Wer in der Schweiz einen Arzt oder eine Klinik aufsucht, nimmt an, dass dort alles getan wird, was zur Heilung beitragen könnte. Schliesslich legt jeder Mediziner das vom Weltärzteverbund 1948 beschlossene Genfer Gelöbnis ab: «Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.» Und auch die Bundesverfassung verspricht: «Bund und Kantone setzen sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür ein, dass jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält.»

Tatsächlich jedoch verlieren immer mehr Menschen in der Schweiz den Zugang zu «notwendiger Pflege». Wer nicht zahlen kann, wird allen Schwüren und hehren Worten zum Trotz zum Patienten zweiter Klasse.

405'000 Versicherte wurden betrieben

Daniela Bühler* aus Winterthur zum Beispiel, dreifache Mutter um die vierzig, seit sieben Jahren Witwe. Zwei ihrer Kinder sind noch in Ausbildung. Die Putzjobs, mit denen sie ihre Familie über Wasser hält, schiessen ihr in den Rücken; wenn er zu stark schmerzt, muss sie zu Hause bleiben, doch dann fehlt bald das Geld. «Die Krankenkassenprämien für die Kinder bezahle ich immer», sagt sie. Für ihre eigene Gesundheit reicht das Haushaltsbudget dagegen häufig nicht aus – die Rechnungen bleiben liegen. Den Therapeuten, den ihr der Hausarzt wegen des Rückens empfohlen hat, sucht sie aus Angst vor weiteren Kosten gar nicht erst auf.

Mittlerweile betrifft jede fünfte Betreibung in der Schweiz die Forderung einer Krankenkasse. Laut Bundesamt für Gesundheit wurden 2011 405'039 Versicherte von ihrer Krankenversicherung betrieben. Obwohl im Jahr 2011 4,26 Milliarden Franken Prämienverbilligungen ausbezahlt wurden. Bis Anfang 2012 verhängten Krankenkassen kurzerhand einen Leistungsstopp, wenn Versicherte ihre Prämien nicht bezahlten. Weil es jedoch immer wieder zu dramatischen Fällen von unterversorgten Patienten kam, revidierte der Bund das Krankenversicherungsgesetz. Seit Anfang 2012 übernehmen die Kantone 85 Prozent der ausstehenden Prämien. Im Gegenzug ist es den Versicherern zwar nicht mehr erlaubt, Leistungsstopps zu verhängen. Doch dafür können Kantone Versicherte, die wegen ausstehender Prämien betrieben werden, auf schwarze Listen setzen, die von Ärzten, Kliniken, Therapeuten und Apotheken eingesehen werden können; wer darauf auftaucht, wird nur noch im Notfall behandelt. Das grosse Manko dieser Listen: Sie unterscheiden nicht zwischen Versicherten, die nicht bezahlen wollen, und jenen, die nicht bezahlen können.

Säumige Zahler «managen Budget falsch»

Rechtsbürgerliche Politiker kümmert das wenig. Vertreter der SVP forderten bereits 2009 die Aufhebung des Krankenkassenobligatoriums; die Idee, dass nur noch zum Arzt gehen können soll, wer seine Prämien bezahlt hat, findet inzwischen breite Anerkennung. So schrieb die Luzerner FDP-Kantonsrätin Romy Odoni, Mitinitiantin der schwarzen Liste im Kanton Luzern, in der entsprechenden Motion: «Stossend ist, dass Leute, die ihr Haushaltsbudget falsch managen, keinerlei Leistungseinschränkungen zu befürchten haben.» An Menschen, deren Budget zu gering ist, als dass es viel zu «managen» gäbe, schien sie nicht zu denken – in einem Leserbrief unterstellte sie säumigen Prämienzahlern dafür lieber pauschal, sie verjubelten ihr Geld: «Wer seine Prämie nicht bezahlt und dafür lieber in die Ferien fährt, kann das machen, hat aber keinen Anspruch auf medizinische Leistungen, ausser im Notfall.»

Nicht viel anders klingt es bei Urs Oehninger, dem Leiter des Betreibungsamts Regensdorf. Im «Zürcher Unterländer» verkündete er: «Wäre der Versicherungsschutz nicht obligatorisch, hätten jene, die das System ausnützen, einfach keinen Schutz mehr und wären auch selber schuld.»

Wer aber sind denn die Leute, die ihre Prämien nicht bezahlen? Und nützen sie tatsächlich alle das System aus? Mario Roncoroni, Mitarbeiter der Berner Schuldenberatung, kennt sie – 40 Prozent seiner Klienten haben Ausstände bei der Krankenkasse. Und klar, sagt Roncoroni, es gebe sie, die meist jungen Erwachsenen, die falsche Prioritäten setzten: «Sie denken: ‹Ich bin gesund, die Krankenkasse brauche ich im Moment nicht, ich zahle lieber die Miete und die Handyrechnung.› » Allerdings ist mit dieser Wahlfreiheit schnell Schluss: Wer wegen offener Prämienrechnungen betrieben wird und die Ausstände dennoch nicht begleicht, der wird gepfändet. Monate- oder gar jahrelang willentlich Geld für alles andere als die Krankenkasse auszugeben, wie es manche Politiker säumigen Versicherten vorwerfen, ist daher gar nicht möglich.

Manche wollen zahlen, aber können nicht

Ohnehin gehören die meisten Menschen, die ihre Krankenkasse nicht zahlen, zu den sogenannten Working Poor, arbeiten häufig auf Abruf und haben daher Schwierigkeiten, ein Budget zu erstellen und es einzuhalten. «Viele verdienen zu viel für die Sozialhilfe, aber zu wenig, um durchzukommen», sagt Mario Roncoroni.

Ein typischer Fall ist Martin Sommer*: Der 28-Jährige arbeitet im Stundenlohn im Gastgewerbe, besserte sein Einkommen bis vor einigen Monaten mit einem zweiten Job an einer Tankstelle auf. Als er den Tankstellenjob verlor, gerieten seine Finanzen in Schieflage. Die Freundin verliess ihn, Sommer ging unregelmässig zur Arbeit, öffnete wochenlang keine Briefe. Als er sich hilfesuchend an die Schuldenberatung wandte, schuldete er der Krankenkasse mehrere tausend Franken.

Für Schuldenberater Roncoroni ist klar: Setzen die Kantone säumige Versicherte auf die schwarze Liste, tun sie nichts anderes, als sie von der medizinischen Grundversorgung abzukoppeln – was einerseits eine fragwürdige Strafaktion gegen junge Menschen sei, die vorübergehend ihre Finanzen nicht im Griff hätten, und anderseits die wirtschaftlich Schwächsten drangsaliere: «Tatsache ist, dass so bereits viele Arme den Zugang zu gesundheitlichen Dienstleistungen verloren haben.»

Anteil der Stimmberechtigten, die Probleme haben, ihre Prämien zu zahlen. Im Jahr 2012 waren es 22 Prozent.

Quelle: Matthias Seifarth
Erst Bonität prüfen, dann behandeln

Tanja Krones, leitende Ärztin Klinische Ethik des Universitätsspitals Zürich, ist häufig in Fälle von Patienten involviert, die in finanziellen Schwierigkeiten stecken: psychisch und chronisch Kranke, Hochbetagte, Flüchtlinge. Obwohl im Kanton Zürich keine schwarzen Listen geführt werden, behandelt man auch an der Uniklinik Zürich Menschen mit Prämienausständen nur bei Notfällen. Weniger dringliche, aber medizinisch notwendige Massnahmen werden zurückgestellt, bis die Schulden beglichen sind. «Die finanzielle Situation eines Patienten hat Einfluss auf die Qualität seiner Behandlung», sagt Krones.

Wie schnell das Geld mittlerweile eine Rolle spielt, spüren auch Versicherte, die Monat für Monat ihre Prämien begleichen. Rolf Meier* etwa, wohnhaft im Aargau, einem jener Kantone, die künftig die Methode «schwarze Liste» einsetzen wollen. Meier bezahlt seine Kasse immer und ohne Verzögerung, fast 1000 Franken pro Monat für die ganze Familie. Als er kürzlich einen Arzt suchte, der sich der Hörbeschwerden seiner zwölfjährigen Tochter annehmen würde, telefonierte er sich die Finger wund: Ohne vorgängige Bonitätsprüfung, die einige Zeit in Anspruch nehmen könne, wollte man die Tochter nicht behandeln.

Und Martina Keller*, nach starken Rückenschmerzen zur Rehabilitation im Kantonsspital Bruderholz in Bottmingen BL, wurde an einem Freitagabend beinahe aus dem Spital geworfen, weil ihre Kasse den Aufenthalt nicht bezahlen wollte – Keller hatte aus Versehen 75 Rappen zu wenig Prämie eingezahlt (siehe Artikel «Patientin heimgeschickt», Beobachter Nr. 3/2013).

Ärzte reden nicht gern über diese Entwicklung. Der Hausärzteverband will sich nicht äussern, er verweist an die Verbindung Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH. Deren schriftliche Stellungnahme erstaunt. Obwohl der Kanton Thurgau seit 2007 eine schwarze Liste führt und ihm immer mehr Kantone folgen, schreibt Jürg Schlup, Präsident der FMH: «Schwarze Listen sind uns keine bekannt. Diese soll es angeblich in früheren Jahren gegeben haben.»

Tanja Krones vom Zürcher Unispital erklärt sich das Schweigen der Ärzte mit der herrschenden Verunsicherung. Die Gratwanderung zwischen der verlangten Kosteneffizienz und dem ärztlichen Ethos sei heikel. «Mit jeder Entscheidung, eine Untersuchung oder Behandlung aus Kostengründen nicht durchzuführen, betritt man als Ärztin eine rechtliche und ethische Grauzone», sagt sie. Und mit jeder geleisteten medizinischen Grundversorgung ausserhalb von Notfällen – die man dennoch als Notfall deklariere und durchführe, um dem Genfer Gelöbnis des Weltärztebunds zu folgen – riskierten Ärzte Ärger mit der Klinikleitung oder der Krankenkasse.

Es trifft als Erstes die Wehrlosen

Bea Schwager weiss, wovon Krones spricht. Als Leiterin der Sans-Papiers-Beratungsstelle Zürich sieht sie bei Menschen ohne gültige Papiere deutlich, wie weit die Realität hinter dem in der Bundesverfassung festgehaltenen Ziel hinterherhinkt, das für «jede Person» die «notwendige Pflege» vorsieht. «Gerade kürzlich wurde eine zweifache Mutter auf Druck der Administration aus einer psychiatrischen Klinik entlassen, obwohl ihr die Ärzte eine akute Suizidgefährdung attestierten», sagt Schwager. Die Frau war nicht krankenversichert. Dass die Beratungsstelle dabei war, der Patientin eine Versicherung zu verschaffen, kümmerte die Klinik nicht.

Ein anderer Fall ist Suzanne Malic*: Die 27-Jährige, die seit zwölf Jahren ohne geregelten Aufenthalt in der Schweiz lebt und als Putzfrau mehr schlecht als recht über die Runden kommt, verzichtet gänzlich auf medizinische Hilfe, auch für ihre elf Monate alte Tochter. Sie könnte die Kostenbeteiligung an der Arztrechnung genauso wenig zahlen wie ihre Krankenkassenprämie.

Für Ethikerin Tanja Krones sind solche Zustände unfassbar. Das Recht der Patienten, behandelt zu werden, ist für sie nicht verhandelbar – dass die Aufhebung des Krankenkassenobligatoriums diskutiert wird, macht sie ratlos. «Medizinische Versorgung zu erhalten ist ein Grundrecht und keine Frage individueller Präferenzen», sagt sie. «Wenn wir dieses den verletzlichsten Gruppen entziehen, begeben wir uns auf das Niveau eines Drittweltlandes.»

*Name geändert

Seit der Revision des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) dürfen die Kassen keine Leistungssperren mehr verhängen. Im Gegenzug übernehmen die Kantone 85 Prozent der mittels Verlustscheins belegten ausstehenden Beträge. Die Kassen können bei den Versicherten trotzdem 100 Prozent der Schulden einfordern – zahlen die säumigen Versicherten doch noch, müssen die Kassen 50 Prozent des Betrags dem Kanton abliefern, den Rest können sie behalten. Das heisst: Die Versicherungen können bis zu 135 Prozent ihrer Forderungen einholen.

Gleichzeitig mit der Revision des KVG wurde den Kantonen die Führung einer schwarzen Liste für säumige Zahler ausdrücklich erlaubt. Bereits vor der Gesetzesrevision hatte 2007 der Thurgau eine solche Liste eingeführt. Inzwischen erstellen auch Luzern, Zug, Schaffhausen, Solothurn und das Tessin Listen. Im Aargau und in Graubünden sind sie beschlossene Sache, St. Gallen will folgen.

Laut dem GFS-Gesundheitsmonitor 2012, erstellt im Auftrag von Interpharma, dem Interessenverband der forschenden Schweizer Pharmafirmen, möchten drei Viertel der Schweizer Bevölkerung am Krankenkassenobligatorium festhalten. Allerdings fand ein Wertewandel statt: 2010 bevorzugten 66 Prozent der Befragten ein Gesundheitswesen, in dem die gemeinschaftliche Verantwortung wichtiger ist als die Eigenverantwortung. 2012 waren es nur noch 39 Prozent.