Beobachter: Nach dem Erdbeben in Haiti meldeten sich viele Paare bei Adoptionsvermittlungsstellen, weil sie ein Waisenkind aufnehmen wollten. Freut Sie das?
Marlène Hofstetter: Eine Adoption kann keine spontane Hilfsaktion sein. Ein Paar muss wissen, was auf es zukommt. Und es muss sich vorbereiten. Ein grosses Herz genügt nicht. Im Fall von Haiti wurden Hunderte traumatisierter Kinder in Nacht-und-Nebel-Aktionen ausgeflogen. Sie waren weder auf eine Adoption vorbereitet, noch hatten sie Gelegenheit, ihre neuen Eltern vorher kennenzulernen. Solche Aktionen dienen sicher nicht dem Kindswohl.

Beobachter: Geht es einem Kind aus einem so armen Land bei uns nicht sowieso besser?
Hofstetter: Nein, das ist eine völlig falsche Vorstellung. Die meisten Adoptivkinder sind verlassen worden und haben noch leibliche Eltern, vielleicht sogar Geschwister. Die Trennung hinterlässt Narben, die auch durch unseren Wohlstand nicht ausgemerzt werden können. Mit einer kleinen finanziellen Unterstützung könnten viele Kinder in ihrer Familie aufwachsen.

Beobachter: Insbesondere in den Vertragsstaaten des Haager Abkommens warten Kinder oft jahrelang auf eine Vermittlung im eigenen Land, bevor sie international zur Adoption freigegeben werden. Das kann doch nicht im Interesse dieser Kinder sein.
Hofstetter
: Das ist eine Massnahme gegen den Kinderhandel und dient damit dem Kindswohl. Das Abkommen legt nicht fest, wie lange man eine Lösung vor Ort suchen muss. Das regelt jedes Land selber. Der Vorwurf, dass die Vorschrift dem Kind schadet, ist in Ländern mit sehr langwierigen Verfahren sicher gerechtfertigt. Grundsätzlich ist ein Heim nicht der ideale Ort, die ersten Lebensjahre zu verbringen. Es gibt aber auch Länder, in denen die Kinder vorübergehend in Pflegefamilien kommen.

Beobachter: Das langwierige Verfahren fördert doch aber den Kinderhandel. Es kann nämlich adoptionswillige Paare zum Versuch verleiten, auf inoffiziellen Wegen an ein Kleinkind zu kommen.
Hofstetter: Irgendwo muss man den Hebel ansetzen. Ich bin überzeugt, dass die Regelung auf lange Sicht illegale Aktivitäten eindämmt. Immer mehr Länder machen die Schotten dicht. Für Adoptionswillige, denen jedes Mittel recht ist, wird es immer weniger Ausweichmöglichkeiten geben. Problematisch bleibt es in Ländern, deren Regierungen selber vom Handel profitieren oder in denen Chaos herrscht.

Beobachter: Wäre es nicht einfacher, für internationale Adoptionen die Abwicklung über eine offizielle Vermittlungsstelle zu verlangen – und sonst die Einreisebewilligung für das Kind zu verweigern?
Hofstetter: Das wäre sicher der Idealfall. Heute läuft nur knapp die Hälfte aller Verfahren über die anerkannten Vermittlungsstellen. Andere Länder machen vor, dass ein solches Obligatorium funktioniert. In Norwegen, Finnland, Schweden, Italien oder Holland kennt man das schon lange.