Beobachter: Sie unterstützen als Präsident einer bischöflichen Kommission neu die Wiedergutmachungsinitiative. Mussten Sie die Bischöfe um Erlaubnis bitten?
Thomas Wallimann: Nein, aber das Engagement der Kommission ist direkt mit den Bischöfen abgesprochen.

Beobachter: Weshalb ist die Bischofskonferenz nicht selber beigetreten? Das wäre ein starkes Zeichen gewesen.
Wallimann: Die Bischofskonferenz tritt grundsätzlich keinem Initiativkomitee bei. Sie ist der Ansicht, dass Volksinitiativen Bürgerrechte sind und den Bürgern vorbehalten bleiben sollten.

Beobachter: Die katholische Kirche entschuldigte sich letztes Jahr am nationalen Gedenktag bei den Betroffenen von fürsorgerischem Freiheitsentzug. Die Opfer erwarten aber mehr als eine Entschuldigung.
Wallimann: Die kirchlichen Institutionen haben sich teils stark mit dieser Frage auseinandergesetzt. Einige haben ihre Geschichte historisch aufgearbeitet oder von Historikern aufarbeiten lassen. Zum anderen ist 2015 ein nationales Kirchenopfer geplant, also eine landesweite Kollekte. Dieses Geld soll in den Soforthilfefonds fliessen, um bedürftige Opfer zu unterstützen.

Beobachter: Mit dieser nationalen Kollekte bezahlen aber die Gläubigen für das Fehlverhalten der Kirchenverantwortlichen.
Wallimann: Ein nationales Kirchenopfer ist ein symbolisches Zeichen der Kirche. Klar haben sich einzelne Menschen schuldig gemacht, aber letztlich ist das ganze System der Kirche betroffen. Die Kirche sind wir alle. Was Klöster und andere Kircheninstitutionen zusätzlich unternehmen, um die Schuld anzuerkennen, liegt in deren eigener Verantwortung.

Beobachter: Die Aufarbeitung ist für die katholische Kirche eine besondere Herausforderung: Missbrauch und körperliche Strafen – in vielen Kinderheimen Alltag – sind das Gegenteil christlicher Nächstenliebe.
Wallimann: Die Kirche lebt nicht fern des weltlichen Verständnisses, was als «normal» gilt. So gesehen ist sie ein Kind ihrer Zeit. Bei der Körperstrafe hat sich das Empfinden der Gesellschaft erst in den letzten 20 Jahren radikal geändert. Früher galt es als normal, dass man einem Kind zwischendurch eine Ohrfeige gab. Heute wissen wir zum Glück, dass solche Formen von Gewalt nicht tolerierbar sind.

Thomas Wallimann-Sasaki, 49, ist Präsident der Nationalkommission Justitia et 
Pax der Schweizer Bischofskonferenz. Dieses aus Laien 
zusammengesetzte Gremium berät die Bischofskonferenz in gesellschaftspolitischen Fragen. Wallimann ist Theologe 
und Sozialethiker, er leitet das Sozialinstitut 
der Katholischen Arbeitnehmerinnen- und 
Arbeitnehmer-Bewegung der Schweiz und 
unterrichtet an der Hochschule Luzern Ethik.

Quelle: PD (Pressedienst)

Beobachter: Ehemalige Bewohner von Kinderheimen berichten aber nicht nur von Ohrfeigen. Es geht um sexuellen Missbrauch, um harte körperliche Strafen, um grobe Vernachlässigung statt Fürsorge.
Wallimann: Ja, das ist erst recht nicht tolerierbar. Die Verantwortlichen solcher Institutionen haben sich schuldig gemacht. Ich bestreite es nicht: Es wurden grosse Fehler gemacht.

Beobachter: Für viele Opfer ist es schwierig, mit ihrer Geschichte umzugehen. Täter, die sich an ihnen vergangen haben, zeigen sich aber bis heute wenig einsichtig. Was können die Täter für ihre Opfer tun?
Wallimann: Die Kraft der Verdrängung ist sowohl auf Opfer- wie auch auf Täterseite sehr gross. So gesehen können wir dankbar sein, dass sich die Opfer an die Öffentlichkeit gewandt und ihre Geschichte erzählt haben. Damit haben sie dieses Fehlverhalten der Kirche zur Sprache gebracht. Ich glaube, es braucht Zeit, um das Bewusstsein der Schuld und das Bewusstsein, Fehler begangen zu haben, auf Täterseite individuell wachsen zu lassen.

Beobachter: Wie meinen Sie das?
Wallimann: Ein Täter oder eine Täterin muss sich klar werden, wie er oder sie mit dieser Schuld umgehen kann. Klar, Sie können niemanden zur Einsicht zwingen. Juristisch sind diese Vorfälle ohnehin verjährt. Es geht um die moralische Schuld. Damit alle Beteiligten zu einer Lösung kommen, braucht es viel Zeit und Einfühlungsvermögen. Manchmal braucht es Ermunterung, manchmal auch ein klares Wort. Es wäre schön, wenn die Täter sagen könnten: «Ja, ich habe Fehler gemacht und kann diese nicht wiedergutmachen.»

Beobachter: Weshalb dauerte es so lange, bis sich die katholische Kirche dem Thema gestellt hat?
Wallimann: Eine Gesellschaft hat immer Schwierigkeiten, ihre Schattenseiten zu betrachten. Eine hochindividualisierte Gesellschaft, wie wir sie heute sind, macht das noch schwieriger. Wer steht denn heute noch hin und übernimmt Verantwortung für andere? Eigentlich sind wir aber alle verantwortlich – eben auch für das Verhalten unserer Elterngeneration. Die katholische Kirche spiegelt auch hier die Haltung der gesamten Gesellschaft. Letztlich ermöglichte leider erst die Stimme der Opfer die Diskussion.

Beobachter: Ist die katholische Kirche zu wenig selbstkritisch?
Wallimann: Es gibt in der katholischen Kirche sehr viel Selbstkritik. Nur ist diese für die Öffentlichkeit nicht immer ersichtlich. In den letzten fünf bis zehn Jahren ist die Sensibilität für die Fehler der Kirche auch kirchenintern stark gestiegen. In der Kirche hat man gelernt, dass man an die Öffentlichkeit gelangen kann, ohne dass man das Gesicht verliert.

Beobachter: Betroffene haben trotzdem das Gefühl, sie würden von der Kirche nicht ernst genommen – oder die Kirche sei unfehlbar.
Wallimann: Dieses Empfinden kann ich nachvollziehen. Das hängt vermutlich von verschiedenen Faktoren ab. Wie die Kirche wahrgenommen wird, hängt ja immer davon ab, wer mir als Vertreter oder Vertreterin der Kirche gerade begegnet. Die Kirche handelt auch nicht immer fehlerfrei.

110'000 fordern Wiedergutmachung

Starkes Zeichen: Innerhalb von nur acht Monaten haben 110'000 Stimmberechtigte die Volksinitiative unterschrieben, die für Verding- und Heimkinder, administrativ Versorgte, Zwangssterilisierte und Zwangsadoptierte finanzielle Wiedergutmachung fordert. Hinter der Initiative, die auch vom Beobachter unterstützt wird, stehen die Guido-Fluri-Stiftung, ein überparteiliches Komitee, Historiker und Opfer.

Die Initiative fordert eine Entschädigung von gesamthaft 500 Millionen Franken. Dieser Betrag ist explizit nicht als Soforthilfe für Betroffene gedacht, die heute unter prekären Bedingungen leben. Vielmehr soll er allen Opfern zugutekommen, unabhängig von ihren finanziellen Verhältnissen – ausgerichtet vom Bund, als Anerkennung des oft über Jahre erlittenen massiven Unrechts.

Über die Höhe der Entschädigung würde eine unabhängige Kommission von Fall zu Fall entscheiden. Fürstliche Summen gäbe es für die Betroffenen bei Annahme der Volksinitiative allerdings dennoch nicht. Gemäss Schätzungen leben heute noch mindestens 20'000 Opfer. Würde man die halbe Milliarde auf sie verteilen, blieben pro Kopf 25'000 Franken – oder fünf Monatslöhne à 5000 Franken. Zum Vergleich: Wird einem Arbeitnehmer missbräuchlich gekündigt, spricht ihm das Gericht in der Regel eine Entschädigung zwischen zwei und sechs Monatslöhnen zu.