Anja S. ist dünn, viel zu dünn. Eigentlich nur noch Haut und Knochen. Und doch fühlt sie sich an den Oberschenkeln zu dick. Während die anderen das Mittagessen geniessen, schiebt sie es hin und her und zählt still Kalorien. Noch häufiger erfindet sie Ausreden, um nicht mit ihren Freundinnen in der Schulkantine essen zu müssen - sie ist stolz, dass sie sich so im Griff hat. Angefangen hat es bei ihr mit einer Diät, doch das Abnehmen ist inzwischen zum tagesbestimmenden Inhalt geworden und die Waage das Orakel fürs tägliche Wohlbefinden. Bloss kein Gramm zulegen! Wie andere Magersüchtige hat Anja eine gestörte Selbstwahrnehmung sowie panische Angst vor dem Zunehmen, obwohl sie bei einer Grösse von 171 Zentimetern nur noch 47 Kilo wiegt.

Das Gewicht von Vanessa F. hingegen liegt im Normalbereich, obwohl sie alle zwei bis drei Tage grosse Mengen von fett- und kohlehydratreichem Essen in sich hineinstopft: eine Schachtel Glace, eine Familienpackung Pommes Chips, drei Teller Spaghetti mit Pestosauce und einer dicken Schicht Käse obendrauf. Sie isst auch dann weiter, wenn sie schon längst satt ist. Um eine Gewichtszunahme zu verhindern, schluckt sie Abführmittel, erbricht gewollt oder fastet drei Tage lang. Bis sie die nächste Essattacke befällt. Dass sie an Ess-Brech-Sucht (Bulimie) leidet, sieht man ihr nicht an, da sie normalgewichtig ist.

Flucht vor der realen Welt

So verschieden die Ausprägungen solch krankhaften Verhaltens sind, beiden ist eines gemeinsam: ein zwanghafter Umgang mit dem Essen und die ständige Kontrolle des Gewichts. Dahinter können verschiedene Gründe stecken: Abgrenzung von der Familie, Flucht vor der realen Welt, ein übertriebenes Schönheitsideal, Verdrängung des Erwachsenwerdens und der Weiblichkeit, familiärer Leistungs- und Erfolgsdruck. Oder auch die Suche nach einem Weg, die innere Leere auszufüllen.

Bleiben Magersucht oder Bulimie unbehandelt, kommt es zu schweren körperlichen Folgeerkrankungen: Kreislaufproblemen, Nierenschäden, Osteoporose, Herzrhythmusstörungen und Schlafproblemen. Zusätzlich können psychische Störungen wie Depressionen, Zwangs- und Angststörungen auftreten. Das Hungerregime der Magersucht kann sogar zum Tod führen: Die Sterblichkeitsrate liegt bei hohen zehn Prozent. Durch die ständige Beschäftigung mit den Themen Essen und Gewicht leiden zudem die sozialen Beziehungen. Diese treten in den Hintergrund, wie auch die Ausbildung, der Beruf und Freizeitaktivitäten. Das führt zu einem zusätzlichen Leidensdruck.

Die wenigsten schaffen es alleine

Nicht jedes auffällige Essverhalten ist bereits ein Grund zur Sorge. Was die Essstörung charakteristisch macht, sind nicht die einzelnen Verhaltensweisen an sich. Es sind die Regelmässigkeit und Häufigkeit, die gedankliche und verhaltensmässige Beschäftigung mit dem Essen sowie das Ausmass der psychischen, sozialen und körperlichen Folgen. Oft kann erst eine ärztliche Abklärung endgültigen Aufschluss über das Vorliegen der Krankheit geben.

Die wenigsten Betroffenen schaffen es alleine, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Als Faustregel gilt: Wenn eine Essstörung länger als zwei Jahre andauert, ist die Chance auf Selbstheilung bereits gering und eine Therapie erforderlich. Früherfassung und Frühintervention sind absolut erstrangig, da die Prognose sehr viel besser ist, wenn die Essstörung noch nicht lange andauert.

Das Hauptziel einer Behandlung ist die Normalisierung und Stabilisierung des Essverhaltens und des Gewichts sowie das Abklären der Gründe, die hinter der Essstörung liegen. Dies erfordert eine psychotherapeutische Betreuung. Je nach Ursache der Störung ist es sinnvoll und notwendig, Familienmitglieder in die Therapie einzubeziehen. Menschen mit Essstörungen haben auch eine gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers. Mit diversen Übungen soll vermittelt werden, wie sie ein besseres Körpergefühl und neue Körperakzeptanz erreichen. Meistens werden verschiedene Therapien miteinander kombiniert; diese dauern Monate oder sogar mehrere Jahre.

Wie sollen Angehörige reagieren?

Eine Behandlung kann erst erfolgen, wenn die Betroffenen selber Einsicht in ihre Krankheit entwickeln und bereit sind, sich helfen zu lassen. Der erste Anstoss dazu kann aus dem Umfeld kommen. Bevor Sie jemanden auf sein auffälliges Essverhalten ansprechen, informieren Sie sich über die Krankheitssymptome.

  • Sprechen Sie die Person behutsam an und äussern Sie Ihre Beobachtungen und Sorgen. Zeigen Sie, dass Ihnen etwas an ihrem Wohlergehen liegt, nicht am Essverhalten an sich. Es nützt nichts, sie zu zwingen, wieder mehr zu essen - das treibt sie höchstens noch mehr in die Isolation.
  • Sprechen Sie in der Ich-Form, damit Ihre Beobachtungen nicht als Vorwürfe aufgefasst werden.
  • Fragen Sie nach, was die Person bewegt und was ihr zu schaffen macht, und ermutigen Sie sie, sich an eine Beratungsstelle zu wenden. Stellen Sie aber keine eigene Diagnose: Sie sind kein Therapeut!


Zu Beginn werden solche Gespräche oft abgeblockt. Die Leidtragenden schämen sich für ihr Verhalten und werden leugnen, dass sie ein Problem haben. Zeigen Sie hier Geduld und Ausdauer, aber beharren Sie nicht ständig auf dem Thema. Wichtig ist es aufzuzeigen, dass jemand ein offenes Ohr hat und es zahlreiche Fachstellen gibt, die weiterhelfen können.

Für Angehörige sind Magersucht oder Bulimie ebenfalls eine Belastung und führen die eigene Hilflosigkeit und Überforderung vor Augen. Holen Sie sich, wenn nötig, selber Hilfe bei einer Beratungsstelle oder Selbsthilfegruppe.

Wie erkennen Angehörige Essstörungen?

Zuerst muss die Krankheit als solche erkannt werden. Angehörige und Freunde sollten hellhörig werden, falls mehrere der folgenden Anzeichen auftreten:

Der/die Betroffene:

  • meidet gemeinsame Mahlzeiten
  • hat Ess-Spleens, sucht immer etwas Besonderes oder vermeidet Speisen mit vielen Kalorien
  • beschwert sich ständig über zu fettes oder zu üppiges Essen
  • teilt das Essen in verbotene und erlaubte Nahrungsmittel ein
  • stochert im Essen, zerkleinert die Bissen und isst sehr langsam
  • hält sich für zu dick und spricht häufig über Abnehmen, Diäten und Fitness
  • stellt sich täglich auf die Waage
  • verlässt während des Essens häufig den Tisch oder geht nach den Mahlzeiten sofort aufs WC
  • isst zu ungewöhnlichen Zeiten oder heimlich
  • lässt Nahrungsmittel heimlich verschwinden, zum Beispiel in Taschentüchern oder in der Handtasche, oder wirft sie weg
  • ist hyperaktiv, treibt übertrieben Sport und ruht sich fast nie aus
  • versteckt oder hortet Lebensmittel und Süssigkeiten
  • verschlingt ungewöhnlich grosse Mengen an Lebensmitteln oder Süssigkeiten (Essattacken)
  • klagt häufig über Verstopfung und/oder nimmt oft Abführmittel
  • hat ausgeprägte Gewichtsschwankungen
  • macht ungern Besuche, weil diese zum Essen verpflichten könnten
  • hat keine Einsicht in das mögliche Krankheitsbild und will sich nicht medizinisch untersuchen lassen

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