Sie sei vielleicht etwas blauäugig, sagt Margrit Sommer*. «Aber ich dachte, die machen, was für mich am besten ist.» Dann ringt sie nach Worten, um den Schmerz zu beschreiben, den sie nach der Operation empfunden hat: Er sei «abartig» gewesen.

Margrit Sommers Operation war nicht nur unnötig, sie ging auch schief. Ein Jahr ist es her seit jenem Freitagabend, als sie plötzlich sehr starkes Bauchweh bekam, dann schweren Durchfall.

Am Montag ging sie zum Hausarzt, der sie mit Verdacht auf Blinddarmentzündung im Spital anmeldete. Gut eine Stunde später lag sie auf dem Operationstisch. «Die Ärztin versicherte mir, sie habe Hunderte solcher Operationen durchgeführt. Es sei nie etwas schiefgelaufen.»

Auch bei Jasmin Heller* ging alles sehr schnell. Wegen einer schmerzhaften Schwellung in der Leistengegend hatte sie ihr Hausarzt in eine Permanence-Klinik überwiesen. Dort tastete der Chirurg kurz ihren Bauch ab und diagnostizierte einen Leistenbruch. «Danach sagte er, er habe grad Zeit zum Operieren, dann sei das heute noch tipptopp geflickt.»

Doch die junge Frau lässt sich nicht drängen. Sie ruft die Mutter einer Kollegin an, eine Ärztin. Diese empfiehlt Jasmin Heller, am nächsten Tag eine Zweitmeinung einzuholen. Die Nacht übersteht Heller mit Schmerzmitteln.

Am nächsten Morgen organisiert ihr Hausarzt einen Termin in einem Berner Spital. «Der Arzt sagte, ich hätte bloss einen geschwollenen Lymphknoten. Vermutlich wegen einer Entzündung im Becken. Ich erhielt Antibiotika. Drei Tage später war ich wieder gesund.»

«Bei vielen Eingriffen besteht keine Notwendigkeit, sofort zu operieren. Die Ärzte leisten hier oft zu wenig Aufklärungsarbeit.»

Barbara Züst, Co-Geschäftsleiterin der Schweizerischen Stiftung SPO Patientenschutz

Greifen Ärzte in der Schweiz vorschnell zum Skalpell? Operieren sie auch dann, wenn es gar nicht nötig ist? Der erste Befund erstaunt: Niemand weiss, wie sich die Operationsraten bestimmter Eingriffe in den letzten zehn Jahren entwickelt haben. «Die Daten wären interessant, sind aber schwer zu interpretieren», sagt Marcel Widmer vom Bundesamt für Statistik.

Wo objektive Daten fehlen, müssen subjektive Erfahrungen genügen. Etwa die von Carmen Hofstetter*, Hausärztin in Zürich. «Es kommt immer häufiger vor, dass ich einen Patienten zur Abklärung ins Spital schicke und er ohne Rücksprache mit mir operiert wird», sagt sie. Oft würden noch «Nebenbaustellen» behandelt, über die sich der Patient gar nicht beklagt habe.

Grafische Darstellung der Anzahl Hüftgelenksoperationen
Quelle: Anne Seeger
Blinddarm-OP wegen einer Grippe

Eine aktuelle Umfrage bestätigt den Eindruck. Jeder zweite Grundversorger findet, dass für die Patienten zu viel Leistungen erbracht werden. Eine «besorgniserregende» Entwicklung, wie das Schweizerische Gesundheitsobservatorium schreibt. Grundversorger sind diejenigen Ärzte, die den ersten Kontakt zum Patienten haben.

«Bei vielen Eingriffen besteht keine Notwendigkeit, sofort zu operieren. Vielen Patienten ist das nicht bewusst, die Ärzte leisten hier oft zu wenig Aufklärungsarbeit», kritisiert Barbara Züst, Co-Geschäftsleiterin der Stiftung SPO Patientenschutz. Regelmässig macht sie die Erfahrung, dass Ärzte die Risiken einer Operation verharmlosen und alternative Therapien zu wenig erläutern. Züst stellt die hohe Zugänglichkeit zu medizinischen Eingriffen nicht grundsätzlich in Frage. «Aber um gut entscheiden zu können, müssen die Patienten wissen, was beim empfohlenen Eingriff alles schiefgehen kann.»

Bei Margrit Sommer, die mit Bauchschmerzen ins Spital eingeliefert wurde, verletzte die Ärztin bei der Operation den Dünndarm. Der Inhalt entleerte sich in den Bauchraum. In einer Notoperation konnte ein zweites Operationsteam nur mit Glück verhindern, dass Margrit Sommer ein künstlicher Darmausgang gelegt werden musste.

Nach einer Woche wurde sie aus dem Spital entlassen, blieb aber drei Monate krankgeschrieben. «Ich war erschöpft, lag meistens nur herum, für fast alles fehlte mir die Kraft.» Sie meldete sich bei der SPO, die den Fall genauer untersuchte. Das Ergebnis: Ihr Blinddarm war nicht entzündet gewesen, sie hatte nur an einer harmlosen Magen-Darm-Grippe gelitten. Die Operation war überflüssig gewesen.

Grafische Darstellung der Anzahl Operationen an der Wirbelsäule.
Quelle: Anne Seeger

Bedauerliche Einzelfälle? «Jeder dritte Eingriff in einem Schweizer Operationssaal ist vermutlich unnötig», sagt Patientenschützerin Züst. Sie stützt ihre Einschätzung auf ihre tägliche Beratungserfahrung und auf ausländische Studien. Liegt sie richtig? Die Antwort lautet auch hier: Genaues weiss niemand. «Die Schätzungen des Anteils an Überdiagnosen schwanken teilweise sehr stark, bedingt durch unterschiedliche Studiendesigns und Schätzmethoden», schreibt die FMH, die Verbindung der Schweizer Ärzte, in einem Positionspapier.

Wie viel Schaden unnötige Operationen verursachen, ist ebenfalls unbekannt. «Dazu gibt es keine Studien. Trotz der Aktualität des Themas bei der Ärzteschaft und in der Politik wird nur in wenigen Bereichen intensiv dazu geforscht», sagt Jürg Unger, Mitglied des FMH-Zentralvorstands.

Eine finnische Studie verblüfft alle

Einer, der den wenigen Forschungsresultaten die nötige Beachtung verschaffen möchte, ist Hannu Luomajoki. Der Winterthurer Hochschuldozent und diplomierte Physiotherapeut referiert am liebsten vor Orthopäden. Dann zeigt er seine Powerpoint-Präsentation «Weisst du eigentlich, wie gut wir sind?» – Seite um Seite wissenschaftliche Befunde zum Nutzen der Physiotherapie im Vergleich zu operativen Eingriffen. Meist zitiert er aus der sogenannten Goldstandard-Literatur, deren Ergebnisse als besonders solid gelten.

Kniearthrose, Kreuzbandriss, Bandscheibenvorfall – bei keiner der Diagnosen liefern Operationen langfristig bessere Ergebnisse als Physiotherapie. Für ein Raunen im Saal sorgen jeweils die Ergebnisse eines finnischen Teams. Bei Patienten mit Kniebeschwerden wurde bei der Hälfte der Meniskus mittels Arthroskopie entfernt. Die anderen 50 Prozent behandelten die Forscher – gar nicht. Ihnen wurde bloss vorgetäuscht, sie seien operiert worden. Nach einem Jahr wurden alle Patienten nach ihrer Zufriedenheit gefragt. Ergebnis: Alle waren gleich zufrieden.

Das ist brisant, denn Beschwerden am Bewegungsapparat sind der häufigste Grund für Hospitalisierungen und Operationen. Jeden Tag werden in der Schweiz durchschnittlich 274 Eingriffe durchgeführt. Sie verursachen elf Prozent der Gesundheitskosten von insgesamt 21 Milliarden Franken. «Eine Physiotherapie würde bei einem Grossteil der Fälle zu ebenbürtigen Resultaten führen, aber zu einem Bruchteil der Kosten», sagt Luomajoki. Doch Physiotherapie sei aufwendig, der Patient müsse etwas tun. Operationen versprächen sofortige Linderung. «Der Glaube an die Möglichkeiten der operativen Medizin ist bei vielen Patienten fast grenzenlos.»

Grafische Darstellung der Anzahl Operationen am Knie
Quelle: Anne Seeger

Das spüren vor allem die Hausärzte. «Immer mehr Patienten schlagen von sich aus eine bestimmte Operation vor, von der sie gehört haben», sagt Thomas Rosemann, Leiter des Instituts für Hausarztmedizin der Uni Zürich. Wenn man versuche, ihnen die OP auszureden, gelte man schnell als technologiefeindlich und altmodisch. Viele Ärzte hätten resigniert. «Die Rolle der Hausärzte ist wahnsinnig undankbar. Das Schwierigste in der Medizin ist das begründete Nichtstun. Doch in unserem System wird das nicht honoriert.»

Ärzte lassen sich selber seltener operieren

Die Begeisterung der Patienten über neue Operationsmethoden kommt nicht von ungefähr. Spitäler machen Werbung, Medien berichten oft ohne kritische Distanz. Im Mai schrieb der «Blick» über die Kniebeschwerden des Zürcher Eishockeyspielers Kai Speck. Ein Arzt der Zürcher Schulthess-Klinik habe das Knie durch eine «Hightech-OP» gerettet. Der Beobachter erkundigte sich, wie oft dieser Eingriff bereits durchgeführt worden sei und ob es Studien zu seinem Nutzen gebe. Die Antwort des Orthopäden: «Ich kann Sie in dieser Angelegenheit leider nicht unterstützen.»

Ärzte können die Grenzen ihrer Kunst realistisch einschätzen. Wenn es um sie selber geht, stehen sie Behandlungen skeptisch gegenüber. Im Jahr 2011 sorgte der US-Arzt Ken Murray mit einem Artikel für Furore. Titel: «How Doctors Die» – wie Ärzte sterben. Die provokative Antwort lieferte die Unterzeile: «Nicht wie der Rest von uns – obwohl es so sein sollte». Murray hatte herausgefunden, dass Ärzte lebensverlängernde Massnahmen und aggressive Behandlungen wie Chemotherapie und Operationen bei nicht heilbaren Krankheiten meist ablehnen. In einer ähnlichen Studie der Stanford School of Medicine waren es fast 90 Prozent.

Auch bei Operationen sind Mediziner bei sich und ihren Angehörigen vorsichtiger als bei ihren Patienten. Das zeigt etwa eine Untersuchung von Marcus Schiltenwolf von der Uniklinik Heidelberg. Er befragte 200 Berufskollegen zur Akzeptanz von elf Standardeingriffen, darunter das Einsetzen einer Hüftprothese bei Hüftkopfnekrose und die Operation eines Bandscheibenvorfalls. Einer Bandscheibenoperation stimmten gerade mal 17 Prozent zu. «Die Studie stammt zwar von 1994, dürfte aber in der Tendenz bis heute ihre Gültigkeit haben», sagt Schiltenwolf.

Bandscheibenoperationen oder das Einsetzen einer Hüftprothese sind sogenannte Wahleingriffe. Es besteht meist weder eine zeitliche Dringlichkeit noch eine eindeutige therapeutische Vorgehensweise. Und bei der Behandlung gibt es einen breiten Ermessensspielraum.

«Der Druck der Spitalleitung ist gross geworden. Wir sprechen nur noch über Wirtschaftlichkeit.»

Jürg Schmidli, stellvertretender Direktor der Uniklinik für Herz- und Gefässchirurgie, Inselspital Bern

Einmal im Monat muss Jürg Schmidli ein Gespräch führen, für das er eigentlich nicht ausgebildet ist. Dem stellvertretenden Direktor der Uniklinik für Herz- und Gefässchirurgie im Berner Inselspital sitzen dann nicht Patienten gegenüber, sondern Spitalmanager. Ein mühsamer Termin: «Es ist, als ob wir nicht dieselbe Sprache sprächen», so Schmidli.

Diskutiert wird die Zahl der durchgeführten Operationen, ob sich diese für das Spital gelohnt haben und wie man den Case-Mix verbessern kann. Der Begriff bezeichnet den durchschnittlichen Schweregrad der Fälle. Vereinfacht gilt: je komplexer der Fall, umso weniger verdient das Spital.

Diese sogenannten Wirtschaftlichkeitsgespräche sind eine Folge der neuen Spitalfinanzierung, die seit vier Jahren in Kraft ist. Statt jede erbrachte Dienstleistung in Rechnung stellen zu können, erhalten die Spitäler für jeden Patienten einen Pauschalbetrag. Seine Höhe richtet sich nach Diagnose, Schweregrad und gewählter Behandlungsart.

Das Fallpauschalen-System hat eine problematische Seite. Es teilt die Patienten in zwei Gruppen ein: die, die sich betriebswirtschaftlich lohnen, und die, bei denen das Spital drauflegt. Lukrativ ist ein Patient dann, wenn die Fallpauschale höher ist als die effektiven Kosten und die Behandlung seiner Krankheit möglichst standardisiert ist. So können die Spitäler Operationen vorausplanen und ihre Infrastrukturen optimal nutzen. «Der Druck der Spitalleitung ist gross geworden. Wir sprechen nur noch über Wirtschaftlichkeit. Die Freiheit der Ärzte, medizinisch und ethisch zu entscheiden, wird dadurch zunehmend kompromittiert», kritisiert Schmidli.

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Quelle: Simon Tanner/Keystone

Ein invasiver Eingriff bedeutet für Patienten immer ein Risiko. Operieren Ärzte wirklich, um Geld zu verdienen, statt um Patienten zu heilen? Die beunruhigende Antwort lautet: ja.

In Deutschland stieg nach Einführung der Fallpauschale die Zahl der stationären Spitaleintritte von 2007 bis 2012 um 8,4 Prozent. Vor allem gut planbare Operationen wiesen grosse Steigerungen auf. Die Erhöhung der Deckungsbeiträge wirkte sich direkt auf die Zahl der Operationen aus: Sobald ein Eingriff besser vergütet wurde, wurde mehr operiert. Noch krasser sind die Ergebnisse des US-Gesundheitsökonomen Jason Shafrin. Er konnte zeigen, dass die Operationsrate nach Einführung von Fallpauschalen um 78 Prozent anstieg.

Und in der Schweiz? Eine repräsentative Befragung von Spitalärzten ergab: Jeder von ihnen beobachtet pro Monat eine unnötige Operation. Laut einer aktuellen Studie des Bundesamts für Gesundheit (BAG) werden Privatpatienten im Vergleich zu Grundversicherten mehr als doppelt so oft am Knie operiert. An der Wirbelsäule nehmen die Ärzte bei den Zusatzversicherten 1,5-mal so viele operative Eingriffe vor, Hüftgelenke werden 1,3-mal so häufig ersetzt. «Eine medizinische Begründung für diese Mehrbehandlungen ist nicht erkennbar», sagt BAG-Vizedirektor Oliver Peters. Kaum Zufall: Die Operationen, die häufiger durchgeführt werden, sind diejenigen, bei denen die Spitäler gut verdienen.

Zehn Minuten Zeit für die Diagnose

Jonas Bitterli* war ein erfolgreicher Geschäftsführer – bis er operiert wurde. Jetzt ist er invalid. Wenn er heute vom Keller seines Einfamilienhauses ins Erdgeschoss hochsteigt, bringt ihn das ausser Atem. «Es fühlt sich an, als wäre ich einen Marathon gelaufen», sagt er leise und mit müden Augen. In Bitterlis Herzklappe steckt ein Draht: die Überreste eines Herzkatheters, der bei einem minimalinvasiven Eingriff zu Bruch ging und trotz Notoperation nicht mehr entfernt werden konnte.

Vor dem Eingriff habe sich der Kardiologe zehn Minuten Zeit genommen, um die Diagnose zu stellen: Vorhofflimmern. Frühere Untersuchungen bei anderen Ärzten waren dagegen alle zum Schluss gekommen, es liege keine interventionswürdige Erkrankung vor. «Es ist nicht nachvollziehbar, wie der Kardiologe aufgrund des medizinischen Dossiers zu dieser Diagnose kommen konnte», sagt Bitterlis Anwalt. Für diese Einschätzung stützt er sich auf das Gutachten eines externen Sachverständigen.

Warum wurde Bitterli trotz fehlender Indikation operiert? Patientenschützerin Barbara Züst hat einen schlimmen Verdacht: «Es ging wohl um die Auslastung. Seriöse Ärzte hätten zugewartet. Bei der interventionellen Kardiologie gibt es heute ein Überangebot. Da macht man einfach mal.»

Falls nötig, auch gegen die wissenschaftliche Evidenz. Hausarzt-Institutsleiter Thomas Rosemann erinnert sich an eine öffentliche Diskussion mit einem Kardiologen zum Nutzen von Herzkathetern: «Die Datenlage spricht bei einigen Herzerkrankungen klar gegen den Katheter. Doch der Kardiologe ignorierte das einfach und argumentierte auf einer emotionalen Ebene, etwa indem er betonte, dass er den Eingriff bei sich selbst sofort machen liesse.» Pikantes Detail: Die Kongressleitung veröffentlichte auf der Website Videos aller Referate und Diskussionen – mit Ausnahme des Disputs zwischen dem Kardiologen und Rosemann.

Grafische Darstellung der Anzahl Operationen am Herz.
Quelle: Anne Seeger

Der Gedanke, dass der vermeintliche Herzpatient Bitterli indirekt Opfer des politisch gewollten Wettbewerbs im Gesundheitswesen wurde, lässt sich nicht von der Hand weisen. «Bestimmte kardiologische Eingriffe lohnen sich. Sie sind meist planbar, dauern meist nicht lange und sind gut vergütet», sagt Gerd Marschall, Tarifspezialist bei der Krankenkasse CSS. Die neue Spitalfinanzierung biete Anreize, solche Eingriffe zu steigern. «Die Gefahr, dass eine zunehmend betriebswirtschaftliche Sicht dominiert, ist real.»

Und es kommt noch schlimmer: Volle 20 Milliarden Franken wollen die Spitäler bis zum Jahr 2023 in ihre Infrastruktur investieren. Wer Investitionen refinanzieren will, muss den Gewinn steigern.

Profitorientierte Ärzte erhalten Boni

Ist also die Dominanz der betriebswirtschaftlichen Sicht nicht schon längst Realität? Seit der Einführung der neuen Spitalfinanzierung im Jahr 2012 etabliert sich in unserem Gesundheitswesen ein Phänomen, das sonst eher bei Bankern für Schlagzeilen sorgt: Boni. Jeder vierte Mediziner in Schweizer Spitälern bekommt einen Bonus, wenn er häufiger operiert. 2012 erhielt erst jeder fünfte Chefarzt ein Extrahonorar, wenn in seinem Spital viel operiert wurde.

Die Boni sind häufig an Vorgaben wie das Erreichen bestimmter Mengen geknüpft – etwa die Anzahl der Fälle, den Case-Mix der Klinik oder den Klinikerfolg. «Wir lehnen solche Vereinbarungen in Spitalarztverträgen ab», sagt Jürg Unger von der FMH. Es sei empirisch belegt, dass sich zielbezogene Bonusverträge im Spital kontraproduktiv auswirkten.

Langsam scheint Gesundheitsexperten das Bewusstsein für die Problematik zu dämmern. Im April 2015 ging mit Meinezweitmeinung.ch die erste digitale Plattform für medizinische Zweitmeinungen in der Schweiz online. «Zweitmeinungen sind ein sehr wirksames Instrument, um die Zahl unnötiger Operationen zu drosseln. Bei orthopädischen Eingriffen ändert jeder dritte Patient seine Meinung und verzichtet auf die Operation», sagt Jürg Schmidli, Mitbegründer der Plattform. Eine Auswertung der deutschen Krankenkasse BKK von 2015 ergab sogar eine Änderungsrate von 60 Prozent.

Als erster Kanton will jetzt Basel-Stadt überprüfen, ob zu viele Hüft- und Knieprothesen eingesetzt werden. Der Leidensdruck ist dort besonders gross: Basel hat die höchsten Krankenkassenprämien der Schweiz.

Auch der Bund wird endlich aktiv. Unwirksame, ineffiziente und unnötige Behandlungen sollen von der obligatorischen Krankenversicherung ausgeschlossen werden. Die ersten drei Eingriffe, die geprüft werden sollen, sind Kniearthroskopie, Wirbelsäuleneingriffe und Eisensubstitution bei Eisenmangel ohne Anämie. Sie werden in der Schweiz im Vergleich zum Ausland relativ häufig angewandt. Erste Ergebnisse sollen im Jahr 2017 vorliegen. Noch viel Zeit für Ärzte und Spitalmanager, um auf Kosten der Patienten und der Prämienzahler abzukassieren.


* Name geändert

So vermeiden Sie unnötige Risiken bei Operationen

Wie kann ich verhindern, dass ich unnötig operiert werde?

Der beste Weg, einen unnötigen Eingriff zu vermeiden, ist, eine Zweitmeinung einzuholen.
 

In welchen Fällen soll ich eine Zweitmeinung einholen?

Wenn Sie unsicher sind, ob der geplante Eingriff wirklich notwendig ist, oder wenn Sie sich über alternative Behandlungsmöglichkeiten aufklären lassen möchten.
 

Bei welchen Eingriffen muss ich mir für die Entscheidung besonders viel Zeit nehmen?

Vor allem bei orthopädischen Operationen wie etwa einem Bandscheibenvorfall ist Vorsicht geboten. Viele dieser Eingriffe stehen im Verdacht, gegenüber einer physiotherapeutischen Behandlung keinen Mehrnutzen zu haben.
 

Wie komme ich zu einer Zweitmeinung?

Wenden Sie sich an Ihre Krankenkasse. Weiterhelfen kann auch die Schweizerische Stiftung SPO Patientenschutz. Achten Sie darauf, dass der Arzt, der die Zweitmeinung äussert, möglichst nicht im gleichen Kanton arbeitet und keine finanziellen Interessen an der vorgeschlagenen Behandlung hat. So haben Sie eher Gewähr, dass die Zweitmeinung objektiv ausfällt.
 

Wann ist eine Zweitmeinung nicht sinnvoll?

Wenn es sich um einen Notfall handelt oder wenn Sie sich ganz sicher sind, dass die Entscheidung für den Eingriff richtig ist.
 

Welche Fragen soll ich dem Arzt stellen?

Die wichtigsten drei Fragen sind: Was sind die Risiken? Was sind die Alternativen? Was passiert, wenn ich nichts mache? Eine gute Vorbereitung hilft Ihnen bei der Entscheidung. Versuchen Sie sich darüber klarzuwerden, was Ihnen wichtig ist: Sport, Arbeitsfähigkeit, Ästhetik, Sexualität, Biorhythmus.
 

Was soll ich tun, wenn der zweite Arzt zu einem völlig anderen Schluss kommt als der erste?

Besprechen Sie die Einschätzung mit dem ersten Arzt. Nicht immer ist eindeutig, ob eine Operation oder eine alternative Therapie die bessere Wahl ist. Meist haben beide Vorgehensweisen Vor- und Nachteile. Überlegen Sie sich, was Ihnen wichtig ist.
 

Übernimmt meine Krankenkasse die Kosten für die Zweitmeinung?

Die Zweitmeinung ist grundsätzlich keine kassenpflichtige Leistung, ausser wenn es sich um einen sehr schweren, risikobehafteten Eingriff handelt. Manche Krankenversicherer übernehmen die Kosten trotzdem in der Grundversicherung. In den allgemeinen Versicherungsbedingungen steht, ob das bei Ihrer Versicherung der Fall ist.
 

Wer hilft mir weiter, wenn etwas schiefgelaufen ist?

Die beste Anlaufstelle ist die Schweizerische Stiftung SPO Patientenschutz.

Infografik: Beobachter/Anne Seeger; Quelle: Medizinische Statistik der Krankenhäuser 2016 (BFS)

Wissen, was dem Körper guttut.
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Chantal Hebeisen, Redaktorin
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