Dicke Post für Regula Kaiser (Name geändert): «Unsere Abklärungen haben ergeben, dass Sie aufgrund Ihrer finanziellen Verhältnisse in der Lage sind, den einmaligen Betrag von 3400 Franken zurückzuerstatten», schreibt ihr der Kantonale Sozialdienst Aargau am 23. Juli 2007. Die ehemalige Sozialhilfebezügerin kann es nicht fassen. Sie ist Mutter und Hausfrau ohne Einkommen und Vermögen - wie soll sie das Geld auftreiben?

Der Sozialdienst argumentiert, sie habe ja nun im Rahmen der ehelichen Unterstützungspflicht gegenüber ihrem Mann Anspruch auf einen Betrag zur freien Verfügung. Deshalb und im Hinblick auf die Gesamteinkommenssituation gehe man davon aus, «dass Einkommen zur Verfügung steht, das für eine Rückerstattung eingesetzt werden kann». Regula Kaiser wehrt sich: Es könne doch nicht angehen, dass ihr Ehemann für ihre vorehelichen Schulden aufkommen müsse.

Tatsächlich besagt ein Bundesgerichtsentscheid, dass der Betrag zur freien Verfügung nicht zur Tilgung vorehelicher Schulden gepfändet werden kann. Rückforderungen zwangsweise zu vollstrecken ist deshalb nicht möglich. «Das ist uns bekannt», sagt Kurt Jenni, Abteilungsleiter des Kantonalen Sozialdienstes Aargau. Im Oktober 2007 habe man dazu bei der Hochschule Luzern eine Rechtsmeinung eingeholt. «Es sollte seither nicht mehr vorkommen, dass wir bei der Rückerstattung von Sozialhilfe mit der ehelichen Unterstützungspflicht argumentieren», so Jenni.

Ähnliche Fälle sind dem Beobachter aus dem Kanton Thurgau bekannt. So wollte das Sozialamt in Arbon Geld von Susanne Gunzenreiner eintreiben, ebenfalls eine ehemalige Sozialhilfebezügerin ohne eigenes Einkommen und Vermögen. Sie sollte monatliche Raten von Fr. 437.50 zahlen. Die Begründung: «Die Zumutbarkeit der Rückerstattung wird auf der Basis der Ist-Situation beurteilt, dabei ist auch die Einkommenssituation des Ehemannes zu berücksichtigen.» «Ein Irrtum», sagt Thomas Geiser, Privatrechtsprofessor an der Universität St. Gallen: «Rückerstattungspflichtig ist ausschliesslich die ehemalige Sozialhilfebezügerin. Die Mittel des Ehemannes dürfen keine Rolle spielen.»

Das sah man beim Departement für Finanzen und Soziales, wo das Ehepaar Zessack-Gunzenreiner Rekurs einlegte, allerdings anders und gab Arbon Rückendeckung: «Es ist richtig, für die Zumutbarkeit der Rückerstattung auf das Einkommen des Gesamthaushaltes abzustellen», entschied die Behörde. Aus der Budgetberechnung gehe ein Einkommensüberschuss hervor, der eine Rückerstattung in Raten zumutbar mache.

Weil sich Susanne Gunzenreiner kurz nach diesem Entscheid scheiden liess, musste ihre Situation neu beurteilt werden, wodurch eine höchstrichterliche Klärung ausblieb.

Dass es überhaupt zu Fällen kommen kann, bei denen Bundesgerichtsentscheide umschifft werden, liegt an einem grundsätzlichen Problem: In der Schweiz fehlt eine einheitliche gesetzliche Regelung, ein sogenanntes Bundesrahmengesetz für die Sozialhilfe. Die einzige nationale Referenz sind die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Diese haben jedoch blossen Empfehlungscharakter. Jeder Kanton, ja teilweise jede Gemeinde, kann somit selbst festlegen, wann und ob Sozialhilfe zurückgezahlt werden muss.

Die Handhabung variiert stark: Während die Rückerstattung im Kanton Genf gänzlich abgeschafft wurde, fordern die Sozialämter in St. Gallen bereits Rückzahlungen, «wenn sich die finanzielle Lage der unterstützten Person gebessert hat und die Rückerstattung zumutbar ist», wie es im kantonalen Sozialhilfegesetz steht. Mit dem Kriterium der Zumutbarkeit argumentiert man auch im Thurgau und im Aargau und legitimiert damit Rückerstattungsforderungen aus Erwerbseinkommen, die knapp über 3000 Franken liegen.

Rückerstattung in gewissen Fällen
Auch die SKOS-Richtlinien sehen eine Rückerstattung vor, aber nur in folgenden Situationen: bei grösserem Vermögensanfall wie Erbschaft oder Lotteriegewinn, bei vorhandenem, aber nicht sofort verwertbarem Vermögen - und natürlich bei widerrechtlichem Leistungsbezug. Hingegen sollen «aus späterem Erwerbseinkommen grundsätzlich keine Rückerstattungen geltend gemacht werden», erklärt dazu Ueli Tecklenburg, Geschäftsführer der SKOS: «Das wäre gegen den Anreiz, wieder Arbeit zu finden. Und ein Damoklesschwert über jedem, der aus der Sozialhilfe raus ist.»

Ein weiteres Mittel, das von Gemeinden eingesetzt wird, um an Geld zu kommen, ist die sogenannte Schuldanerkennung. Maria Müller (Name geändert) bekam eine solche von den Sozialen Diensten der thurgauischen Gemeinde Aadorf zugeschickt, notabene sieben Jahre nach ihrem letzten Sozialhilfebezug. «So bestimmt, wie das formuliert war, hätte ich sofort unterschrieben, wenn mir nicht der Beobachter eingefallen wäre», erzählt die Hausfrau, die kein eigenes Einkommen und auch kein Vermögen hat.

Hätte sie unterschrieben, könnte der Sozialdienst weitere 15 Jahre lang versuchen, bei ihr die insgesamt 37'530 Franken einzutreiben, die sie von 1998 bis 2000 bezogen hat. Denn eine Schuldanerkennung unterbricht die Verjährungsfrist, und diese beginnt wieder von neuem. «Wer eine Schuldanerkennung unterschreibt, kann sich nicht mehr wehren. Es ist in der Hand der Sozialdienste ein Rechtstitel, der direkte Betreibungen ermöglicht», wie Toni Wirz, Leiter des Beobachter-Beratungszentrums, erklärt. Könne eine Rückerstattung nicht auf gütlichem Weg vereinbart werden, müsse die Behörde eine beschwerdefähige Verfügung samt Rechtsmittelbelehrung erlassen. «Dann kann der Betroffene Rekurs einlegen, wenn er nicht einverstanden ist.»

Das Parlament ist gefordert
«Wir wissen um die Abweichungen in der Praxis», so Ueli Tecklenburg, «aber wir haben weder Aufsichtskompetenz noch Weisungsrecht.» Es brauche eine Ombudsstelle oder das Bundesrahmengesetz. «Die Sozialhilfe muss eidgenössisch geregelt werden», sagt auch Nationalrätin Jacqueline Fehr, «nur so schaffen wir vergleichbare Verhältnisse.» Die Situation sei hochproblematisch, das Gleichheitsgebot der Verfassung werde grob verletzt. Doch fehle von bürgerlicher Seite der Wille, das zu ändern: «Wir werden uns aber weiter dafür starkmachen, zusammen mit der SKOS und vor allem mit den Sozialdirektoren der Kantone.» Kathrin Hilber, Präsidentin der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren: «Wir warten auf einen konkreten Vorschlag. Erst dann können wir eine abschliessende Meinung abgeben.» Dass die Unverbindlichkeit der SKOS-Richtlinien problematisch ist, sei ihr bewusst: «Wir müssen einen Schritt machen.»