Beobachter-Serie: Der Weg zurück, Folge 4

Menschen mit psychischen Störungen beruflich wiedereinzugliedern, bevor sie eine Invalidenrente beziehen, ist ein vordringliches Ziel der 5. IV-Revision, die seit Anfang 2008 in Kraft ist.

Der Beobachter begleitete den Winterthurer Andreas Springer auf dem langen Weg zurück. Der heute 39-jährige kaufmännische Angestellte erkrankte an der Angststörung Agoraphobie: Sobald er sein gewohntes Umfeld verlässt, erleidet er Panikattacken. Deswegen ist Springer 2006 arbeitsunfähig geworden – nachdem er die Vorboten der Krankheit jahrelang mit Medikamenten unterdrückt hatte. In der Stiftung Espas sucht er wieder den Anschluss: Espas hilft seit 25 Jahren Menschen, die aus gesundheitlichen – mehrheitlich psychischen – Gründen nicht mehr voll leistungsfähig sind, sich wieder in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren.

Der Weg zu seinem Psychiater führt Andreas Springer durch feindliche Gefilde. Vorbei an den Perrons und Zügen im Winterthurer Bahnhof, mitten durchs Gewusel der Ladenpassage, dann im engen Lift hinauf in den dritten Stock – all das steht für das, was Andreas Springer aufgrund seiner Angsterkrankung Agoraphobie buchstäblich den Schweiss auf die Stirn treibt.

Auch als er sich an diesem schwülen Julitag in der Praxis von Hanno Lührssen in den Sessel sinken lässt, ist Springer leicht erhitzt – trotz luftigem Sommerlook mit Fussball-Leibchen, kurzen Hosen und Sandalen. Ein vertrautes Körpergefühl auf seinen Spaziergängen, die er derzeit täglich unternimmt, und zugleich ein beklemmendes: «Ein Normaler denkt sich: ‹Ich schwitze halt, weil es warm ist.› Ich denke: ‹Mist, da kündigt sich eine Panikattacke an.›» Als Springer «ein Normaler» sagt, muss er selber schmunzeln.

Wenn Andreas Springer durch Winterthurs Altstadtgassen bummelt und sich unters Volk mischt, geht es nicht ums Vergnügen, sondern um die schrittweise Rückeroberung des Alltags – letztlich um die Überwindung seiner psychischen Probleme. Denn der nächste Schritt auf dem Weg zurück in die Berufswelt ist das Aufbrechen seiner sozialen Isolation, darum wurde er bei Espas vom Arbeitsprogramm «zurückversetzt» ins Aufbautraining. Wie oft, wenn sich Springers eigene Erwartungen nicht erfüllen, ist er durch diesen Richtungswechsel in ein Loch gefallen. «Aber jetzt bin ich wieder auf Kurs», versichert der Mann, der einst Seefahrer werden wollte.

Tatsächlich konnte Springer inzwischen das Pensum steigern; bei Espas, wo er im kaufmännischen Bereich arbeitet, ist er nun nicht mehr nur morgens, sondern auch an einzelnen Nachmittagen tätig. Vor allem aber hat er auf seinen Spaziergängen, die kein Spaziergang sind, den ständig lauernden Angstattacken bislang erfolgreich getrotzt. Noch jeden Ausflug brachte er zu Ende, auch wenn es zwischendurch ein Kampf war. «Ich bin dann jeweils total erledigt, aber es ist ein gutes Gefühl, wenn ich mir sagen kann: ‹Hey, es geht ja!›»

Nicht in die Negativspirale geraten

Hanno Lührssen, der Andreas Springer in der hellen Praxis über den Geleisen gegenübersitzt, nickt bestätigend. Es sei ermutigend, wenn man solche Widerstände aus eigener Kraft überwinde, sagt er, wie er seinem Schützling überhaupt ein gutes Zeugnis ausstellt: «Er hat eine enorme Entwicklung durchgemacht.»

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie arbeitet seit März 2007 mit Springer zusammen. Kürzlich erteilte die Krankenkasse die nötige Kostengutsprache, um die Behandlung für mindestens ein weiteres Jahr fortzuführen. Zeit, auf die man angewiesen ist: «Es ist jetzt ganz wichtig, dranzubleiben und allfällige Rückschläge schnell aufzufangen», so Lührssen. Denn wenn Menschen mit schweren Angststörungen sich selber überlassen würden, sei die Gefahr gross, dass sie in eine Negativspirale geraten. Zunehmende soziale Abschottung, Folgeerkrankungen und Suchtgefährdung seien mögliche Folgen. «Bei einer aktiven Behandlung mit medikamentöser Unterstützung ist die Prognose hingegen gut.»

Patient und Psychiater treffen sich alle zwei bis drei Wochen zur Therapiesitzung. Die jeweiligen Gesprächsinhalte bestimmt Andreas Springer – je nach Bedürfnis, das gerade zuvorderst steht. Für Springer, der zum Grübeln neigt, sind das willkommene Gelegenheiten, drängende Fragen loszuwerden und dazu eine Aussensicht zu erhalten. «Wir arbeiten möglichst nahe am Alltagsgeschehen», umschreibt Hanno Lührssen die Maxime der Behandlung. Der gebürtige Norddeutsche hat sich auf Verhaltenstherapie spezialisiert. Dazu gehören auch die Ausflüge in die Stadt, zu denen er Andreas Springer «animiert», wie der Arzt sagt. «Da pusht er ziemlich», präzisiert der Patient mit schiefem Grinsen.

Alles eine Frage des Standpunkts – und der Dosierung: Wie viel Druck ist gut? Wann droht eine Überforderung? Um solche Fragen geht es auch, wenn sich Psychiater Lührssen im Einverständnis mit dem Patienten mit dem zuständigen Gruppenleiter bei Espas kurzschliesst, um das weitere Vorgehen zu besprechen und zu koordinieren.

Dieser Austausch findet regelmässig statt und ist «überaus konstruktiv», sagt Hanno Lührssen. Er nimmt dabei eine beratende Rolle ein und steuert die medizinischen Aspekte bei. Ihm selber ist klar: «Für eine Rückkehr in den regulären Arbeitsmarkt ist es unerlässlich, die Anforderungen nach und nach zu steigern. Das ist kein künstlicher Druck, sondern ein ganz realer.»

Fast scheint es, als sei Andreas Springer noch etwas tiefer in seinen Praxissessel gesunken. Druck, Anforderungen, Erwartungen an ihn – das sind nicht seine Lieblingsthemen. Dabei weiss er in der Sache genau, wie recht sein Psychiater hat. Doch die Bedenken lassen sich nicht einfach wegwischen. Zu tief drin sitzt die Befürchtung, das Fuder zu überladen, zu schnell zu viel zu wollen. «Ich kann ja selbst nicht einschätzen, wie viel Druck ich vertrage», sagt er, mehr zu sich selber. «Wie sollen das dann andere können?»

Die Frage bleibt im Moment unbeantwortet. Deshalb eine Frage zurück: Wie beurteilt Andreas Springer nach knapp einem halben Jahr im Eingliederungsprogramm seinen ganz persönlichen Aktienkurs? Der Mann im England-Dress malt mit der Hand eine Wellenlinie in die Luft. Mal auf, mal ab – insgesamt aber ansteigend: «Deutlich besser als die UBS.»

So geht es weiter

Folge 5: Gesucht: Job mit etwas Nestwärme