Ein unaufmerksamer Automobilist, eine Kollision – schon war Susanne Walter ein «Fall»: Beim Zusammenprall im Oktober 2001 erlitt sie ein schweres Schleudertrauma. Die Ärzte waren ratlos, wussten gegen die rasenden Kopf- und Nackenschmerzen kein anderes Rezept als starke Medikamente. An eine Rückkehr in ihren Beruf als Spitex-Hauspflegerin war auf unbestimmte Zeit nicht zu denken. Stattdessen türmten sich um die Mutter zweier Kinder aus Birmensdorf ZH bange Fragen auf: Werde ich wieder gesund? Zahlen die Versicherungen? Die Abwärtsspirale begann sich zu drehen: Früher oder später enden gesundheitlich lädierte und zugleich überforderte Menschen meist als Rentner der Invalidenversicherung (IV).

Wieder auf eigene Verantwortung leben
Bei der heute 44-jährigen Frau gab die Versicherung des Unfallverursachers jedoch Gegensteuer zur Einbahnfahrt in Richtung IV. Die Elvia übergab den Fall der Activita Care Management AG in Uster. Diese Firma wendet eine Methode an, die als wirksamstes Rezept gegen die explodierenden Invaliditätskosten gilt: das Case-Management. Dabei ist für jeden Patienten ein Fallbetreuer zuständig, der die Massnahmen für rasche Wiedereingliederung in die Arbeitswelt koordiniert. Seit November 2002 arbeitet Walter mit 50-Prozent-Pensum als Verkäuferin in einem Orthopädie-Fachgeschäft. Ohne Schmerzmittel kommt sie zwar auch heute noch nicht aus, doch wichtig ist ihr vor allem eins: «Ich bin wieder selber für mich verantwortlich.»

Nötig ist dazu eine vernetzte Zusammenarbeit der üblicherweise isoliert agierenden Akteure rund um Unfall- und Krankheitsfälle, also von Ärzten, Versicherungen, Arbeitgebern und Ämtern. Bisher konnte die Activita fast der Hälfte ihrer Klienten wieder zu einer vollen, einem weiteren Fünftel zu einer teilweisen Berufstätigkeit verhelfen.

Für Susanne Walter organisierte die Case-Managerin Lisa Rothen als Erstes eine Haushalthilfe und klärte die drängenden Fragen bezüglich Versicherungen und Arbeitsplatz ab. «Mir wurden alle äusseren Belastungen abgenommen», erinnert sich die Betreute. «Deshalb konnte ich meine Energie darauf verwenden, wieder gesund zu werden und mich mit meiner beruflichen Zukunft zu befassen.»

«Ohne diese aktiven Bemühungen zur Rehabilitation hätte ihr eine volle Invalidität gedroht», so die Einschätzung von Case-Managerin Rothen – mit teuren Folgen für die Versicherung: Jeder nicht ausreichend betreute Patient mit Halswirbelsäulenverletzungen erzeugt laut Schweizerischem Versicherungsverband im Schnitt Kosten von einer halben Million Franken. Pro Jahr gibt es in der Schweiz rund tausend solcher chronischer Fälle.

Die modernen Methoden sparen Geld
Aufgrund internationaler Erfahrungen gehen Fachleute wie der Rechtsanwalt Hans Schmidt davon aus, dass sich bei einer konsequenten Anwendung von Case-Management etwa ein Fünftel der durch Invalidität verursachten Versicherungskosten einsparen liesse (siehe Artikel zum Thema «Wiedereingliederung: «Die IV macht zusätzlich krank»»). Kein Wunder, steht das im angelsächsischen Raum längst verankerte Case-Management nun auch hierzulande in Fachkreisen hoch im Kurs.

So neu die Methode ist, so wohl bekannt ist ihr Leitgedanke: «Eingliederung vor Rente» ist seit je der Grundsatz der Invalidenversicherung. Doch wirksam ist das hehre Prinzip kaum noch. Das Hauptproblem der IV ist, dass sie viel zu spät ins Spiel kommt. Im Schnitt vergehen 18 Monate vor allem mit rein medizinischen Abklärungen, bevor Erkrankte oder Verunfallte sich bei ihr anmelden – meist zu spät für Alternativen zur Rente.

«Bei einer so langen Absenz von der Erwerbstätigkeit steuern die Chancen auf eine Wiedereingliederung stramm auf den Nullpunkt zu», sagt Experte Schmidt, ein pointierter Kritiker des schwerfälligen IV-Systems: «Ein Betroffener muss in einem oft jahrelangen Verfahren beweisen, dass er krank ist. So kann er nicht gesund werden.» Abhilfe soll da die 5. IV-Revision schaffen (siehe Artikel zum Thema «5. IV-Revision: Wie Pascal Couchepin die IV retten will»). Doch bis Massnahmen zur Früherkennung greifen, werden noch Jahre vergehen. Bis dahin wird die IV weiterhin mit Negativrekorden aufwarten: 2003 wies die Statistik über 270'000 IV-Rentner aus, und die Gesamtausgaben überschritten erstmals die 10-Milliarden-Grenze.

Wer einmal den Stempel «invalid» aufgedrückt erhielt, hat schlechte Karten für die Zukunft. Anders als bei gesunden Arbeitslosen, die in der Regel innert nützlicher Frist wieder eine Stelle finden, endet für IV-Rentner das Erwerbsleben mitunter schon in jungen Jahren abrupt. Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel der querschnittgelähmten Unfallopfer im von Guido Zäch aufgebauten Paraplegiker-Zentrum Nottwil. 95 Prozent der Patienten, die vor dem Unfall berufstätig waren, finden den Weg zurück in die Arbeitswelt. Möglich macht dies das klinikeigene Institut für Berufsfindung (IBF).

Institutsleiter Karl Emmenegger besucht die Unfallopfer bereits in der Intensivstation. «Es ist hart, unmittelbar nach dem Schicksalsschlag an die berufliche Zukunft zu denken», räumt er ein. Aber frühe Abklärungen seien entscheidend für den Erfolg: «Warten auf bessere Zeiten – das können sich nur Nichtbehinderte leisten.»

Die Aussichten sind stark berufsabhängig. Eine Anwältin kann im Rollstuhl arbeiten – ein Dachdecker nicht. Alain Tuor hatte eben eine Elektromonteurlehre begonnen, als er verunfallte. Am IBF konnte sich der Jugendliche mit verschiedenen Berufen vertraut machen. Er entschied sich für eine Lehre als Konstrukteur. Tuor, heute im dritten Lehrjahr, ist zufrieden: «Ich bin technisch sehr interessiert und fühle mich unter den Arbeitskollegen extrem wohl.» Die IV zahlt ihm knapp einen Drittel des Lehrlingslohns, bis er die Lehre abgeschlossen hat.

«Gesunde können ihren Lebenssinn auch in der Freizeit finden, für Behinderte hat die Arbeitswelt einen viel höheren Stellenwert», weiss Emmenegger, selber querschnittgelähmt, aus eigener Erfahrung. «Was würden Sie gerne tun?», lautet seine Schlüsselfrage an die Klienten. Ist der Berufswunsch realistisch, sucht Emmenegger nach allen möglichen Wegen, die zum Ziel führen könnten. Da kann der Weg zum Grafiker auch schon mal über einen Malaufenthalt in Rom führen.

«Das zahlt die IV natürlich nicht», sagt Emmenegger, «ihre Mitarbeiter müssen sich an schematische Vorschriften halten.» Dank Spendengeldern der Schweizer Paraplegiker-Stiftung kann er solche Ausbildungen oft trotzdem ermöglichen. Auch sein neuestes Projekt ist nur teilweise vom Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) finanziert: ein Callcenter, das er mit der Firma BNS Group in Nottwil betreibt.

Die Versicherungen können sparen
Emmeneggers Rezept: «Meine Patienten bleiben für sich selbst verantwortlich. Ich fördere sie, aber ich fordere sie auch.» Die IV kläre dagegen sehr lange die Defizite der gesundheitlich Angeschlagenen ab. «Das lähmt die Eigeninitiative.»

Zwar betreiben auch die kantonalen IV-Stellen Jobvermittlung. Eine verbindliche Gesetzesgrundlage dafür gibt es aber erst seit Anfang 2004 mit dem Inkrafttreten der 4. IV-Revision.

Doch um diesen Auftrag auch wirksam umzusetzen, mangelt es an den Ressourcen: Statt zusätzlicher 200 Personenstellen, wie es die IV-Stellen-Konferenz (IVSK) für notwendig erachtet hatte, bewilligte das BSV nur deren 30. «Das macht die aktive Arbeitsvermittlung für Menschen mit einer Behinderung zu einer Mission impossible», lautet dazu der spitze Kommentar von IVSK-Präsident Andreas Dummermuth.

Tatsächlich ist die Angst des BSV vor zusätzlichen Initialkosten unbegründet: Ein Pilotversuch der IV-Stelle Luzern hat ergeben, dass unter dem Strich pro Arbeitsvermittler jährliche Einsparungen von 625'000 Franken für die Invalidenversicherung resultieren.

Schneller mahlen die privaten Mühlen. Aufgeschreckt durch die ungebremst zunehmende Invalidisierung, setzt etwa bei den Krankentaggeldversicherern ein Umdenken ein. Ein Beispiel: Der Heizungsspezialist Michael Brunner (Name geändert) leidet an Agoraphobie. Darunter versteht man vereinfacht gesagt das Gegenteil von Platzangst: Die unbekannte Weite verunsichert, kann Panikattacken auslösen. Seine Arbeit verrichtete Brunner zum grössten Teil auswärts bei immer neuen Kunden. Dies verschlimmerte das Leiden, die Anfälle wurden heftiger.

Die Versicherung Helsana beschränkte sich nicht auf die Auszahlung von Krankentaggeldern. Sie ging auf Brunner zu und bot ihm die Dienste eines Stellenvermittlungsbüros an. Bereits nach vier Monaten fand er eine Stelle in einem Spital, wo er innerhalb des zwar grossen, für ihn aber doch überschaubaren Betriebs arbeiten kann. Die Helsana betreibt die berufliche Wiedereingliederung ihrer Klienten seit drei Jahren aktiv. Die Bilanz kann sich sehen lassen: «Jede dritte Person kann wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert werden», so Helsana-Sprecher Christian Beusch. Das rechnet sich für die Versicherung: Letztes Jahr sparte sie rund eine Million Franken Krankentaggeld.

Von neuen Ansätzen im Umgang mit Erkrankten profitierte auch der Winterthurer Daniel Jaberg: vom Case-Management der Integrierten Psychiatrie Winterthur (IPW). Sie wendet die Methode erstmals in der Schweiz an, um Menschen mit psychischen Problemen – Hauptwachstumsfaktor der IV – die berufliche Reintegration zu ermöglichen. Jaberg wurde von einer schweren Depression erst aus der Bahn, dann aus dem Job als technischer Zeichner geworfen. Im Sommer 2003 wurde er nach mehreren Klinikaufenthalten an den Case-Manager Klaus Raupp überwiesen. Gemeinsam wurden die Probleme, die sich aufgetürmt hatten – von der Schuldensanierung bis hin zur Klärung der beruflichen Situation –, in Angriff genommen.

Stärken statt Schwächen aufzeigen
Die IPW-Case-Manager sind nicht therapeutisch tätig, sondern organisieren und koordinieren Dienstleistungen für ihre Klienten. Der positive Effekt bleibt nicht aus: «Mir wurde gezeigt, was ich noch kann», sagt Daniel Jaberg. Der behutsame Steigerungslauf des 39-Jährigen zurück in die Normalität trägt nach einem Jahr im Programm zusehends Früchte. Den Trainings im geschützten Rahmen soll bald die Bewährung im Arbeitsmarkt folgen.

Jaberg ist optimistisch, bald wieder stabil genug zu sein für eine Arbeitswelt, die in den letzten Jahren immer einseitiger auf Effizienz getrimmt wurde und so viele Überforderte in die IV drängte. Während noch vor wenigen Jahren in den meisten Firmen nicht mehr voll leistungsfähige Mitarbeiter weiterbeschäftigt wurden, musterten in letzter Zeit selbst staatlich kontrollierte Grossbetriebe beschränkt einsatzfähige Arbeitskräfte aus. Immerhin: Bei den SBB knüpft man inzwischen mit modernen Organisationsformen wieder an die frühere soziale Tradition an. Das Servicecenter «anyway solutions» bietet knapp 50 Arbeitsplätze für Mitarbeiter mit gesundheitlichen Problemen.

Für die SBB rechnet sich das Projekt
Eine der zwei Werkstätten liegt in Dulliken SO. 13 Mitarbeiter erledigen hier Arbeiten aller Art für die anderen SBB-Abteilungen: Sie waschen und flicken Güterzugplachen, bereiten Bauteile für Masten und Stromkabel für die Montage vor. Dazu kommen Recyclingaufträge für die SBB und private Firmen. «Die Mitarbeiter sind weniger oft krank, seit sie bei ‹anyway› arbeiten», sagt Projektleiter Elmar Perroulaz. Der Arbeitsdruck ist geringer, und sie müssen sich nicht mehr dauernd gegenüber mehrheitlich gesunden Kollegen rechtfertigen. Sie bleiben aber normale SBB-Angestellte ohne Sonderstatus. «Ohne ‹anyway› würden die meisten Mitarbeiter früher oder später Vollrentner der IV», so Perroulaz.

Die Wirtschaft hat allen Grund, gegen die Invalidisierung der Mitarbeiter anzukämpfen: Wer eine Rente der staatlichen IV erhält, hat in der Regel auch Anrecht auf eine Invalidenrente der Pensionskasse. Und diese wird mindestens zur Hälfte vom Arbeitgeber finanziert. Bei den SBB zum Beispiel kommen auf hundert Angestellte fast neun Invalide. 58 Millionen Franken Rente zahlte die Pensionskasse der SBB 2003 an 1700 Voll- und 700 Teilinvalide aus – eine der Hauptursachen für die gravierende Unterdeckung der PK.

Generell reissen Invaliditätsleistungen immer grössere Löcher in die Pensionskassen. Gesamtschweizerisch wurden im Jahr 2002 Rentenzahlungen von 1,99 Milliarden Franken aus der beruflichen Vorsorge entrichtet. Von Jahr zu Jahr steigt dieser Posten um rund zehn Prozent, womit die Wachstumsraten sogar noch höher sind als bei der staatlichen IV. Ein Wink an Unternehmer mit kurzsichtiger Sparoptik: Nicht mehr voll produktive Mitarbeiter über den «blauen Weg» loszuwerden rächt sich durch steigende PK-Prämien.