Zur Person

Urs Moser ist seit 1999 Mitglied der Geschäftsleitung des Instituts für Bildungsevaluation der Universität Zürich sowie Mitglied der nationalen Projektleitung für Pisa-Studien. Er ist Vater einer 15- und einer 17-jährigen Tochter.

Beobachter: Ist die Chancengleichheit in der Schule eine Utopie, unerreichbar?
Urs Moser: Ja.

Beobachter: Keine Chance, sie herzustellen?
Moser: Das hängt von der Definition ab. Wenn man darunter gleiche Bildung für alle versteht, ist das ein utopisches Ziel. Chancengleichheit hängt auch von den Fähigkeiten ab, die eine Person hat. Wenn es nur darum geht, dass jeder die Möglichkeit haben soll, in die Schule zu gehen und dort fair behandelt zu werden, sollte das eigentlich möglich sein.

Beobachter: Aber Kinder und Jugendliche sollten doch gleiche Chancen haben, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft?
Moser: Das wird nie passieren. Es gibt mehrere Hindernisse auf dem Weg zur Chancengleichheit. Einerseits die Diskriminierung durch die Lehrpersonen, die Kinder aus tieferen Schichten tendenziell schlechter beurteilen. Anderseits haben nicht alle Eltern die gleichen Möglichkeiten, in die Bildung zu investieren – etwa privaten Unterricht zur Prüfungsvorbereitung zu zahlen.

Beobachter: Solche Hindernisse könnte man abbauen.
Moser: Ja. Man könnte die Lehrer stärker sensibilisieren und die Prüfungsvorbereitung an den öffentlichen Schulen so verbessern, dass Privatunterricht keinen Vorteil mehr bietet. Trotzdem hätten Kinder aus weniger privilegierten Familien bei Übertrittsprüfungen weniger Chancen. Die Schule kann hier nicht genügend ausgleichen.

Beobachter: Warum nicht?
Moser: Eltern mit wenig Wissen, wenig Zeit, schlechten Deutschkenntnissen und mit geringen emotionalen und finanziellen Möglichkeiten können ihr Kind nicht gleich unterstützen wie gebildete Eltern, die alles daransetzen, dass ihr Kind erfolgreich durch die Schule kommt. Um das zu ändern, müsste man von Geburt an direkt in das Familiensystem eingreifen. Das kann man aber nicht. Eltern können ihre Kinder innerhalb eines legalen Rahmens so erziehen, wie sie es für richtig halten.

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Beobachter: Dann ist also schlechte Bildung quasi erblich?
Moser: Das ist so. Um das zu ändern, müssten alle Kinder von Anfang an ein Förderangebot erhalten, nicht erst im Kindergarten.

Beobachter: Wieso setzt man nicht stärker auf Frühförderung?
Moser: Das wäre zentral. Aber wenn ich unsere Projekte anschaue, hängt Erfolg nicht nur vom Alter der Kinder ab. Es braucht auch die bewusste Entscheidung der Eltern, die Kinder an einem Förderprogramm zu beteiligen. Und es kommt leider immer wieder vor, dass Eltern ihre jüngeren Kinder nicht «hergeben» wollen. Deshalb ist Chancengleichheit kein wahnsinnig toller Begriff. Man muss die Chancen nicht nur haben, sondern auch nutzen.

Beobachter: Was schlagen Sie vor?
Moser: Bildungsgerechtigkeit. Ein gerechtes Bildungssystem mit dem Ziel, Fairness zu schaffen und die sozialen Ungleichheiten zu reduzieren.

Beobachter: Wird unsere Schule immer fairer oder immer unfairer?
Moser: Grundsätzlich immer fairer. Die Durchlässigkeit zwischen den Stufen ist in den vergangenen Jahren deutlich besser geworden. Wenn man beispielsweise im Kanton Zürich eine Matura machen will, hat man zahlreiche Chancen, das zu tun. Man kann nach der sechsten Klasse ins Langzeitgymnasium übertreten, nach der achten oder neunten ins Kurzzeitgymi, eine Berufsmatura machen oder die Maturität als Erwachsener nachholen. Mit gewissen Grundvoraussetzungen und einem starken Willen schafft man das schon.

Beobachter: Wo muss sich das Bildungssystem am dringendsten ändern?
Moser: Ich wünsche mir erstens, dass alle Kinder von der Schule so profitieren, dass sie einen Beruf erlernen können, der ihnen entspricht. Und zweitens, dass die Anforderungen für bestimmte Ausbildungen – etwa die Hochschule – in jedem Kanton gleich geregelt sind.

Beobachter: Dann ist die Chancengerechtigkeit je nach Kanton unterschiedlich?
Moser: Definitiv! Die Chance, ein Gymnasium zu besuchen, hängt nicht nur von den Fähigkeiten und vom Elternhaus ab, sondern vor allem auch vom Wohnort. In Basel-Stadt ist die Chance doppelt so gross wie in St. Gallen.

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