Bei der IV ist seit der fünften Gesetzesrevision 2008 die Sparwut ausgebrochen. Neue Renten werden nur noch zurückhaltend bewilligt, alte seit 2012 strenger überprüft. Dafür mehren sich die Berichte über wundersame Heilungen: Kranke, die jahrelang eine Rente bezogen haben, haben plötzlich keinen Anspruch mehr auf IV-Gelder.

Möglich machen das die medizinischen Abklärungsstellen (Medas), die Patienten begutachten. Häufig leben die Medas fast ausschliesslich von Aufträgen der IV. Nach einer solchen Begutachtung sind Beschwerden bei den Patienten oft entweder nicht mehr vorhanden oder einfach nicht nachweisbar. Da es ja Fachleute sind, die das beurteilen, gibt es an den Einschätzungen auch keinen Zweifel.

Wie das Gericht Kranke gesund macht

Zumindest war das bis vor kurzem so. Nun geht die IV noch einen Schritt weiter: Auch wenn sich sogar die eigenen Gutachter einmal für eine Rente aussprechen, kann sie deren Meinung übergehen – und zwar mit dem Segen des Bundesgerichts. Dieses urteilte im Sommer über den Fall einer Justiererin, die die Medas-Ärzte wegen Kopfschmerzen und Depression als nur teilweise arbeitsfähig bezeichneten. Die IV lehnte eine Rente trotzdem ab – und erhielt Schützenhilfe vom höchsten Gericht. Es sei nicht an den Ärzten, zu entscheiden, ob ein medizinisches Leiden zu Arbeitsunfähigkeit führe, sondern an der «rechtsanwendenden Stelle», also an der IV-Stelle oder an einem Gericht. Die Götter in Schwarz lösen offiziell die Götter in Weiss ab.

Was das bedeutet, muss jetzt auch Dominik Wiederkehr erfahren. Der gelernte Polygraf aus Rorbas ZH leidet an Narkolepsie. Den Betroffenen fehlen im Hirn Botenstoffe, die den Tag-Nacht-Rhythmus regulieren und nicht künstlich zugeführt werden können. Egal, ob und wie lange Wiederkehr geschlafen hat: Kurz nach dem Aufstehen ist er so müde, dass er in Tiefschlaf fallen könnte. Oft passiert das auch. Dann kann ihn kein Wecker aus dem Schlaf reissen. Er verpasst Termine, kommt zu spät, ruft nicht zurück. Mit Ritalin und Sport hält er sich wach.

«Es ist wie ein ewiger Jetlag»

«Manchmal kann ich auch mehrere Nächte nicht schlafen. Dann kommt der Rhythmus erst recht durcheinander. Es ist wie ein ewiger Jetlag», sagt der 38-Jährige. Er spricht schnell, viel und ausschweifend. Beim Treffen mit dem Beobachter hat er drei schlaflose Nächte hinter sich, verliert bisweilen den Faden, wiederholt sich. Seine Aussprache ist undeutlich, die Gedanken scheinen schneller zu sein als seine Zunge. Die Worte sprudeln aus ihm heraus. «Reden, reden, reden. Das ist meine Methode, um wach zu bleiben. Andere irritiert das manchmal.»

In der Arbeitswelt kann Dominik Wiederkehr schon lange nicht mehr bestehen. Erste Krankheitsanzeichen bemerkt er vor 15 Jahren, als er während der Arbeit am Bildschirm immer öfter einschläft. Er verliert eine Stelle nach der anderen. 2004 findet man am Zentrum für Schlafmedizin in Zürich heraus: Er hat Narkolepsie, möglicherweise als Spätfolge eines Unfalls in der Kindheit, als ihm ein umstürzendes Fussballtor Stirnplatte und Gesicht zerschmetterte. Beweisen lässt sich das nicht mehr. «Ich fühlte mich nach der Diagnose trotzdem erleichtert. Nach jahrelangem Rätseln gab es endlich einen Grund für meine Müdigkeit.»

Doch als Polygraf ist er arbeitsunfähig. Als er 2005 wieder einen Job verliert, stellt ihn sein Vater, der ehemalige Nationalrat Roland Wiederkehr, in der von ihm mitgegründeten und geführten Stiftung RoadCross an, die sich für mehr Verkehrssicherheit engagiert. Der Vater will verhindern, dass sein Sohn zum IV-Fall wird.

Dominik Wiederkehr hält in Berufsschulen Vorträge zur Unfallprävention. Er hat einen guten Draht zu den Schülern, aber immer öfter kommt er zu spät oder gar nicht. Mitte 2008 geht es nicht mehr, sein Vater muss ihn entlassen. Der RoadCross-Stiftungsrat diskutiert gar darüber, ob er einen Teil des Lohns rückwirkend zurückzahlen soll, verzichtet dann aber darauf.

Der IV-Arzt hielt Ritalin für Drogen

Anfang 2009 meldet sich Dominik Wiederkehr bei der IV an, beantragt eine Umschulung. Es folgen jahrelange Abklärungen, ärztliche Untersuchungen und Stellungnahmen. Dabei passieren Fehler, die Wiederkehr zermürben. So unterstellt ihm ein IV-Arzt Drogenabhängigkeit – weil er Ritalin mit Amphetamin verwechselt, wie ein Spezialarzt später klarstellt.

Immerhin: Alle Ärzte bestätigen die Narkolepsie, ein Psychiater stellt zudem eine narzisstisch-neurotische Persönlichkeitsstörung fest, die ihm bei der Bewältigung der Krankheit im Weg stehe. Die Ärzte empfehlen eine abwechslungsreiche Tätigkeit, vorzugsweise im Freien, mit der Möglichkeit, sich hinzulegen, wenn Schlafattacken kommen. Doch alle Versuche als Gärtner oder Tierpfleger scheitern. Wiederkehr schafft es nicht, Verpflichtungen und Termine einzuhalten.

2012 bricht die IV die beruflichen Massnahmen ab und gibt ein weiteres Gutachten in Auftrag, diesmal bei einer Medas. Diese bestätigt die Diagnosen. Der Psychiater hält fest, dass die Kombination von Narkolepsie und Persönlichkeitsstörung zu einer deutlichen Einschränkung führe. Das Fazit: Wiederkehr sei nur zu 50 Prozent arbeitsfähig. Der IV-Arzt des regionalärztlichen Dienstes teilt die Ansicht.

Doch die IV, die den Medas-Empfehlungen sonst so gern folgt, wenn diese in ihrem Sinn sind, sieht das anders: In einer schludrig abgefassten Verfügung voller Rechtschreibfehler, Falschangaben und Namensverwechslungen schreibt die IV-Stelle Zürich, Wiederkehr sei in angepasster Tätigkeit voll arbeitsfähig. Er habe zwischen 2005 und 2008 ja drei Jahre lang arbeiten können.

«Entscheid ist nicht ideal begründet»

Eine abenteuerliche Argumentation, zumal die Zeit bei RoadCross der beste Beweis dafür ist, dass ihm das eben nicht gelingt. Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich bestätigt formale Fehler. Die Verfügung habe «Entwurfcharakter», so Mediensprecherin Daniela Aloisi. «Sie wurde wohl nicht gegengelesen, bevor sie rausging.» Der Entscheid sei «nicht ideal begründet» und wäre besser mündlich eröffnet worden. Inhaltlich sei er aber korrekt. Aus den Akten gehe klar hervor, dass eine Arbeitsfähigkeit von 80 bis 100 Prozent erreichbar wäre. «Aus der Sicht des Rechtsanwenders gibt es keinen Rentenanspruch.» Auch die diagnostizierte Persönlichkeitsstörung schränke die Leistungsfähigkeit nicht ein. «Die psychiatrischen Befunde waren weitgehend unauffällig. Der Kunde wäre voll erwerbsfähig, wenn die Narkolepsie richtig therapiert würde.»

Wäre, würde. Für Dominik Wiederkehr ist unerheblich, ob die Narkolepsie theoretisch therapiert werden könnte: Faktisch gelingt es ihm nicht. Er hat Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht eingereicht. «Egal, was ich versuche, die Schlafattacken kann ich nicht steuern.» Laut Gutachten ist es die Kombination der beiden Krankheiten Narkolepsie und Persönlichkeitsstörung, die ihn einschränkt. Für die IV zählt diese ärztliche Meinung aber nicht. In der Verfügung heisst es: «Die abschliessende Beantwortung der Arbeitsfähigkeit ist rechtlicher Natur und obliegt nicht den Ärzten.»

Das liegt ganz auf der Linie des Bundesgerichts. Viele Geschädigtenanwälte kritisieren diese Rechtsprechung scharf. Der Zürcher Rechtsanwalt Philip Stolkin hat das Urteil an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergezogen. «Unglaublich, was sich die Kollegen anmassen», sagt er. «Gutachten sind Beweise, ergründet mit medizinischem Fachwissen, das Juristen abgeht. Wenn die Juristen sich hier einmischen, beeinflussen sie die Beweisführung in ihrem Sinn und verletzen das Recht auf ein faires Verfahren.»