Früher war ich voller Scham», sagt Melanie (Name geändert), eine 29-jährige Mutter, während sie ihrer Tochter beim Schaukeln auf dem Spielplatz zuschaut. «Seit ich hier bin, hat sich das geändert. Ich habe akzeptiert, was gewesen ist. Was ich gewesen bin.» Vor zehn Jahren streifte Melanie am Feierabend durch die Strassen Luzerns. Die Leute kamen von der Arbeit, alle waren beschäftigt, hatten ein Leben und ein Zuhause. Nicht so Melanie. Ihr wurde in solchen Momenten bewusst, dass sie schon wieder einen Tag verschwendet hatte, wie schon so viele zuvor. Verschwendet an die Drogen.

«Wenn mich die Leute dann anblickten, fühlte ich mich wie der Dreck unter ihren Fingernägeln», erinnert sie sich, darauf achtend, dass ihre dreijährige Tochter Lena (Name geändert) vom Gespräch nichts mitbekommt. «Manchmal wurde ich auch so behandelt.»

Bis vor kurzem lebte Melanie mit ihrem Mann Marco (Name geändert) und Lena im «Ulmenhof» in Ottenbach, einem Dorf im Zürcher Umland. Der «Ulmenhof» ist eine Institution für sozial Benachteiligte, vor allem Suchtbetroffene und deren Kinder. Er gehört zur «Alternative», einem Verein für Suchttherapie.

Mit 15 geriet sie in den Drogensumpf

Melanie hatte eine turbulente Kindheit: Scheidung der Eltern, Trennung vom Bruder, neue Männer der Mutter und viele Umzüge. Mit 13 Jahren schloss sie sich einer Clique in einem Luzerner Dorf an. Ein Jahr später schmiss sie das Gymnasium und wechselte in die Sekundarschule, wo sie den Abschluss gerade noch schaffte. Doch aus einer Lehrstelle wurde nichts. Mit 15 war Melanie drogenabhängig. «Ob Pillen oder Pilze, ich habe an Partys alles ausprobiert. Und bevor ich michs versah, war ich ganz unten», sagt sie. «Das Problem bei mir war, dass ich keine Angst um mich selbst oder um meine Gesundheit hatte, es gab einfach keine Hemmschwelle.»

Mit 17 war Melanie voll in der Heroinszene drin. Die nächsten Jahre wohnte sie bei ihrem Freund, einem Dealer, und landete auf der Gasse, wo sie den Rhythmus einer Schwerstsüchtigen lebte: Geld beschaffen, Stoff kaufen, konsumieren. «Das Schlimmste, was mir damals passieren konnte, war, nüchtern zu werden», erzählt Melanie. «Ich war ständig im Beschaffungsstress.»

Sie forderte den Tod immer wieder heraus

Es gab drei Möglichkeiten, an Geld zu kommen: stehlen, sich prostituieren und dealen. Welche dieser drei sie wählte, war ihr einerlei. Ihr Freundeskreis wechselte ständig. Einige ihrer Freunde starben, andere landeten im Gefängnis. Fast alle waren in der gleichen Lage wie sie, und diejenigen, die es nicht waren, distanzierten sich von ihr. Es gab Phasen, in denen sie den Tod durch Überdosis geradezu herausforderte. «Doch es hat nicht sein sollen, und ich bin froh!»

2009 sass Melanie wegen diverser Delikte vier Monate im Luzerner Gefängnis Grosshof. «Das war mein absoluter Tiefpunkt. Danach wurde mein Leben nur noch besser.» Als sie wieder draussen war, traf sie Marco, er ebenfalls drogenabhängig. Die beiden zogen zusammen. Marco hatte eine Vollzeitstelle, die Dreieinhalbzimmerwohnung bezahlte das Sozialamt, das Heroin erhielt Melanie von der Abgabestelle. Nur zweimal pro Woche hatte sie «Nebenkonsum», wie es im Therapiejargon heisst. Und diesen finanzierte Marco mit seinem Lohn.

Nach zwei Jahren wurde Melanie schwanger. Bis zu diesem Moment hatte sie nie versucht, clean zu werden, doch die Schwangerschaft veränderte alles. «Ich spürte, dass mein Kind die Wende in meinem Leben bringen würde», sagt sie. Lena kam im April 2012 zur Welt und musste gleich einen Monat in den Heroinentzug.

Keiner traute ihr das Muttersein zu

Das Muttersein fiel Melanie leichter als erwartet. Lena war ein pflegeleichtes Kind. Doch Bekannte und Fremde reagierten skeptisch. Melanie und Marco mussten sich Fragen gefallen lassen wie: «Wenn Sie wieder mal Lust auf Drogen haben, lassen Sie Ihr Baby dann einfach allein zu Hause?» Das verletzte Melanie sehr, doch heute kann sie es besser verstehen: «Wir waren wohl eine Ausnahme. Normalerweise ist es bei drogenabhängigen Eltern wirklich so.»

Mit ihrer Beiständin arbeitete sie einen Notfallplan aus, in dem das Vorgehen in verschiedenen Situationen klar bestimmt war. So konnte Lena bei ihr bleiben. Marco arbeitete Vollzeit, und Melanie brachte Lena in die Kita, als das Kind neun Monate alt war. «Abgesehen von ein paar Kleinigkeiten waren wir eine normale Familie», ist Melanie überzeugt. Eine Kleinigkeit war: Zweimal die Woche kam jemand von der Luzerner Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) und schaute nach dem Rechten.

«Ich habe die Hälfte meines Lebens verschwendet.»

Melanie*

Doch ein Problem wurde immer gravierender. Melanie war zwar vom Drogennebenkonsum weggekommen, schlitterte nun aber in eine Alkoholsucht. Und Marco hatte immer wieder Rückfälle. Die Familie stand vor einer schwierigen Entscheidung: Entweder das Paar trennt sich und Melanie zieht mit Lena zu ihrer Mutter – oder das Paar startet gemeinsam eine Therapie.

«Ich stehe momentan vor der Mammutaufgabe, mir ein neues soziales Umfeld aufzubauen», sagt Melanie. Zu den ehemaligen Drogenfreunden habe sie den Kontakt komplett abgebrochen, doch neue Freundschaften zu schliessen sei schwer, da andere Menschen einfach nicht wüssten, wie es sei, wenn man «nicht anders kann». Ihr grosses Ziel ist es, einmal ganz ohne Drogen – und auch ohne übermässigen Alkoholkonsum – zu leben.

Den «Ulmenhof» beurteilt sie positiv: «Ich bin froh, dass es ihn gibt, denn sonst hätte ich mich von meinem Mann trennen müssen, um eine Therapie machen zu können.»

«Babys sind keine Bedrohung»

Peter Burkhard, der ehemalige Gesamtleiter der «Alternative», sagt: «Seit der Schliessung der offenen Drogenszene interessiert sich kaum mehr jemand für das Drogenproblem.» Auch für die Kinder, die unter der Sucht der Eltern massiv litten, werde oft sehr wenig getan. «Das Problem ist: Babys sind keine Bedrohung», so Burkhard. «Der gewalttätige und verhaltensgestörte Jugendliche 15 Jahre später jedoch schon. Deshalb ist das Interesse auf ihn gerichtet.» Auch wenn es oft teurer ist, erst im Teenageralter einzugreifen.

Der «Ulmenhof» hat das Zwei-Generationen-Modell entwickelt: Es geht davon aus, dass das ganze Familiensystem von einer Sucht befallen ist und die ganze Familie Behandlung braucht. Ein erster Schwerpunkt liegt auf den Kindern, erst nach einem Monat beginnt die Therapie der Mutter.

Den Kindern, die meist einen turbulenten Start ins Leben hatten, bietet die Tagesstruktur «Fidibus» einen sicheren Rahmen. «Süchtige verleugnen die Verhältnisse oft», sagt Burkhard. Sie befürchten, ihnen würde das Kind weggenommen, wenn jemand merkt, wie desolat die Zustände sind. Genau deshalb ist das Kind der Situation extrem ausgeliefert. «Die Kinder sollen hier erzählen können, wie es ihnen geht, was mit ihnen los ist, nur so können sie alles verarbeiten.»

Die aufgedunsenen Hände verraten sie

Die Drogen haben ihre Spuren hinterlassen; Melanies Körper ist übersät mit Narben. «Doch die aufgedunsenen Hände sind für mich das Allerschlimmste, weil ich sie nicht verstecken kann», sagt sie. «Sie sind das Zeichen einer Drogensüchtigen. So wird für immer jeder, der auch nur ein bisschen Ahnung hat, wissen, woher ich komme.» Genau deshalb findet sie es auch so schwierig, sich ein neues Beziehungsnetz aufzubauen.

«Ich bin hierhergekommen und wusste nicht genau, wer ich bin und was ich will», erinnert sich Melanie. Ihr war nur klar, dass sie endlich vollständig von den Drogen wegkommen wollte. Es allen recht zu machen habe sie völlig überfordert. «Inzwischen habe ich gelernt, für mich selbst einzustehen und meine Meinung zu sagen. Ich spüre meine Bedürfnisse wieder besser.» Auch ihr Auftreten sei jetzt anders. Früher sei sie oft laut gewesen, um ihre Unsicherheit und ihre Selbstzweifel zu überspielen. Heute müsse sie sich nicht mehr verstellen.

In zahlreichen Schul-, Therapie- und Beratungsstunden wurde sie auf das drogenfreie Leben vorbereitet. Wenn Melanie auf die letzten 15 Jahre zurückblickt, erschrickt sie: «Eine Katastrophe! Ich habe die Hälfte meines Lebens verschwendet.»

Und wenn sie jemanden aus ihrem ehemaligen Freundeskreis sieht, denkt sie immer: «Wie konnte ich nur?» Das reissende Verlangen nach Drogen ist seit der Schwangerschaft verschwunden. Trotzdem konnte sie erst vor kurzem anfangen, die Dosis des Methadons herunterzuschrauben. Die Motivation für sie sind Lena und Marco. Melanie will auf keinen Fall, dass Lena jemals sieht, wie sie einmal war, oder dass ihr Kind in ein Heim kommt.

So schmerzhaft wie ein Entzug

Vor kurzem ist die Familie aus dem «Ulmenhof» ins «Fischerhuus» in Birmensdorf gezogen. Das ist der erste Schritt in Richtung Selbständigkeit. Im «Fischerhuus» erhalten die Bewohner eine punktuelle Betreuung, um sich Schritt für Schritt wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Melanie blickt wehmütig auf die Zeit im «Ulmenhof» zurück: «Mir ist erst jetzt richtig bewusst geworden, dass die Leute dort in diesen anderthalb Jahren zu meiner Familie geworden sind.» Vor allem kurz nach dem Auszug sei es für sie sehr schwer gewesen. «Es hat sich angefühlt wie ein erneuter Entzug, ich war nicht auf solche Gefühle vorbereitet.» Für Lena und Marco war die Veränderung weniger schwer. Marco hat schnell eine neue Arbeit gefunden, und Lena geht tagsüber ins «Tipi», eine weitere Betreuungseinrichtung der «Alternative».

Melanie sucht nun eine Praktikumsstelle, sie sieht sich irgendwo im sozialen Bereich. Aber sie weiss: «Ich muss realistisch sein. Ich bin bald 30 und habe noch nie wirklich gearbeitet, deshalb muss ich mehr oder weniger nehmen, was ich bekomme.»

Quelle: Andreas Gefe

Dieser Artikel ist eine Kurzfassung der Maturaarbeit von Aline Metzler aus dem zürcherischen Obfelden. Die 18-Jährige macht im Sommer an der Kantonsschule Limmattal in Urdorf ihre Matura.

Aline Metzlers vollständige Maturaarbeit gibt es hier als multimediale Webreportage.