Achtung, Kabel!» Die Fotografin, der ich folge, ahnt gar nicht, wie froh ich um den Hinweis bin. Beinahe hätte ich das dunkle Stromkabel auf dem dunkelbraun gemusterten Teppich nicht gesehen.

Ich trage Gehördämpfer, einen Helm mit milchig-gelbem Visier, schwarze Handschuhe, die unangenehm stechen, Bandagen um Knie und Ellbogen und eine Art Bleiweste, die mich gute zehn Kilo schwerer macht. Darüber habe ich rote Latzhosen und eine Jacke an, in die weitere Pads eingenäht sind. Ich sehe aus, als wäre ich bereit für die nächste Apollo-Mission. Und ich fühle mich – alt.

Die Sicht im Alter ist enorm eingeschränkt

Das soll ich auch. Den Age Explorer hat das Swiss Age Explorer Institute konstruiert, ein Beratungsunternehmen. Er soll Menschen vermitteln, wie sich ältere Leute fühlen. «Vor etwa 20 Jahren entstand die Idee für den Age Explorer aus einem Projekt mit Coop», sagt Firmenchefin Hanne Meyer-Hentschel. Damals ging es darum, Läden und Produkte für Ältere zu optimieren.

Kaum ein Junger kann sich vorstellen, was es heisst, wenn der Körper nicht mehr tut wie früher. Oft entstehen Missverständnisse: Ein Altersheimbewohner hält eine Pflegerin für unhöflich, weil er ihr «Guten Morgen» nicht hört. Ein Pfleger findet eine Dame seltsam, die Informationen, die er mit gelbem Leuchtstift markiert hat, ignoriert.

Die feinen Stacheln im Handschuh schmerzen beim Händeschütteln. So geht es alten Leuten mit Arthritis jeden Tag.

Die Autorin im Selbstversuch mit dem Age Explorer

Mein Gehördämpfer filtert hohe Frequenzen. Ich verstehe nur, was unmittelbar vor mir gesprochen wird. Reden zwei Leute hinter meinem Rücken, bin ich verloren. Auch meine Sicht ist arg behindert. Das gelbe Visier simuliert die altersbedingte Veränderung der Augen, noch ohne Fehlsichtigkeit. Farben erkennen? Fehlanzeige. Blaues wirkt türkis, Rot- und Rosatöne sehen alle gleich aus, die gelbe Leuchtstiftmarkierung kann ich nicht einmal erahnen.

Als ein Mann aus dem Lift tritt, denke ich: Hoffentlich stellt uns Frau Meyer-Hentschel nicht vor. Wegen der feinen Stacheln im Handschuh fürchte ich einen kräftigen Händedruck. So geht es Leuten mit Arthritis jeden Tag. Danach versuche ich, eine Flasche zu öffnen, was sich unendlich mühsam gestaltet. Erschöpft von der Konzentration auf Sehen und Hören und vom zusätzlichen Gewicht, setze ich mich in einen sicher teuren Designersessel. Dass ich irgendwann wieder aufstehen muss, habe ich nicht bedacht.

Probleme mit Kaffeetassen

Rund 20 Age-Explorer-Anzüge sind im Umlauf. Sie werden meist für Schulungen von Pflegepersonal eingesetzt. Astrid Reif, 58 und seit bald 30 Jahren im Beruf, ist heute Fachverantwortliche für Pflege im Alters- und Pflegeheim Grünhalde in Zürich. Auch sie hat den Age Explorer angehabt und meint, dass er nicht nur in der Pflege gute Dienste leiste: «Ich finde, dass auch Menschen, die Billettautomaten konstruieren, ihn einmal tragen sollten.»

Der Anzug hat vieles verändert im Berufsalltag von Astrid Reif: «Ich habe zum Beispiel dafür gesorgt, dass wir Tassen mit grösseren Henkeln haben.» Alte Menschen verzichten oft aus Scham auf ihren Kaffee – weil sie sich nicht zu sagen getrauen, dass sie die Henkeltasse nicht mehr gut halten können. «Der Age Explorer hat mich spüren lassen, wie sich körperliche Veränderungen im Alter auswirken», sagt Reif.

Auch ausserhalb des Altersheims denkt Astrid Reif noch immer an ihre Erfahrungen mit dem Age Explorer: «Ich habe heute viel Verständnis, wenn an der Kasse vor mir eine alte Frau ewig in ihrem Portemonnaie nestelt. Ich weiss jetzt, wie schwierig es sein kann, die Münzen herauszufischen.»

Buchtipp
Betreuung und Pflege im Alter – was ist möglich?
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