren harter Arbeit. Wir ermutigen Lehrer und Eltern, zusammen mit uns einen Weg zu finden, der den Kindern ermöglicht, ruhiger und konzentrierter zu werden, ohne dass sie etwas schlucken müssen. Die meisten akzeptieren das. In der Familienarbeit gelingt es uns meist, das sogenannte ADHS-Verhalten zu dekonstruieren, in oppositionelles Verhalten, in Wut, Trotz, Langeweile. Oft spielt mit, dass die Kinder nicht ausgelastet sind, zu wenig Bewegung haben, vielleicht das falsche Essen, zu wenig Schlaf oder zu viele Stunden vor dem Bildschirm verbringen.

Beobachter: In diesen Familienklassenzimmern müssen auch Lehrkräfte mitarbeiten. In der Schweiz klagen die bereits heute über zu viel Arbeit.
Eia Asen: Die erste Reaktion der Schulen ist immer: nicht das auch noch! Darum arbeiten wir seit Jahren nur noch mit Lehrkräften zusammen, die sich aus eigenem Antrieb für unsere Methode interessieren. Wenn die sehen, wie schnell sich die Kinder ändern und wie viel Entlastung ihnen die Arbeit mit den Familien bringt, verbreitet sich die gute Nachricht von allein. In einem Land wie der Schweiz, in dem man unsere Arbeit noch kaum kennt, passiert das selbstverständlich nicht von heute auf morgen.

Beobachter: In den Familienkursen treffen radikale Muslime auf rechtsextreme Eltern, Alkoholikerinnen auf Gewaltverbrecher. Wird das nie gefährlich?
Eia Asen: Mord und Totschlag gabs noch nie. Laut wird es aber regelmässig. Die motzen sich an, es gibt eine Menge homophobe, rassistische Sprüche, herablassende Bemerkungen. Das ist erst mal gut so. Damit arbeiten wir. Alles soll auf den Tisch. Dann geht es darum, den Sprücheklopfern beizubringen, wie es sich anfühlt, wenn man sich so etwas anhören muss. Mentalisieren nennt sich das, sich in sich selber und das Gegenüber einfühlen. Das fällt vielen unserer Eltern schwer.

Beobachter: Was geht in den Kindern vor, wenn die Eltern sich so beschimpfen?
Eia Asen: Ihnen ist das nicht neu. Und selbstverständlich ist immer eine Fachperson anwesend, die jederzeit intervenieren kann.

Beobachter: In der Schweiz machen muslimische Eltern Schlagzeilen, wenn es um die Zusammenarbeit mit der Schule geht. Weil sie Töchter nicht zum Schwimmunterricht schicken oder diese ein Kopftuch tragen.
Eia Asen: Ich habe davon gehört. In England sind wir toleranter. Wir haben eine längere Tradition in der Integration anderer Kulturen. Das hilft in unserer Arbeit enorm. Nur so gelingt es uns, Familien zu erreichen, die man sonst kaum erreicht. Chinesische Familien etwa oder strenggläubige Muslime. Das klappt, weil wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Asien und Afrika beschäftigen. Auch solche, die koranfest sind. Nur wenn es uns gelingt, unsere Interventionen korankonform zu gestalten, haben wir eine Chance, dass diese auch umgesetzt werden.

Beobachter: Da stehen vielen Leuten in der Schweiz die Haare zu Berge.
Eia Asen: Ich weiss, die Minarettsache und so. Man sieht in der Schweiz auch kaum Lehrkräfte oder Betreuungspersonal aus anderen Kulturkreisen. Das ist ein Defizit. Mir ist auch aufgefallen, dass es hier Pädagogen tendenziell schwerfällt, ihre Expertenposition abzugeben. Es ist für sie ein grosser Schritt, den Familien die Kompetenz zuzutrauen, sich gegenseitig zu beraten.

Beobachter: Fällt das Fachleuten in anderen Ländern leichter?
Eia Asen: Absolut. In Skandinavien ist die Idee, dass jede Familie einen anderen Weg geht und dass jeder Weg seine Berechtigung hat, viel weiter verbreitet. Da habe ich schon erlebt, dass Eltern total schockiert waren, als man ihnen mitgeteilt hat, dass sie ihre Kinder nicht bei sich behalten dürfen. Weil sich bis dahin alle Therapeuten so wahnsinnig bemüht hatten, den Fokus auf das Positive zu legen, verstanden die Eltern gar nicht, was sie falsch gemacht haben. Wir reden in unseren Kursen Klartext. Wir versuchen natürlich, die Stärken der Familien herauszuarbeiten, aber wenn wir sehen, dass etwas vernachlässigend oder missbrauchend ist, dann sagen wir das klar und deutlich. Anders ginge das nicht, da ja unsere Familien selber als Coaches fungieren. Die kennen sich nicht aus mit therapeutischem Slang.

Beobachter: Ihre Kurse sind stark strukturiert, es gibt Noten, Belohnung, Konsequenzen, Strafen. Stossen Sie damit nicht auf Widerstand?
Eia Asen: Bei den Kindern stossen wir anfangs tatsächlich auf Widerstand. In vielen Familien, mit denen wir es zu tun haben, haben die Kinder das absolute Sagen. Wenn wir ihnen dieses vermeintliche Vorrecht wegnehmen wollen, wehren sie sich verständlicherweise. Beginnen wir dann damit, zusammen mit den Kindern und den Eltern Ziele zu formulieren und Konsequenzen auszuhandeln, legt sich die Skepsis. Es passiert nicht selten, dass die Kinder ihre Eltern tadeln müssen, weil diese bei Fehlverhalten die Konsequenzen nicht eingefordert haben. Das ist mir wichtig: Es geht um elterliche Stärke und nicht um Macht. Es geht um ein gemeinsames Wachsen.

Beobachter: In einigen Schweizer Kantonen ist es seit kurzem möglich, Eltern zu Erziehungskursen zu verpflichten. Das ist sehr umstritten.
Eia Asen: Ich habe mit Zwang gar kein Problem. Wir arbeiten fast ausschliesslich mit Familien, die nicht freiwillig kommen.

Beobachter: Keine gute Voraussetzung, sagen Therapeuten.
Eia Asen: Solange die Kurse, zu denen man die Familien zwingt, wirklich relevant sind für sie, ist der Zwang völlig okay. Wenn die Familien merken, dass sie profitieren, steigen sie nicht aus. Ist der Kurs schlecht, führt der Zwang logischerweise zu Problemen. Ich habe mir einige dieser Erziehungskurse angeschaut, «Triple P», «Supernanny» und wie die alle heissen. Viele sind so banal oder so bevormundend, dass ich auch nicht hingehen würde.