Claudine Balch (Name geändert) ist hart zu sich. Vielleicht hält sie ihr Leben nur so aus. Sie sagt: «Ich könnte ständig weinen, aber was bringt das?» Wenn sie morgens erwacht, verbietet sie sich als Erstes zu jammern, zu grübeln, zu hoffen, zu verzweifeln. So beginnen ihre Tage. Man sieht ihr die Härte nicht an. Sie hat heitere Gesichtszüge, wache Augen, eine fröhliche, laute Stimme.

Im Frühling 2010 beginnt ihr Glück. Sie und Paul (Name geändert) beschliessen zu heiraten. «Er war der erste Mann in meinem Leben, bei dem ich mich geborgen und geliebt fühlte.» Sie ist 62, er 47. Der Altersunterschied stört beide nicht. Paul witzelt sogar: «Sei froh! Wenn du alt bist, kann ich dich pflegen.» Sie schenkt ihm dafür einen langen Kuss, sie findet den Gedanken so schön.

Sie konnte Paul zuerst nicht ausstehen

Das Glück währt nur kurz. Wenige Wochen nach der Hochzeit bricht das Unglück herein: Ärzte stellen bei Paul Demenz fest. Rasend schnell verwandelt er sich in einen anderen Menschen.

Das ist jetzt gut viereinhalb Jahre her. Von dem Paul, in den sich Claudine Balch verliebt hat, ist nichts mehr übrig. Sie muss den anderen, den neuen Paul rund um die Uhr pflegen. Manchmal sagt sie, es sei schrecklich. Manchmal sagt sie aber auch, sie sei glücklich. Jedenfalls ist da das Gefühl, mit Pauls Pflege vollkommen allein dazustehen; die ständige Erschöpfung; die Empfindung, wahnsinnig zu werden; die Angst, Paul wegzugeben; die Geldsorgen, weil die Krankheit das ganze Geld verschlingt; die Ungewissheit.

Die Geschichte von Claudine und Paul begann vor 25 Jahren. Sie war damals in zweiter Ehe mit einem Wirt verheiratet. Das Paar führte ein Restaurant im Dorf. Paul arbeitete in der Nähe bei einem Chips-Fabrikanten als Verkaufsleiter und belieferte die Gasthäuser der Region. So lernten sie sich kennen. Claudine Balch sagt, sie habe Paul damals nicht ausstehen können. Er sei ein ruppiger Kerl gewesen, habe ständig anzügliche Witze gemacht. «Immer wenn Paul bei uns im Restaurant auftauchte, bat ich meinen Mann: ‹Geh du und rede mit ihm!› Ich versteckte mich in der Küche.»

Nach langer Zeit traf sie ihn zufällig wieder

Das Restaurant lief schlecht, der Schuldenberg wuchs. Irgendwann mussten Claudine Balch und ihr Mann Konkurs anmelden. Kurz darauf liessen sie sich scheiden. «Die erste Zeit nach der Scheidung war ein Alptraum, ich war zum ersten Mal im Leben allein.»

Sie mietete eine winzige Wohnung, lebte von einer kleinen Invalidenrente, die sie bezog, weil sie unter einem Schleudertrauma litt. Mit der Zeit gewöhnte sie sich an das Alleinsein, genoss es sogar. «Ich fühlte mich plötzlich so frei. Ich wollte diese Freiheit für immer behalten.» Sie nahm sich vor, nie wieder etwas mit einem Mann anzufangen. Das war vor etwa zehn Jahren. Da traf sie nach langer Zeit wieder einmal zufällig Paul auf der Strasse.

Claudine Balch wohnt mit Paul in einer schönen, hellen Attikawohnung mit grosser Terrasse. Die Rollos sind heruntergelassen, die Terrassentüren und Fenster ständig verriegelt, weil Paul sonst hinausgehen würde, vielleicht hinunterspringen.

Während sie erzählt, sitzt er mit am Tisch. Sein Blick ist stumpf. Er schreit und jault, ist unruhig. Zwischendrin schlottert er minutenlang am ganzen Körper. An seinem Mund hängen Speichelfäden. Manchmal versucht sie, ihn ins Bett zu locken. «Komm, Schätzeli, komm ein bisschen ins Bett.» Aber er will nicht. Manchmal muss sie ihm die Windeln wechseln. Er hält kaum still, und sie gerät ausser Atem.

Schmuseattacken und Schreiattacken

Später erzählt sie, dass die Krankenkasse pro Jahr 1800 Franken für Windeln bezahlt. Paul verbrauche jedoch Windeln für mindestens 3000 Franken. Als sie bei der Kasse anruft und das Problem schildert, bekommt sie den Rat, einfach weniger oft die Windeln zu wechseln. «Ist das nicht brutal? Ich kann ihn doch nicht in der Nässe sitzen lassen!» Sie kauft jetzt die billigsten Windeln.

Paul leidet an Frontotemporaler Demenz. Sie kommt eher selten vor und betrifft in der Regel Leute mittleren Alters. Wer daran erkrankt, hat im Schnitt noch fünf bis zehn Jahre zu leben. Zu Beginn verändert sich die Persönlichkeit. Aggressivität, enthemmtes Verhalten, Unberechenbarkeit sind häufige Symptome. Die Deutsche Alzheimergesellschaft schreibt, mit jemandem zusammenzuleben, der unter Frontotemporaler Demenz leide, sei besonders belastend.

.. dann wurde er zunehmend unberechenbar.

Quelle: Andreas Gefe

«Von niemandem kam Hilfe, ich war völlig überfordert.»

Claudine Balch*

Claudine Balch erzählt von Pauls Schmuseattacken. «Nachts kommt er alle zehn Minuten in mein Zimmer, um mir seine Zunge ins Maul zu stopfen.» Sie spricht über seine Schreiattacken, seine Heisshungerattacken. Dass er dann sogar Topfpflanzen und Erde essen will. Anfangs weinte sie viel, dachte oft an Suizid. «Von niemandem kam Hilfe, ich war völlig überfordert.»

Auch heute hat sie manchmal noch das Gefühl, am Abgrund zu stehen. Am schlimmsten sei, dass sie nicht mehr mit Paul reden könne. «Es kommt nichts zurück. Ich darf nicht darüber nachdenken, sonst ist es vorbei mit mir.» Sie ist überzeugt, dass eine höhere Macht sie und ihn zusammengeführt hat. So macht das Unglück Sinn für sie, so erträgt sie es besser. Bei Paul zu bleiben und ihn zu pflegen, das sei wie ein Auftrag von oben.

Sie glaubte ihm kein Wort

Damals, als sie sich zufällig nach langer Zeit wieder auf der Strasse trafen, fragte Paul sie nach ihrer Adresse. Schon beim ersten Mal, als er sie in ihrer winzigen Wohnung besuchte, gestand er ihr seine Liebe. Sie glaubte ihm kein Wort. Paul war zu der Zeit mit einer anderen Frau verheiratet, hatte zwei Töchter im Teenageralter. Ausserdem machte er immer noch dieselben anzüglichen Witze. Claudine Balch verzieht angewidert das Gesicht, wenn sie davon erzählt. «Ich war überhaupt nicht in ihn verliebt.»

Doch Paul blieb hartnäckig. Er zog bei ihr ein, liess sich scheiden. Er verbot ihr, sich mit anderen Männern zu treffen, wurde immer eifersüchtiger. Und sie wehrte sich nicht. Claudine Balch sagt: «Irgendwann spürte ich, wie es mich packte, wie ich mich verliebte.» Sie zuckt mit den Schultern. Sie kann es nicht erklären.

Ihr Leben lang hatte Claudine Balch von einer Attikawohnung geträumt. Paul erfüllte ihr den Wunsch. Es war Frühling 2010, sie hatten einen Plan: im Juni heiraten, im Oktober in ihr neues Heim ziehen. Sie sagt, sie sei noch nie so glücklich gewesen wie in jenem Frühling. Dass er sich veränderte, bemerkte sie nicht. Nur, dass er plötzlich pingelig wurde: Haare in der Dusche oder unordentlich gefaltete Pullover störten ihn neuerdings.

Er zählte alle Lampen im Tunnel

Dann hatte Paul einen leichten Autounfall. «Danach ging es rasant bergab», sagt sie. Paul entwickelte Ticks. Er begann, die Deckenlampen in Strassentunnels zu zählen. Wenn er sich verzählte, kehrte er um und fuhr ein zweites, ein drittes oder gar viertes Mal durch den Tunnel und zählte erneut. Beim Essen schlug er wie ein ungeduldiges Kind mit dem Besteck auf den Tisch. Er rief zehnmal bei ihr an, um zu sagen, sie müsse ihm Socken kaufen. Sie bat ihn, zum Arzt zu gehen. Er weigerte sich, schob alles auf den Stress bei der Arbeit. Einen Monat vor der Hochzeit ging sie deshalb selbst zum Hausarzt und schilderte ihm Pauls Verhalten. Der Arzt riet, die Hochzeit abzusagen oder wenigstens zu verschieben. «Ich konnte das nicht», sagt sie. «Wir hatten uns einander versprochen. Ich bin jemand, der seine Versprechen hält.»

Einige Wochen nach der Hochzeit, Anfang September, liess Paul sich zu einem Arztbesuch überreden. Claudine Balch flüstert: «Demenz? Wer begreift schon, was das heisst?» Sie nicht, Paul sowieso nicht. «Er begriff nur, dass er nicht mehr zur Arbeit gehen darf. Das war brutal für ihn.» Sie schlägt die Hände vors Gesicht. Es wirkt, als presse sie die Tränen zurück in die Augen. Beim Umzug in die Wohnung im Oktober war Paul schon nicht mehr richtig ansprechbar. Er zog sich zurück, redete kaum. Manchmal hatte er Momente, als ginge ihm ein Licht auf, was in ihm vorging. Einmal flehte er sie an: «Geh mit mir in den Wald und bring mich um! Lass es aussehen wie ein Unfall! Ich halte es nicht mehr aus.» Kurz darauf hatte er das Sprechen verlernt.

«Ich musste mir selbst helfen, aber ich hatte doch überhaupt keine Ahnung.»

Claudine Balch*

Kein Arzt habe sie auf das Unglück vorbereitet, das über sie hereingebrochen sei. «Ich musste mir selbst helfen, aber ich hatte doch überhaupt keine Ahnung», sagt Claudine Balch. Das erste Dreivierteljahr nach der Diagnose war die Hölle. Sie wusste nicht, welche Hilfsangebote es gab, hatte keinerlei Unterstützung. Wenn sie nicht mehr konnte, sperrte sie Paul in ein Zimmer ein, hielt sich die Ohren zu, heulte. Einmal rief sie bei der Schweizerischen Alzheimervereinigung an. Das half. Sie bekam Ratschläge, konnte sich ausweinen. Sie begann auch, mit Bekannten und Nachbarn über Pauls Zustand zu reden. Sie hörte auf, sich dafür zu schämen. Sie zeigte sich mit Paul, ging mit ihm spazieren oder einkaufen. Auch das half, dem Unglück den Schrecken zu nehmen.

Seit einigen Monaten verbringt Paul jeden Montag in einer Tagesstätte. An drei Tagen in der Woche kommen ausserdem zwei Frauen für einige Stunden vorbei, um mit Paul spazieren zu gehen. Beides zahlt Claudine Balch aus eigener Tasche. Abgesehen von diesen kleinen Freiräumen ist sie rund um die Uhr damit beschäftigt, sich um ihren Mann zu kümmern. Sie leben von seiner Invalidenrente; der Kanton Freiburg legt 25 Franken Pflegegeld pro Tag dazu. «Das ist eigentlich ein Witz», findet sie. «Aber ich will nicht klagen. Andere Kantone zahlen überhaupt nichts.»

Ein Heim? Kommt nicht in Frage!

Hätte sie mehr Geld, würde sie sich mehr Freiräume gönnen, vielleicht einen zusätzlichen freien Nachmittag. Sie hat das Gefühl, dass die Krankheit ihre ganze Energie verzehrt. Immer öfter schmerzt ihr Körper. Trotzdem will sie Paul auf keinen Fall in ein Heim geben. Egal, wie schlimm es noch wird. «Ich würde das nicht übers Herz bringen.»

Irgendwann im Verlauf des Gesprächs sagt Claudine Balch: «Ich darf nicht darüber nachdenken, wie das Leben verlaufen wäre, wenn ich nicht …» Sie beendet den Satz nicht. Nun, da sie ihre Geschichte zu Ende erzählt hat, sagt sie mit fester Stimme: «Ich bereue nichts.» Sie schaut ihren Paul lange an. Er reagiert nicht, starrt nur gegen die Wand.