Endlich kann er sagen: «Ich bin daheim.» Thomas Frick hat sich zusammen mit seiner Freundin ein Nest gebaut. Die Dreizimmerwohnung in Mönchaltorf ZH ist mit Liebe zum Detail eingerichtet: dunkelrote Stoffbahnen auf dem Esstisch, darauf eine Vase mit pastellfarbenen Rosen. Ein richtiges Zuhause – Thomas Frick hatte sich als Kind und Jugendlicher oft ausgemalt, wie er sein muss, dieser Ort, wo man hingehört und angenommen wird, wie man ist. Dieser Zufluchtsort, der einen abschirmt und beschützt und stark macht für die Welt da draussen.

Da, wo er die ersten sechs Jahre seines Lebens verbrachte, fühlte sich nichts an wie daheim: Der Vater trank, das Geld reichte kaum, und der jungen Mutter wurde alles zu viel. Thomas galt von Anfang an als Problemkind: Er kam mit Gaumenspalte und Hasenscharte zur Welt, musste später mehrfach operiert werden, hatte Schmerzen, weinte viel.

«Ich habe viel Seich gemacht»

«Meine Eltern kamen nicht klar mit mir», erzählt der heute 25-jährige Thomas Frick, ein grossgewachsener Mann mit sportlicher Statur. Wenn er redet, beugt er den Oberkörper leicht nach vorn, stützt die Unterarme auf die Tischplatte. Manchmal holt er zu raumgreifenden Gesten aus. Seine Lebensgeschichte erzählt er sachlich, distanziert fast. Kein Selbstmitleid schwingt mit. Oft huscht ihm ein entschuldigendes Lächeln übers Gesicht, etwa wenn er beschreibt, wie er früher war: «Ich habe viel Seich gemacht.»

Anfangs waren es noch Lausbubenstreiche: Er strich um die Häuser, pflückte Blumen in fremden Gärten, um sie dann den Hausbesitzern zu verkaufen. Doch bald stufte man den Jungen als auffällig und schwer erziehbar ein: In der Schule konzentrierte er sich nicht auf den Unterricht, kam bald nicht mehr mit. Er piesackte die Lehrer und gab den zappeligen Klassenclown, den mit der schiefen Nase. «Ich wollte Aufmerksamkeit, Noten waren mir egal.»

Eines aber habe er damit sicher nicht provozieren wollen: «Dass man mich ins Heim steckt.» Wie es dazu kam, dass man ihn von seinen Eltern trennte, ist ihm bis heute nicht ganz klar. «In den Akten steht, meine Mutter habe mich weggegeben – meine Mutter sagt, sie sei machtlos gewesen, man habe mich ihr weggenommen.» Wenn er seine Mutter heute sieht, ist das Thema tabu. «Es käme sonst nur wieder zum Streit.»

Mit sechs Jahren wurde Thomas Frick zum ersten Mal «fremdplatziert». Er erinnert sich genau, wie er sich damals fühlte: unerwünscht, weggeschickt – und schuldig. Er war das Problem, er war es, der gesonderte Behandlung brauchte. Der Junge kam in eine Pflegefamilie mit fürsorglichen Ersatzeltern.

Er war gern dort, aber innerlich zerrissen: Das, was er bei diesen fremden Menschen fand, hätte er gerne zu Hause gehabt, bei seinen richtigen Eltern, an denen er trotz allem hing. «Doch die Besuche endeten immer im Streit, und manchmal setzte es Schläge ab», sagt er. Seine Mutter, inzwischen geschieden, lebte mit einem anderen Mann zusammen. «Willkommen fühlte ich mich dort nicht.» Seinen richtigen, vor ein paar Jahren verstorbenen Vater sah er kaum.

Je problematischer es mit der Mutter und dem Stiefvater wurde, umso mehr fiel er in der Schule auf und umso schlechter wurden seine Leistungen. Der Junge kam in ein Beobachtungsheim – der Anfang einer zwölfjährigen Heimkarriere. Einmal noch probierte man es für ein halbes Jahr daheim und an einer öffentlichen Schule, es klappte nicht.

Die Hoffnung auf ein normales Familienleben schwand bei Thomas Frick. Und in den Heimen rebellierte er immer stärker: Er litt unter der sterilen Umgebung und hasste die streng geregelten Tagesabläufe. Je grösser und kräftiger er wurde, umso öfter setzte er sich körperlich zur Wehr. Nicht nur unter Gleichaltrigen, auch bei einem der Erzieher hatte es bei ihm «ausgesetzt», wie er sagt. Man habe ihn daraufhin mehrere Tage eingesperrt, in der geschlossenen Abteilung des Aufnahmeheims Basel. «Ich kam mir vor wie ein Schwerverbrecher.»

Thomas Frick stellt nüchtern fest: «Ich wurde immer schlimmer mit den Jahren, und damit wurden auch die Erziehungsmethoden und Strafen drastischer.» Höhepunkt seiner Heimlaufbahn: ein mehrmonatiger Aufenthalt auf dem Jugendschiff Ruach, das damals im Atlantik kreuzte. «Man könnte meinen, ein Abenteuerurlaub auf dem Segelschiff. Aber ich war nicht freiwillig dort, es war ein schwimmender Knast.»

Wie er es schaffte, aus dieser Negativspirale auszubrechen? Eine Mischung aus Trotz, eisernem Willen und dem Glauben an sich. Er wollte den Beweis führen, dass er es packen kann – trotz verkorkster Vergangenheit. Und er sagte sich: Ich will nicht kriminell werden oder kokainabhängig wie andere Heimjugendliche. Wenn er darüber nachdenkt, ob er diesen Jahren im Heim etwas Positives abgewinnen kann, fallen ihm die Sportlektionen ein, das Tauchen etwa. Seit er 16 ist, fliegt er Gleitschirm. Sport habe ihm Kraft und Selbstvertrauen gegeben. Aus diesem Grund organisiert Thomas Frick heute Sportevents für Heimkinder und -jugendliche.

«Man traute mir nicht mehr und sagte ab»

Mit 17 konnte Thomas Frick eine vom Heim unterhaltene, externe Wohnung beziehen und eine Lehre als Sanitärmonteur machen. Nach der Ausbildung fand er einen Betrieb, der ihn einstellen wollte. «Aber ich hatte meine Heimvergangenheit verschwiegen. Das war ein Fehler, man traute mir nicht mehr und sagte ab.» Beim nächsten Vorstellungsgespräch legte er die Karten auf den Tisch: «Meine Kindheit und meine Jugend – es ist alles ziemlich scheisse gelaufen.» Der Chef habe nur gemeint: «Na und? Soll ich dir erzählen, was ich alles erlebt habe?» In dieser Firma ist er noch heute, und als Bauleiter führt er ein kleines Team.

Heute sagt Thomas Frick: «Ich bin glücklich.» Was ihm aber keine Ruhe lässt, sind die Heimkinder. Auch wenn ihm durchaus bewusst ist, dass die betreuten Jugendlichen heute in vielen Heimen sehr kompetente Ansprechpartner finden, hätten Heimkinder andere Nöte als Teenager, die bei ihren Eltern aufwachsen. Deshalb will sich der 25-Jährige speziell für die Anliegen von Heimkindern einsetzen. Auf seiner Homepage www.extremfun.ch berichtet er über seinen eigenen, holprigen Lebensweg und bietet Betroffenen ein Kontaktforum an.

Kinder und Jugendliche schreiben ihm, was sie beschäftigt, wenn sie nicht mehr weiterwissen, wenn etwas passiert, was ihnen ungerecht vorkommt – oder einfach wenn sie sich allein und hundeelend fühlen. Doch Thomas Frick kann keine fachmännische Hilfe bieten, er bleibt deshalb realistisch: «Mit meiner privaten Organisation sind mir die Hände gebunden, es bräuchte eine offizielle Ombudsstelle.»