Wochenlang beherrschte das Thema «Sozialhilfemissbrauch» die Medien, die Zeitungen überboten sich mit knalligen Schlagzeilen. Unter Titeln wie «Mit dem Porsche auf die Fürsorge» oder «Die frechste Fürsorge-Schwindlerin der Schweiz» schilderten sie in den vergangenen Monaten besonders krasse Fälle von Missbrauch. Fast täglich kam wieder ein neuer Betrug ans Licht. Überall wimmelte es von «Sozialschmarotzern», die auf Kosten der ehrlich arbeitenden Menschen in der Hängematte liegen oder manchmal dubiosen Nebengeschäften nachgehen. Seither scheint es, als wäre der Missbrauch der Sozialhilfe nichts als normal. «Diese Debatte über den Missbrauch hat alle Sozialhilfeempfänger einem Generalverdacht ausgesetzt», sagt Walter Schmid, Rektor der Hochschule für Soziale Arbeit in Luzern.

Eine Art Blitzableiterfunktion

Besser haben es diejenigen, die Steuern hinterziehen oder schwarzarbeiten - über sie spricht man nicht. Auch nicht über jene, die Schwarzarbeiter beschäftigen und so keine Sozialabgaben bezahlen. Für SVP-Nationalrat und Sozialpolitiker Toni Bortoluzzi ist sonnenklar, dass die einen sanktioniert gehören, die andern nicht: «Für mich gibt es da schon einen Unterschied, ob einer unrechtmässig Sozialhilfe bezieht oder schwarzarbeitet. Letzterer arbeitet wenigstens, während der andere nichts tut.» Franz Riklin, Strafrechtsprofessor an der Uni Freiburg, sieht das anders: «Für mich gibt es moralisch keinen Unterschied, ob jemand schwarzarbeitet oder zu Unrecht Sozialhilfe bezieht. In beiden Fällen wird dem Staat Geld entzogen, das ihm zusteht.» Dass die Mehrheit des Volkes trotzdem einen Unterschied macht, erklärt Riklin damit, dass Steuerhinterzieher, die dem Staat ein Schnippchen schlagen, ein höheres Sozialprestige geniessen als Sozialhilfebezüger, die für viele eine Art Blitzableiterfunktion haben - erst recht, wenn es sich um Ausländer handelt.

Neben der moralischen Frage gibt es in der ganzen Missbrauchsdiskussion noch eine andere - jene der Verhältnismässigkeit. Ihr ist in den vergangenen Monaten nie die Aufmerksamkeit zuteilgeworden, die ihr eigentlich gebührt. Konkret: Wie viel Geld geht dem Staat durch Missbrauch der Sozialwerke verloren? Ist der Schaden gleich hoch oder höher als jener, der durch Steuerhinterziehung entsteht?

Friedrich Schneider ist Professor für Volkswirtschaft an der Johannes-Kepler-Universität in Linz. Der Österreicher untersucht seit Jahren das Ausmass der Schattenwirtschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Für das Jahr 2007 schätzt er, dass in der Schweiz Schwarzarbeit im Umfang von knapp 37 Milliarden Franken geleistet wird, was einen leichten Rückgang von 0,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Umgerechnet sind das fast 500'000 Vollzeit-Arbeitsstellen. Das heisst, dass jeder zwölfte erarbeitete Franken nicht versteuert wird. «Mit der Schwarzarbeit werden dem Schweizer Staat knapp vier Milliarden Franken an Steuern und Sozialabgaben entzogen», sagt Schneider.

Der Schaden ist achtmal grösser

Die missbräuchlich bezogenen Renten und Sozialhilfegelder in Zahlen zu fassen ist schwieriger. Experten gehen davon aus, dass drei bis fünf Prozent der Sozialhilfegelder «erschlichen» werden. Im Jahr 2005 gab die Schweiz für «Sozialhilfe und Asylwesen» laut Bundesamt für Statistik gut 3,8 Milliarden Franken aus, davon drei Milliarden für Sozialhilfe. Das ergäbe bei einem Missbrauch von geschätzten fünf Prozent ein «Missbrauchspotential» von 190 Millionen Franken.

Die Ausgaben der IV betrugen im Jahr 2005 knapp elf Milliarden Franken. Beim Bundesamt für Sozialversicherungen geht man von zwei bis drei Prozent Missbrauchsfällen aus; das wären, bei drei Prozent, 330 Millionen. Zusammen ergibt das rund 520 Millionen Franken, die dem Staat abhandenkommen. Das ist gerade mal ein Achtel jener vier Milliarden, die dem Staat durch Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit verlorengehen.

Ferner ist der Begriff «Missbrauch» nur ungenau definiert. Dies deshalb, weil er vom ungerechtfertigten Leistungsbezug, der im System liegt und für den der Bezüger keine Schuld trägt, bis hin zum geplanten Versicherungsbetrug alles enthält. «Missbrauch kann bereits dann vorliegen, wenn ein Arzt eine Abklärung zu ungenau ausführt und jemand dadurch eine höhere Rente erhält», erklärt Benno Schnyder vom Bundesamt für Sozialversicherung. Mit einer Studie, die Ende Sommer fertig sein soll, will man klären, wie gross das Ausmass des Missbrauchs ist und was überhaupt darunterfällt.

Im Falle der Schwarzarbeit braucht es diesbezüglich keine weiteren Untersuchungen. Ab Anfang 2008 wird der Bund mit verschärften Kontrollen dagegen vorgehen. Für Verstösse kann es im Wiederholungsfall bis zu einer Million Franken Busse geben, schwarze Schafe müssen zudem damit rechnen, bis zu fünf Jahre von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen zu werden. Laut Schneider wird über ein Drittel der Schwarzarbeit in handwerklichen Berufen und auf dem Bau geleistet, gefolgt vom Gastgewerbe mit einem Sechstel. Dass man das Problem mit verschärften Massnahmen in den Griff bekommen wird, bezweifelt er allerdings: «Der Kontrollaufwand ist sehr gross. Zudem haben viele kein Unrechtsbewusstsein, insbesondere bei haushaltnahen Dienstleistungen wie Haareschneiden, Babysitten oder Nachhilfeunterricht.»

Das Unrechtsbewusstsein fehlt nicht nur dort. Die Volksseele kocht vor Wut über die «Sozialschmarotzer», während von Empörung über Steuerhinterzieher nichts zu spüren war und ist. Experte Walter Schmid dazu: «Steuerhinterziehung wird eben als Kavaliersdelikt betrachtet.»

Das Bankgeheimnis als Versteck

Das hat nicht zuletzt mit dem System zu tun. Sozialhilfemissbrauch gilt meist als Betrug. Die rechtlichen Konsequenzen: Eine Strafe von bis zu fünf Jahren Gefängnis ist möglich, und einen Eintrag im Strafregister gibt es auch. Steuerhinterziehung wird neu mit Busse bestraft. Und die werde, «wenn überhaupt, nur ab einer gewissen Höhe ins Strafregister eingetragen», erklärt Florian Utz vom Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich.

Ganz anders beim Sozialhilfemissbrauch. Diesem wird jetzt auch präventiv der Garaus gemacht: Die ersten Sozialdetektive haben ihre Arbeit bereits aufgenommen. Nur die Steuerhinterzieher schauen fröhlichen Zeiten entgegen: Sie werden sich weiterhin hinter dem gut funktionierenden Bankgeheimnis verstecken können. Und die Zahl der Steuerinspektoren ist in den letzten Jahren geschrumpft.