Kerstin Odermatt und Peter Berchtold nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn sie ihre Erfahrungen mit den Winterthurer Schulbehörden schildern: Sie sprechen von Rechtsungleichheit, Willkür, Machtdemonstration. Die Eltern von drei Töchtern sind wütend – und enttäuscht. «Dass vom Volk gewählte Behörden derart eigenmächtig und sogar gegen das Kindswohl entscheiden können, finde ich skandalös», sagt Kerstin Odermatt.

Der Grund für ihre Empörung: Anfang 2013 hat die Zentralschulpflege beschlossen, dass ihre jüngste Tochter Jana neu eine öffentliche Sonderschule für zerebral gelähmte Kinder besuchen soll – gegen den Willen der Eltern und gegen die Empfehlung externer Fachleute.

Die Eltern lehnten die Sonderschule ab

Die zwölfjährige Jana leidet seit Geburt an tuberöser Sklerose. Die Erbkrankheit löst Tumoren aus und geht oft mit Lernschwächen einher. Zerebral gelähmt ist Jana nicht, aber die normale öffentliche Schule würde sie überfordern. Die ersten Schuljahre verbrachte sie auf Kosten der Eltern in einer Privatschule.

2011 musste bei Jana ein Hirntumor entfernt werden, anschliessend war sie zeitweise einseitig gelähmt. Heute sieht man ihr fast nichts mehr an, und sie kann sich wieder normal bewegen. Doch in Janas Innerem hat die Erfahrung Spuren hinterlassen. «Bis heute reagiert sie ängstlich auf Menschen mit sichtbarer Behinderung. Es erinnert sie an diese schlimme Zeit», sagt ihre Mutter.

Die Eltern wollten nicht, dass Jana ständig damit konfrontiert würde, und lehnten die Sonderschule für zerebral gelähmte Kinder deshalb ab. Janas Neurologin am Kantonsspital riet dem schulpsychologischen Dienst ebenfalls, von einer Empfehlung dafür abzusehen. Als Alternative schlugen die Eltern eine Privatschule vor. Dort würde Jana sich in einer altersdurchmischten Kleinklasse besser entwickeln können.

Doch die Stadt sah es anders. Der Etat sei ausgeschöpft, hiess es. Die Schulpsychologin schrieb, es sei nicht gestattet, die Privatschule zu finanzieren, wenn die Möglichkeit des Besuchs der öffentlichen Sonderschule bestehe.

Janas Ärztin warnte in einem Brief an den Stadtrat, das Kindswohl und Janas gesundheitliche Entwicklung seien gefährdet. Auch ein von den Eltern in Auftrag gegebenes Gutachten des kinderpsychologischen Dienstes fiel zuungunsten der Sonderschule aus. Die Zentralschulpflege folgte dennoch der Empfehlung der Schulpsychologin.

Was den Eltern besonders sauer aufstiess: Sie kennen mehrere Fälle, in denen die Stadt die Kosten für die Privatschule übernimmt. Und: Diese kostet nur halb so viel wie die öffentliche. «Das ist doch unlogisch und reinste Willkür», finden Kerstin Odermatt und Peter Berchtold. «Die wussten einfach, dass wir notfalls selber zahlen, und sparen jetzt auf unsere Kosten.»

«Willkür kann man uns nicht vorwerfen»

Bei der Stadt weist man diese Vorwürfe von sich. Die Stadt dürfe nur dann eine Privatschule finanzieren, wenn keines der öffentlichen Angebote eine angemessene Lösung bieten könne – auch dann, wenn diese nicht optimal sei, schreibt der Winterthurer Stadtrat Stefan Fritschi in einer Stellungnahme. Kinder, denen die Privatschule heute finanziert werde, hätten diese Voraussetzung erfüllt. «Daraus lässt sich aber kein Anspruch ableiten fürs eigene Kind.» Man habe streng nach Gesetz entschieden. «Willkür kann man uns wirklich nicht vorwerfen.»

«Letztlich waren wir Eltern machtlos»

In Bezug auf Janas angeblich gefährdete Entwicklung an der Sonderschule sei die schulpsychologische Abklärung schlicht zu einer anderen Einschätzung gekommen. Dass die Abklärung überwiegend aus Aktenstudium und einem kurzen Schulbesuch bestand, erachtet der Schulvorsteher nicht als problematisch. «Die Schulpsychologen entscheiden selber, ob eine vertiefte Abklärung nötig ist. Einen Anspruch darauf gibt es nicht.» Der Entscheid der Zentralschulpflege habe sich nicht nur darauf abgestützt, sondern die Sonderschule sei von deren Leiterin auch ausdrücklich empfohlen worden, sagt Fritschi. Zudem hätten die Eltern Rekurs einlegen können. «Ich bin selber Vater und kann gut verstehen, dass es sehr schwierig ist, wenn das eigene Kind in eine Sonderschule soll. Rechtsstaatlich lief aber alles einwandfrei.»

Kerstin Odermatt und Peter Berchtold können darüber bloss den Kopf schütteln. «Juristisch gab es einfach keinen Angriffspunkt, gerade weil man keinen Anspruch auf eine richtige Abklärung hat. Letztlich waren wir machtlos.»

Odermatt-Berchtolds stehen nicht allein da mit dem Gefühl, den Schulbehörden ausgeliefert zu sein und bei wichtigen Entscheiden übergangen zu werden. Beim Beobachter-Beratungszentrum gibt es im Schnitt täglich eine Anfrage zu Konflikten im Zusammenhang mit Schulentscheiden, vor allem, wenn die Übertritte anstehen. Dann ist jeweils auch «Hochsaison» für Elisabeth Dubach. Die Juristin und pensionierte Sekundarlehrerin hat die Familie Odermatt-Berchtold begleitet und vertreten. Sie führt seit sechs Jahren eine Beratungsstelle für Schulfragen und ist in der ganzen Deutschschweiz tätig. «Zu mir kommen Eltern, die im Umgang mit der Schule dringend Hilfe brauchen», sagt sie.

Die Familie Odermatt-Berchtold sei kein Einzelfall, sondern ein typisches Beispiel für einen letztlich fragwürdigen Entscheid der Schule, mit dem die Eltern nicht leben könnten. «In der Kooperation zwischen Eltern und Schule gibt es immer wieder typische Problematiken, die zu konfliktreichen Verhältnissen und schliesslich zu solchen Entscheiden führen», sagt die Schulrechtsexpertin.

«Die Eltern haben nichts in der Hand»

Schulen seien vor allem überfordert mit Kindern, die von der «Norm» abweichen. «Die Eltern dieser Kinder werden schnell einmal als schwierig oder zu anspruchsvoll erlebt, eine gegenseitige Zusammenarbeit findet nicht wirklich statt, Konflikte sind programmiert.» Eines der Hauptprobleme: die Kommunikation. Gemäss Dubach werden von der Schule oft Minimalstandards nicht eingehalten. «Briefe oder E-Mails werden nicht beantwortet, Gespräche, die über die Schullaufbahn entscheiden, finden zu spät statt. Und die Termine werden zu kurzfristig, zu Unzeiten, nicht selten in der letzten Woche vor den Sommerferien oder gar mittendrin angesetzt», sagt Dubach. Eltern werde auch oft vorher nicht mitgeteilt, was genau besprochen werden soll. «Sie können sich schlicht nicht seriös vorbereiten.»

Hinzu kommt, dass solche Gespräche nicht auf Augenhöhe stattfinden, da die Schule den Staat repräsentiert. «Nicht selten sitzen Eltern sechs bis acht Personen von der Schulseite gegenüber, wobei sie vorher nicht wissen, wer am Gespräch teilnehmen wird», sagt Elisabeth Dubach. Das Resultat: Sie fühlen sich ohnmächtig und ausgeliefert.

Immer wieder zu reden geben gemäss Dubach auch die Gesprächsprotokolle. «Oft ist nicht klar, ob und wie Protokolle ordnungsgemäss zu verfassen sind. Die Schule, die zum Gespräch einlädt, führt das Protokoll und entscheidet, wie dieses ausfällt. Eltern haben dann oft das Gefühl, ihre Äusserungen seien nicht zutreffend berücksichtigt worden.» Nicht selten würden sehr wichtige Gespräche auch gar nicht protokolliert. «Die Schule rechtfertigt das dann damit, es sei ein informelles Gespräch gewesen. Manchmal werden entscheidende, verfahrensrelevante Aussagen der Schule auch explizit nur mündlich übermittelt. In beiden Fällen haben Eltern am Ende nichts in der Hand.»

Fragezeichen setzt Dubach zuweilen auch hinter schulpsychologische Gutachten. «Zweifel über die Güte und Aussagekraft kommen auf, wenn etwa wie bei der Familie Odermatt-Berchtold ein Gutachten auf der Basis eines kurzen Schulbesuchs angefertigt und dann eine Empfehlung abgeleitet wird für den Besuch an einer öffentlichen Schule, an der noch leere Plätze besetzt werden müssen», sagt sie.

Gutachten und Empfehlungen externer Fachpersonen wie Kinderpsychologen oder Kinderpsychiater sollten ebenfalls von Schulbehörden berücksichtigt werden müssen, findet Dubach. Die schulpsychologischen Dienste – heute einzige Instanz, deren Empfehlungen gültig sind – hätten zu viel Macht. «Ihre Gutachten werden von niemandem überprüft und unter Verschluss gehalten. Und die Dienste sind den Gemeinden verpflichtet, die wiederum primär auf die Finanzen schauen.»

Dass dies problematisch sein kann, gestehen selbst Schulpsychologen ein. «Vor allem dann, wenn der schulpsychologische Dienst direkt der Schulpflege oder der Schulleitung unterstellt ist, ist die Unabhängigkeit nicht immer vollständig gewährleistet», sagt Marijana Minger, Präsidentin des Zürcher Schulpsychologenverbands. Betroffen seien vorab kleinere Dienste, weshalb man in Zürich eine Kantonalisierung angestrebt habe. «Doch diese wurde aus Kostengründen abgelehnt.» Grundsätzlich suche die Schulpsychologie aber wenn immer möglich mit allen Involvierten nach einem Konsens, sagt Minger. «In den meisten Fällen gelingt das auch.»

Dem widerspricht Schulrechtlerin Elisabeth Dubach. Gravierende Konflikte seien häufig, zu häufig. Es stimme aber, dass Eltern heute mehr forderten, manchmal auch zu viel. Der Grundkonflikt: Die Schule muss eine angemessene Bildung gewährleisten, die Eltern möchten aber eine optimale Förderung für das Kind. Sie stelle fest, dass die Rechte und Pflichten von Eltern und Schule oft für beide Seiten nicht klar seien. «Auf jeden Fall muss die Schule damit professionell umgehen können», sagt sie. «Der Umgang mit den Eltern muss einen Schwerpunkt in der Ausbildung von Lehrpersonen und Schulbehörden erhalten. Er muss dem Stellenwert entsprechen, den Eltern als Partner der Schule und Verantwortliche für das Kind haben.»

Der Verein Schule und Elternhaus Schweiz sieht ebenfalls Handlungsbedarf und fordert eine unabhängige Ombudsstelle, an die Eltern sich wenden können. «Wir sind auf Partnersuche, erste Schritte in diese Richtung wurden unternommen», sagt Geschäftsführerin Sandra Zehren.

Jana Odermatt gewöhnt sich derweil gerade wieder an den Schulalltag nach den langen Sommerferien. Sie ist nun schon im zweiten Jahr an der Privatschule. Am liebsten besucht sie den Handarbeitsunterricht, weniger begeistert ist sie von der Mathematik. Doch momentan beschäftigt sie ohnehin etwas ganz anderes: «Wir haben neue Stühle, die sich drehen und die man hoch- und runterlassen kann, das finde ich super», sagt sie und lächelt verschmitzt.