In Lisas* Welt gibt es zwei Arten von Menschen: die NT und die AS. Die NT sind die Neurotypischen, die Normalen, die AS die Autisten. Lisa ist eine AS – sie erkennt sofort, ob jemand auch eine AS oder ein NT ist, sagt die heute 16-Jährige. Nur mit den AS versteht sie sich. Ihre Mutter sei etwas dazwischen, darum gehe es mit ihr auch gut. Dass sie Autistin ist, weiss Lisa mit Bestimmtheit erst seit einem Jahr – durch ein psychiatrisches Gutachten einer grossen Universitätsklinik. Dass sie anders ist, weiss sie aber schon lange. Ihr Kopf läuft manchmal Sturm, dann flippt sie aus, schreit und schlägt, verweigert alles. Nur ihre Plüschhunde Luna und Balou verstehen sie immer.

Das Baby schläft kaum und blickt keinen an

Lisa kommt am 5. Februar 1999 um 22.54 Uhr zur Welt, eine idyllische Hausgeburt, sagt ihre Mutter Monika Huber*. Ein Wunschkind. Mutter und Vater sind überglücklich. Aber nicht lange: Das Baby verweigert die Brust, lässt sich weder baden noch streicheln. Lächelt nicht, schläft kaum, schaut niemanden an. «Damals dachte ich noch: ‹Merkwürdig, aber das wird schon werden›», sagt die Mutter. Doch es wird nicht. Sie zeigt Fotoalben voller Bilder der kleinen Lisa, ein hübsches, blond gelocktes Kind. Ein Kind, das nie in die Kamera blickt, aber einen durchdringenden, starren Blick hat. Ein Kind, das immer für sich ist.

Mit zweieinviertel Jahren kann Lisa das Alphabet auswendig und spricht druckreif, «wie ein Professor», sagt ihre Mutter. Aber mit anderen spielen kann sie nicht. «Als Mutter fragt man sich immer: Habe ich etwas falsch gemacht? Diese Selbstzweifel sind schlimm.»

Experten schätzen, dass ein Prozent der Bevölkerung in der Schweiz von Autismus betroffen ist, also etwa 80'000 Personen. Rund zehn Prozent davon haben sogenannten «frühkindlichen Autismus», der mehr oder weniger starke Behinderungen zur Folge hat. Alle anderen haben verschiedene Formen des Autismus-Spektrums, zu den bekanntesten gehört das Asperger-Syndrom. Es handelt sich dabei um tiefgreifende Entwicklungsstörungen, die aber von Laien meist nicht erkannt werden. Oft haben Betroffene Probleme im sozialen Bereich, wirken schüchtern, oft sind sie aber auch in Teilbereichen sehr begabt. Buben sind viermal häufiger betroffen als Mädchen.

«Sie war ein Lexikon auf zwei Beinen»

Lisas Leidenszeit beginnt im Kindergarten. «Sie war ein Lexikon auf zwei Beinen», sagt Monika Huber. Sie nervt alle mit ihrer altklugen Art. Wenn die anderen Kinder nicht so wollen wie sie, rastet sie aus. Sie hat keine Freunde, terrorisiert die Mutter daheim mit stundenlangem Geschrei. Alles muss nach ihrem Plan ablaufen, kleinste Änderungen führen zu extremen Ausbrüchen.

Erste Abklärungen beim schulpsychologischen Dienst folgen – ohne eindeutige Diagnose. Lisa wird eingeschult, verweigert aber Lesen und Schreiben. Anfang der zweiten Klasse wird sie durch eine Kinderpsychologin untersucht, die ADHS mit Verdacht auf autistische Züge feststellt. Im Jahr 2007, als Lisa acht Jahre alt ist, wird sie von der IV als «Fall» anerkannt; die Invalidenversicherung zahlt fortan ihre medizinischen Behandlungen.

Lisa bekommt den Stempel «Geburtsgebrechen 404, Psychoorganisches Syndrom POS» aufgedrückt: «Störungen des Verhaltens bei Kindern mit normaler Intelligenz, im Sinne krankhafter Beeinträchtigung des Gefühlslebens oder Kontaktfähigkeit».

In der Schule wird es zunehmend schwieriger, Lisa hält es kaum noch aus. Sie lässt ihre Wut vor allem zu Hause aus. Lisa sagt rückblickend: «Ich habe die Schule gehasst. Alle waren gemein zu mir, schlossen mich aus. Einige Lehrer waren scheisse. Ich bin einfach anders und kann das nicht ändern. Sie liessen mich nie ich selber sein, das war so ein Stress.»

Die Mutter spielt Plüschtier

Im November 2008 wechselt Lisa an eine Privatschule mit Kleingruppenunterricht. Immer wieder wird sie von Instanzen abgeklärt. Ihre Eltern trennen sich, die Mutter bleibt einzige Bezugsperson, der Vater spielt kaum noch eine Rolle. Lisa wohnt unter der Woche bei einer Pflegefamilie, das entlastet ihre Mutter, die regelmässig an ihre Grenzen stösst. Für die Oberstufe wechselt Lisa in eine integrative Tagesschule.

Einziger Zugang zu Lisa sind oft ihre zwei weiss-braunen Plüschhunde Luna und Balou. Luna ist die Gescheite, Balou der Gemütliche. Mutter Monika schlüpft dann in die Rollen der Kuscheltiere, spricht mit hoher Luna- oder tiefer Balou-Stimme. Auch heute noch, mit 16 Jahren, sind ihr die Stofftiere wichtig, sie schlafen in ihrem Bett, kommen mit in die Ferien, begleiten sie zu wichtigen Terminen. Es ist typisch für Autisten, dass sie oft mit leblosen Gegenständen besser umgehen können als mit Menschen.

Im Frühling 2012, Lisa ist im zweitletzten Schuljahr, schliessen Mädchen ihrer Klasse eine Wette ab: Wer es schafft, Lisa eine runterzuhauen, bekommt 50 Franken. Nach diesem Vorfall weigert sich Lisa, weiter in die Schule zu gehen. Sie versteht die Spielchen der anderen Teenager nicht, kann die Provokationen nicht einordnen. Ein Teufelskreis. Zuletzt erhält sie Privatunterricht zu Hause.

*Name geändert

Lisas innere Welt ist geprägt von fiktiven Figuren. Real existierende Menschen haben es schwerer bei ihr.

Quelle: Andreas Gefe
Lisa lässt sich nicht untersuchen

In diese schwierige Zeit, Herbst 2012, fällt die Überprüfung der Diagnose der IV. Lisa muss zum regionalen IV-Arzt. «Ich wollte nicht. Schon wieder Abklärungen, ich verstand nicht, weshalb. Fand es total sinnlos», erinnert sie sich. Sie war 13 und malte gern Muster auf Lesezeichen aus. Akribisch. Und immer ähnliche Muster.

Thomas Girsberger, Kinderpsychiater und Autismus-Experte, kennt Lisa, seit sie elf ist. Er hat sie mehrmals untersucht, daheim und in der Schule, und diagnostizierte bei ihr bereits 2010 das Asperger-Syndrom. Das kümmert die IV nicht. Sie setzt einzig auf das Gutachten des IV-Arztes.

Dieser versucht, Lisa zu untersuchen. Sie verweigert sich ihm, und er schafft es nicht, sie in sein Zimmer zu kriegen. Sie schreit im Gang herum, tritt gegen die Glasscheiben in der Praxis, «leider sind sie nicht kaputtgegangen». Der IV-Arzt versucht, sie mit heisser Schoggi und Gipfeli zu ködern. Vergeblich. Er verspricht ihr eine Karte für iTunes-Downloads. Doch sie lässt sich nicht bestechen. Weitere Sitzungen fallen nicht besser aus, der IV-Arzt schafft es nicht, mit Lisa allein zu sprechen. Zwei Ärztinnen müssen helfen.

Im Februar 2013 teilt der IV-Arzt den Eltern die Resultate seiner Untersuchungen mit: Lisa sei kerngesund, die Mutter sei das Problem. Sie müsse in eine Therapie, dringend. Die IV werde keine Leistungen mehr für Lisa zahlen. Unglaublich – ein Schock.

Mutter Monika schwankt sprachlos aus dem Zimmer. Sie ist wütend und hat zugleich Angst vor dem, was kommen wird. Sie denkt: «Die wollen Lisa aus der IV kippen und mir die Schuld geben. Und das nach allem, was ich für sie getan habe.» Sie ist wie gelähmt, voller Selbstzweifel.

Die IV zeigt die Mutter wegen Kindsgefährdung an. Sie habe das «stellvertretende Münchhausen-Syndrom». Das heisst, die Mutter wird beschuldigt, ihr Kind absichtlich krank gemacht zu haben. In der Gefährdungsmeldung steht: «Wir erachten die Entwicklung der versicherten Person (Lisa) als hochgradig gefährdet, weil ihr von der Mutter eine schwere psychische Beeinträchtigung (Asperger-Syndrom) und eine Hilflosigkeit mit Pflegebedürftigkeit zugeschrieben wird, welche nicht bestehen.»

Monika Huber wird vom Amt gezwungen, Lisa «freiwillig» in ein Heim, eine Therapiestation, zu geben. Falls sie nicht einwillige, werde ihr das Kind weggenommen und an einem unbekannten Ort platziert.

«Nur dank den regelmässigen Sitzungen bei meinem Psychologen überstand ich diese Zeit», sagt die Mutter, «die Gespräche hielten mich am Leben.» In den dunkelsten Momenten habe sie an erweiterten Selbstmord gedacht. «Ich wollte Lisa und mich erlösen aus dem Elend, es glaubte uns ja niemand.» Doch ihr analytischer Verstand siegte: «Ich wollte denen nicht recht geben. Ich wollte mich wehren, für mich und meine Tochter kämpfen.»

Neuer Gutachter, anderes Resultat

Sie erhebt mit Hilfe eines Anwalts Einsprache gegen das IV-Gutachten. Die IV beschliesst daraufhin ein neues, neutrales Gutachten von Mutter und Tochter. Monika Huber greift nach jedem Strohhalm, der ihre Unschuld beweisen kann, und willigt ein. Lisa weigert sich zunächst, doch als sie versteht, was auf dem Spiel steht, willigt auch sie ein. Sie sagt zur Mutter: «Nur bei dir darf ich ich selber sein und muss mich nicht verstellen. Wenn ich das nicht mehr könnte, bringe ich mich um.»

Ein halbes Jahr müssen Mutter und Tochter auf die Resultate des psychiatrischen Gutachtens einer grossen Uniklinik warten – 18 Monate seit der Anzeige. Als sie es endlich zu Gesicht bekommen, kann es Mutter Monika fast nicht glauben: «Da war nur diese unendliche Leere. Und dann Erleichterung und ganz langsam Freude.»

Im Gutachten steht: «Es ergaben sich gemäss unseren psychiatrischen Untersuchungen (…) keine Hinweise auf ein Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Bei Lisa wurde hingegen die Diagnose Atypischer Autismus gestellt.» Atypischer Autismus unterscheidet sich nur in Nuancen vom Asperger-Syndrom.

Kinderpsychiater Thomas Girsberger sagt: «Dieses Gutachten ist eine absolute Niederlage für den IV-Arzt. Wie konnte der nur so eine unqualifizierte Diagnose über Lisa und ihre Mutter stellen? Das ist unglaublich.» Girsberger, eine Kapazität bei ADHS- und Autismus-Störungen, hat die Erfahrung gemacht, dass die IV systematisch mit Ärzten zusammenarbeitet, die im Interesse der IV abklären – also regelmässig zu Ungunsten der Versicherten entscheiden. «Solche Ärzte nennt die IV auch noch ‹unabhängig›!» Lisas IV-Arzt sei bekannt dafür, dass er bei ähnlichen Fällen gern den Eltern die Schuld zuschreibe und so die IV entlaste.

Die betroffene IV-Stelle sagt: «Die gesundheitliche Situation von Versicherten ist jeweils nicht in Stein gemeisselt. Es ist also gut möglich, dass zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche medizinische Feststellungen gemacht werden. Auch ist eine unterschiedliche medizinische Beurteilung verschiedener involvierter Ärzte und eine unterschiedliche Gewichtung der Auswirkungen der gesundheitlichen Situation nicht ungewöhnlich. Gestützt auf das Gutachten der Psychiatrischen Universitätsklinik wurden der Versicherten (Lisa) die ihr versicherungsrechtlich zustehenden Leistungen zugesprochen.»

Jeden Tag viele gleiche Teller

Bis heute hat Monika Huber von der IV keine Entschuldigung für das Vorgehen des Arztes erhalten – obwohl die IV seit Anfang Jahr wieder zahlt, auch rückwirkend. Mutter Monika überlegt sich eine Aufsichtsbeschwerde beim Bundesamt für Sozialversicherungen.

Lisa macht derzeit eine Lehre als Köchin in einem grossen Alters- und Pflegeheim. Besonders gefällt ihr die Kreativität ihres Berufs, sie liebt es aber auch, jeden Tag viele gleiche Teller parat zu machen.

Wenn sie frei hat, schaut sie am liebsten fern, insbesondere die US-Zeichentrickserie «Phineas und Ferb». Die Brüder Phineas und Ferb stellen immer verrückte Sachen an, die ihre Schwester dann der Mutter petzt. Doch die kriegt jeweils nichts mit vom Chaos, weil das Haustier Perry, ein Schnabeltier, eigentlich ein Geheimagent ist und auf der Jagd nach dem Bösen jeweils die Spuren der Brüder unfreiwillig verwischt.

Lisa nimmt ihre Plüschhunde in den Arm, legt sich aufs Bett und schaut die nächste Folge. Die nach dem genau gleichen Muster ablaufen wird.