Der Wachtmeister, der an diesem Donnerstag Ende August 2007 das Telefon bedient, weiss offenbar genau, vor wem sich die Anruferin ängstigt: «Roland A., pol. bestens bekannt, (…) Tötungsdelikt und diverse Vorgänge, darunter Stalking», vermerkt er im Polizeijournal.

Doch der Wachtmeister auf dem Posten im Luzernischen behält das Wissen um die kriminelle Vergangenheit und die bedrohlichen Verhaltensmuster des Mannes für sich. Einzig rät er der ahnungslosen Frau, Nicole Dill, sich von A., mit dem sie eine Beziehung hat, unverzüglich zu trennen. Genau damit schickt er sie ins Verderben.

Als «Beihilfe zum Tötungsversuch» bezeichnet Nicole Dill diesen fatalen Rat des Kantonspolizisten heute, sieben Jahre später. Denn damals eskalieren die Ereignisse nach vorhersehbarem Schema: Roland A. verliert – wie mehrfach in vergleichbaren Trennungssituationen – jegliche Kontrolle. Er nimmt Dill, damals 38-jährig, in seine Gewalt, misshandelt sie während Stunden aufs Schwerste, vergewaltigt sie, quält sie mit lebensbedrohlichen Schüssen aus einer Handarmbrust. Für die Medien ist er hinterher der «Armbrust-Amok». Noch in Untersuchungshaft begeht er Suizid.

Nur knapp überlebt - und voller Kampfgeist

Nicole Dill überlebt, schwer verletzt und traumatisiert, mit bleibenden psychischen Beeinträchtigungen. Doch die zierliche Frau entwickelt ungeahnte Kräfte, sich dagegen aufzulehnen, dass sie zum Opfer wurde, nur weil der Persönlichkeits- und Datenschutz des nachmaligen Täters mehr zählte.

Die Luzernerin verwertet ihre Erlebnisse zu einem aufrüttelnden Buch, sie vertritt Opferanliegen in Medien im gesamten deutschsprachigen Raum, schafft später mit dem «Sprungtuch» eine eigene Anlaufstelle. Ihre Beharrlichkeit und der Mut, Opfern von Gewalttaten ein Gesicht zu geben, tragen ihr 2011 die Nomination für den Prix Courage des Beobachters ein.

Jetzt verlagert sich der Kampf auf ein neues Terrain: Nicole Dills Anwältin reicht in diesen Tagen eine Haftungsklage gegen den Kanton Luzern ein. Die Frage, ob sich der Wachtmeister falsch verhalten hat, soll nicht nur moralisch, sondern auch juristisch beurteilt werden. «Ein ernst gemeinter Opferschutz basiert auf dem korrekten Verhalten der beteiligten Amtsstellen», sagt Dill. Diesen Grundsatz müssten die Gerichte unterstreichen. «Denn es darf nicht sein, dass ein überlebendes Opfer wie ich die Verantwortung für eine Tat tragen muss, wenn andere daran schuld sind.»

Man hätte das spätere Opfer warnen müssen

Der Rechtsweg wird auch deshalb beschritten, weil der Kanton Luzern – beziehungsweise dessen Haftpflichtversicherung, die Axa Winterthur – nie ernsthaft auf einen aussergerichtlichen Vergleich eingestiegen ist. So wies der Kanton zum Zeitpunkt, als entsprechende Verhandlungen liefen, gegenüber dem Beobachter jede haftpflichtrechtliche Verantwortung kategorisch zurück. Die Polizei habe Nicole Dill «im Rahmen ihrer Befugnisse und Möglichkeiten über die Situation aufgeklärt».

Zum gegenteiligen Schluss kommt ein Gutachten des renommierten Rechtsprofessors Martin Killias. Demnach hätte der Wachtmeister Dill durchaus innerhalb der gesetzlichen Regelungen unmissverständlich vor der Gefährlichkeit ihres späteren Peinigers warnen können, zumal Roland A. nur unter Auflagen auf freiem Fuss war. Killias’ Expertise ist ein wesentlicher Pfeiler der Klage Dill vs. Luzern. «Unserer Ansicht nach liegt eine Pflichtverletzung des Polizeibeamten vor, und zwar nicht bloss als Unterlassung, sondern als Begehungsdelikt», erklärt Cristina Schiavi, die Vertreterin der Geschädigten.

Die Versicherung richtet keine Rente aus

Die Zürcher Anwältin führt zuerst eine Teilklage, um ein Urteil herbeizuführen, das grundsätzlich die Haftung des Kantons bestätigt. Im zweiten Schritt soll die Höhe der Entschädigung geklärt werden. Hierzu verfügen die Kläger über ein psychiatrisches Gutachten, das Dills damalige Unfallversicherung in Auftrag gegeben hatte. Es bestätigt eine bleibende teilweise Arbeitsunfähigkeit der heute 45-Jährigen, wodurch sich der Erwerbsausfall aufrechnen lässt.

Pikant: Bis heute weigert sich die Unfallversicherung, weitere Heilungskosten zu übernehmen und eine Rente auszurichten – sie foutiert sich auf Kosten des Opfers um ihr eigenes Gutachten.

Für Anwältin Schiavi ist die Klage über den Einzelfall hinaus bedeutsam. «Ein positives Urteil wäre ein Fingerzeig, künftig den Opferschutz höher zu gewichten als die Persönlichkeitsrechte von verurteilten Gewaltverbrechern», sagt sie. Wenn es heute um vorbeugende Massnahmen gegen Täter ginge, werde im Zweifelsfall lieber nichts unternommen. «Dieser Reflex muss neu justiert werden.»

Nachdem zunächst das Bezirksgericht und dann eventuell das Obergericht in Luzern über den eigenen Kanton urteilen müssen, stellen sich Anwältin und Mandantin darauf ein, dass erst das Bundesgericht ein ernsthaftes Signal setzen wird. Dill braucht noch einen langen Schnauf.

Kostenvorschuss: Erschwerter Zugang zum Recht

Die soeben eingereichte Haftungsklage des Gewaltopfers Nicole Dill ist beispielhaft für einen umstrittenen Passus in der gesamtschweizerischen Zivilprozessordnung, die Anfang 2011 eingeführt wurde. Demnach muss die klagende Partei einen Kostenvorschuss ans Gericht leisten, damit die Klage überhaupt zugelassen wird. Die Kaution soll die mutmasslichen Gerichtskosten decken, diese wiederum orientieren sich am Streitwert. Gerade bei Haftpflichtverfahren, wo die eingeforderten Summen in die Millionen gehen können, läppert sich dieser «Eintrittspreis» schnell auf mehrere zehntausend Franken zusammen.

Weil der Staat das Kostenrisiko auf die Kläger überwälzt und diesen somit den Zugang zum Rechtsweg erschwert, steht die neue Regelung bei Fachleuten in der Kritik. «Der Kostenvorschuss ist klägerfeindlich», sagt etwa der Zürcher Anwalt Thomas Gabathuler. Betroffen sind vor allem Personen mit mittleren Einkommen, die – wie Nicole Dill – weder über eine Rechtsschutzversicherung verfügen noch die Kriterien für eine unentgeltliche Rechtspflege erfüllen. Diese Kläger sind gezwungen, ihre Ersparnisse zu plündern, einen Kredit aufzunehmen oder private Geldgeber anzufragen. Dass deshalb viele vor dem Gang ans Gericht zurückschrecken, liegt auf der Hand. Auf der anderen Seite sinkt bei finanzkräftigen Beklagten – im vorliegenden Fall ein Kanton mit einer Versicherung im Rücken – die Bereitschaft zur aussergerichtlichen Einigung. «Sie lassen es eher auf eine Klage ankommen, weil sie wissen, wie hoch die Hürde für die Gegenseite ist», stellt Dill-Anwältin Cristina Schiavi fest.

Hinzu kommt: Selbst bei einem erfolgreichen Ausgang des Verfahrens ist nicht garantiert, dass der geleistete Vorschuss zurückbezahlt wird. Die Kläger tragen neu nämlich auch das Inkassorisiko: Nicht das Gericht, sondern sie selber müssen das Geld vom Prozessverlierer zurückverlangen. Ist dieser nicht zahlungsfähig, wird die Kaution vom Staat einkassiert – die Kläger müssen also die Gerichtskosten tragen, obwohl sie den Prozess gewonnen haben.

Weitere Infos

Buchtipp: Nicole Dill: «Leben! Wie ich ermordet wurde»; Verlag Wörterseh, 202 Seiten, Fr. 19.90

Anlaufstelle «Sprungtuch» für Gewaltopfer: www.sprungtuch.ch