Darüber reden will niemand. Selbst nach wochenlanger Suche bei Behörden und Beratungsstellen in der ganzen Schweiz ist niemand aufzutreiben, der erzählen mag, auch nicht anonymisiert. Keine Mutter, die sagt: Ja, mein 14-jähriger Sohn bedroht mich. Kein Jugendlicher, der bekennt: Ja, ich habe meinem Vater eine runtergehauen, immer wieder.

Doch diese Fälle gibts. Es gibt den 50-jährigen Vater in St. Gallen, der Anfang 2009 die Polizei rief, weil ihn sein 16-jähriger Sohn verprügelt hatte. Es gibt die Mutter in Zürich, die unlängst dem Computer ihres Sohnes den Stecker zog – worauf der Jugendliche aufsprang, zu einem Messer griff und der Mutter drohte, er bringe sie um. Es gibt den 13-Jährigen, der seine Mutter anbrüllt und gegen die Wand stösst, wenn sie etwas kocht, was er nicht mag, und es gibt die Teenagerin, die ihrer Mutter alles nachwirft, was ihr in die Finger kommt, weil sie nicht in den Ausgang darf.

All das sind, wohlgemerkt, keine einmaligen Ausbrüche: Jedes dieser Kinder hat bereits zuvor regelmässig einen oder beide Elternteile angegriffen, verbal oder physisch – mit dem Ziel, die Autorität der Eltern anzugreifen, zu untergraben. «Parent Battering» nennt die Fachwelt das Phänomen, das zwei Forscher der University of Maryland 1979 erstmals beschrieben haben. Zu Deutsch: Elternmisshandlung.

Die Eltern schämen sich

Wie viele Fälle es von Elternmisshandlung in der Schweiz gibt, weiss niemand. Gewalt in der Familie findet hinter zugezogenen Vorhängen statt, die Opfer scheuen die Öffentlichkeit – vor allem bei «Parent Battering», wo es Erwachsene sind, die den Schlägen ihrer eigenen Kinder ausgesetzt sind, ihrem Beissen, ihrem Kratzen, ihren Beschimpfungen und ihren Drohgebärden. «Dieses Thema ist ein grosses Tabu», sagt Adriana Grigioni vom Elternnotruf in Zürich, der jährlich in rund 150 Fällen von Elternmisshandlung Betroffene berät. «Misshandelte Eltern schämen sich, manche kommen sich als Versager vor, unfähig, die eigenen Kinder zu erziehen. Sie versuchen, ihre missliche Lage unter dem Deckel zu halten.»

Statistiken zu Elternmisshandlung gibt es daher keine, auch die Daten der Polizeikorps helfen nur bedingt weiter – sie führen zwar die Fälle häuslicher Gewalt auf, weisen aber selten deren Urheber aus. Die Kantonspolizei Zürich rückt pro Jahr geschätzte 20 Mal wegen Elternmisshandlung aus, in St. Gallen wurden die Stadt- und die Kantonspolizei im Jahr 2008 27-mal gerufen, im kleineren Kanton Zug fünfmal.

Es kommt in den besten Familien vor

«Was wir sehen, ist nur die Spitze des Eisbergs», sagt Heinz Mora, Leiter der Fachstelle Häusliche Gewalt der Kantonspolizei Zürich. «Wir kommen erst zum Einsatz, wenn Eltern so verzweifelt sind, dass sie zum Schluss kommen, die Polizei müsse nun in ihrer Familie zum Rechten sehen. Und es braucht viel, bis eine Mutter oder ein Vater so weit ist.»

Nur wenige Forscher haben sich bislang dem Phänomen der Elternmisshandlung angenommen. Mehrere US-Studien gehen davon aus, dass 9 bis 14 Prozent aller Eltern irgendwann von ihren jugendlichen Kindern physisch angegriffen werden. Inwieweit diese Zahlen auf die Schweiz übertragbar sind, ist strittig. In den meisten anderen Punkten aber pflichten Schweizer Fachleute ihren US-Kollegen bei: Opfer der Übergriffe sind eher Mütter als Väter, Täter sind häufiger Knaben als Mädchen. Und: Elternmisshandlung beschränkt sich nicht auf ein spezielles Milieu. Es gibt zwar Anzeichen dafür, dass alleinerziehende Elternteile öfters das Ziel von Angriffen sind und dass Kinder, die im Haushalt Gewalt erleben, selber auch zu Gewaltanwendung neigen. Die soziale Schicht jedoch spielt keine Rolle, ebenso wenig das Bildungsniveau oder der kulturelle Hintergrund.

«Eltern sollen ihren Kindern klarmachen, dass es eine Hierarchie innerhalb der Familie gibt – und diese Hierarchie gewaltfrei umsetzen.»

Adriana Grigioni, Sozialarbeiterin beim Elternnotruf Zürich

Foto: Private Aufnahme

Quelle: Jörn Kaspuhl

Ist das Familienleben also heute Schauplatz tätlicher Auseinandersetzungen, wo die Eltern häufig den Kürzeren ziehen? Matthias Vogt, Psychotherapeut FSP und Co-Leiter der Jugendberatung der Stadt Zürich, winkt ab. «Wir haben es nicht mit einem Massenphänomen zu tun», sagt er. «Fälle, in denen Kinder ihre Eltern physisch angreifen, sind selten – die Hemmschwelle, die Hand gegen den eigenen Vater oder die eigene Mutter zu erheben, ist bei den Jugendlichen noch immer sehr hoch.»

«Die Sprache ist verroht»

Was sich jedoch verändert hat, ist der Umgangston zwischen Eltern und Kindern. Matthias Vogt: «Die Sprache ist verroht. Vor einigen Jahren hätte sich kaum ein Jugendlicher getraut, seine Mutter als ‹Nutte› zu bezeichnen. Das ist heute anders.»

Haben die Kinder also jeglichen Respekt vor den Eltern verloren? Wissenschaftliche Erhebungen sprechen gegen diese These. Gemäss der Shell-Jugendstudie von 2006, für die Forscher der Uni Bielefeld über 2000 junge Deutsche zwischen 12 und 25 Jahren befragten, kommen 90 Prozent von ihnen mit ihren Eltern gut aus; 71 Prozent würden ihre Kinder gar genauso erziehen, wie sie selbst erzogen wurden.

Jugendberater Matthias Vogt kommt aufgrund von Erfahrungen aus Gesprächen mit Jugendlichen und ihren gequälten Eltern zu einem ähnlichen Schluss. «In der Regel respektieren Jugendliche ihre Eltern. Sie empfinden sie als wichtige Bezugspersonen. Die Eltern haben einen grösseren Einfluss auf ihre Kinder, als die meisten Mütter und Väter dies vermuten würden.»

Eltern, die Opfer von Misshandlungen ihrer eigenen Kinder sind, unterschätzen oft also ihre eigene Rolle – und häufig liegt hier ein Grund, weshalb es zu «Parent Battering» kommt. «Kinder wollen ein starkes Gegenüber, sie wollen wissen, wofür die Eltern stehen», sagt Matthias Vogt. «Doch stattdessen ziehen sich manche Eltern aus Furcht vor Konflikten aus dem Leben ihrer Kinder zurück. Sie geben ihre Präsenz als Eltern auf.» Auf die Jugendlichen wirke das verstörend, einige provoziere es geradezu, sagt Vogt. «Viele sind enttäuscht über das Verhalten ihrer Eltern, vielleicht sogar wütend.» Enttäuschung und Wut, die irgendwann in massiven Grenzüberschreitungen gipfeln können.

Es wäre aber zu simpel, betroffenen Eltern vorzuwerfen, sie gäben ihre Präsenz als Mutter oder Vater leichtfertig auf. Denn die Eltern sind in einer verzwickten Lage: Sie befinden sich heute in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem alte Rollenbilder nicht mehr greifen und neue noch nicht definiert sind. Fachleute sprechen von einem Verschwinden der Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen.

Ein Beispiel: Die neuen Medien haben dafür gesorgt, dass der traditionelle Wissensvorsprung von Erwachsenen gegenüber Kindern geschmolzen ist – frühere Geheimnisbereiche der Erwachsenen wie etwa Sexualität sind nun auch Kindern zugänglich. Gleichzeitig können Eltern nur noch schwer als ausgelernte Mutter oder allwissender Vater auftreten, der sein Kind schützt und anleitet – schliesslich verlangt die Wirtschaft von ihnen, sich lebenslang weiterzubilden. Kurz: Die Kinder sind erwachsener geworden, die Erwachsenen kindlicher. Daraus resultiert eine Erziehungsunsicherheit: Eltern wissen nicht, wie sie mit ihren Kindern umgehen sollen.

Angst vor Liebesverlust

Wie weit das gehen kann, erlebt Sozialarbeiterin Adriana Grigioni in ihrer Tätigkeit als Beraterin beim Elternnotruf. «Manche Eltern sind sich nicht einmal sicher, ob sie einen Fünfjährigen in sein Zimmer schicken dürfen, wenn er sich frech aufgeführt hat», sagt sie. «Andere fürchten, sie verlieren die Liebe ihrer Kinder, wenn sie sie für ein Fehlverhalten sanktionieren oder ihren Wünschen und Forderungen nicht nachkommen.» Aus Verunsicherung zeigen sie zu wenig Standhaftigkeit und damit zu wenig Präsenz – und nebst dem, dass Kinder so kaum Regeln und Orientierungen vermittelt bekommen, kann es sein, dass sich schleichend die Hierarchie zwischen Eltern und Kind umkehrt. Plötzlich sagen die Kinder, wos langgeht.

Das mag in den ersten Lebensjahren eines Kindes noch nicht sonderlich bedrohlich wirken. Zuspitzen kann sich die Situation aber in der Pubertät, wenn Themen wie Ausbildung, Ausgang, Suchtmittel- und Internetkonsum aktuell werden. Die meisten Eltern pochen dabei auf die Einhaltung gewisser Regeln. Teenager jedoch, die als Kind nie Grenzen gesetzt bekommen haben, werden auch dann kaum welche akzeptieren. Sie empfinden die elterlichen Ermahnungen als Eindringen in ihre Identität und setzen sich zur Wehr. Verbal zuerst. Je nach Reaktion der Eltern wählen sie die geeignete Form des Widerstands. Manche verletzen ihre Eltern jahrelang mit Worten. Andere beginnen irgendwann zu schubsen. Zu drohen. Zu schlagen.

Eltern müssen nicht cool sein

Was also tun, um Elternmisshandlung vorzubeugen? Sämtliche Laisser-faire-Erziehungsmethoden fallen lassen und zurück zur traditionellen autoritären Erziehung, die Kindern wenig Spielraum lässt und sie bei Regelverstössen hart anpackt? Adriana Grigioni lehnt das ab. Sie plädiert vielmehr für eine «konstruktive Autorität»: Eltern sollen Präsenz markieren, sollen sich an der Lebenswelt ihrer Kinder interessiert zeigen. Und: «Sie sollen ihren Kindern klarmachen, dass es eine Hierarchie innerhalb der Familie gibt – und diese Hierarchie gewaltfrei umsetzen.»

«Eltern müssen eine eigene Position haben und sie vor ihren Kindern standhaft vertreten», sagt Grigioni. «Sie müssen auch den Mut haben, gewisse Dinge nicht zu verhandeln und etwa zu sagen: Ich bestimme, wann du heute vom Ausgang nach Hause kommst.»

Und die Angst mancher Eltern, sie verlören mit unpopulären Regeln die Liebe ihres Kindes? «Eltern sollten sich nicht grämen, wenn Kinder sie nicht cool finden», sagt Grigioni. «Liebe bedeutet nicht, jeden Wunsch eines Kindes zu erfüllen, sondern in seinem Interesse auch Nein zu sagen.»