Beobachter: Nach 30 Jahren geht auch für dich eine Epoche zu Ende. Wie lässt man los nach so langer Zeit?
Koni Rohner: Loslassen muss man ja nur etwas, woran man sich geklammert hat oder woran man sich mindestens festhalten konnte. Das passt für mich hier nicht so ins Bild. Der Beobachter war für mich eher etwas wie ein Rucksack, den ich gern getragen habe und den ich jetzt ablege.

Beobachter: Das klingt erst mal nach Befreiung. Du hast aber immer mit viel Herzblut geschrieben. Plötzlich ist diese Zeit, diese Epoche unwiderruflich zu Ende.
Rohner: Natürlich hat das auch schmerzhafte Aspekte. Etwa jenen, dass ich jetzt auch auf die finanzielle Sicherheit verzichten muss, die mir diese Arbeit gegeben hat. Aber es ist eigentlich etwas anderes. Als ich kürzlich auf dem Weg zum Säntis war, hat mich ein Wanderer angesprochen: «Sie sind doch der Koni Rohner vom Beobachter.» Das war – neben der Arbeit in meiner Praxis und für die Pädagogische Hochschule – stets Teil meiner Identität. Jetzt bin ich plötzlich nur noch ein Rentner, der mal beim Beobachter geschrieben hat.

Beobachter: Das eigene Bild muss also korrigiert werden. Was rät der Psychologe sich selber für solche Situationen?
Rohner: Das ist etwas, was – bis heute – Männer womöglich stärker beschäftigt als Frauen, weil sie sich stärker über ihre Rolle im Beruf identifizieren als Frauen. Sie fragen sich dann als Rentner: «Wer bin ich jetzt noch?»

Beobachter: Und, wer bist du jetzt?
Rohner: Wichtig ist, dass man diese Frage nicht verdrängt oder beschönigt, sondern die Feststellung zulässt: «Ich bin jetzt nicht mehr der Koni Rohner vom Beobachter – wer bin ich jetzt?» Da hilft es zu beobachten, was diese Frage mit einem macht. Ob Vorstellungen auftauchen, wo man sich aufgrund seiner Interessen und Möglichkeiten neu verorten möchte und kann.

Beobachter: Und wenn die Angst hochkommt, irgendwie überflüssig zu werden?
Rohner: Momente der Unsicherheit gehören zum Leben. Ich habe unlängst via Google den Spruch gefunden: «Wer loslässt, hat die Hände frei.» Das ist erst mal eine schöne Vorstellung, bald mehr freie Zeit zu haben, vielleicht mehr Golf zu spielen, etwas, was ich erst vor kurzem entdeckt habe. Aber natürlich ist es ebenso wichtig, sich auch weiterhin irgendwo einzubringen, sei es in seinem persönlichen Umfeld oder für ein Engagement in der Öffentlichkeit. Ich habe mir auch überlegt, vielleicht einen psychologischen Blog zu schreiben und Leute quasi gratis zu beraten.

«Es ist Teil unserer Lebensaufgabe, zu begreifen, dass alles vergänglich ist.»

Koni Rohner, Psychologe

Beobachter: Also irgendwie weiter tätig sein. Ist es eine Urangst des Menschen, nicht mehr gebraucht zu werden?
Rohner: Ich würde unterscheiden, etwas loslassen zu müssen oder etwas loslassen zu dürfen. Je unsicherer jemand auf dem Boden steht, umso stärker muss er sich an etwas festklammern. Wer in sich selber ruht, ein starkes Selbstbewusstsein hat, muss weniger loslassen, weil er nicht geklammert hat. Aber trotzdem bleibt es natürlich für jeden ein zentrales Problem, dass alles Lebendige vergänglich ist. Wenn etwas schön war, wollen wir, dass es bleibt.

Beobachter: Schon Goethe wünschte sich für den schönen Moment «Verweile doch, du bist so schön».
Rohner: Ja, auch Friedrich Nietzsche dichtete «alle Lust will Ewigkeit». Wir wünschen uns, Gutes festzuhalten. Deshalb haben spiritistische Lehrer in allen Kulturkreisen auch immer wieder darauf hingewiesen, dass es Teil unserer Lebensaufgabe ist, zu begreifen, dass alles vergänglich ist. 

Beobachter: Ist der spirituelle Weg für den Menschen ein Pfad, der sich aufs Alter hin stärker öffnet und der uns hilft loszulassen?
Rohner: Der berühmte Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung sah eine Kernaufgabe des Menschen darin, sich im Alter mit Sinnfragen zu beschäftigen. Er glaubte auch, dass man dann zwangsläufig zu spirituellen Fragen komme und daraus Sinnstiftendes gewinnen könne. Aber das ist sicher nicht bei jedem so. Die Frage ist, ob man sich damit beschäftigen will. Ich glaube, dass es einem helfen kann, die wesentlichen Dinge schärfer zu erkennen.

Beobachter: Vielleicht leben wir heute einfach so sehr im Luxusgefühl, dass wir bei jedem Verlust glauben, wir könnten oder müssten das doch irgendwie reparieren.
Rohner: Ich denke schon, dass Menschen in Kulturen, in denen der Lebenskampf und frühe Tode präsenter sind, eine andere Einstellung gegenüber der Vergänglichkeit haben. Wir glauben ja auch, wir könnten den Zerfall des Körpers mit Botox und Schönheitsoperationen bremsen, dem Lauf des Lebens quasi ein Schnippchen schlagen. Wenn es dann nicht gelingt, stürzen viele in eine Krise. Aber loslassen zu können gehört zum Leben.

Beobachter: Das hast du selber erfahren müssen. Eines deiner Kinder ist früh gestorben. Deine Partnerschaft ging danach in die Brüche. Helfen solche eigenen Erfahrungen, anderen zu helfen?
Rohner: Ich habe mir damals auch psychologischen Rat geholt. Meine Therapeutin hat mir geholfen, das akzeptieren zu lernen, mit der Trauer und dem Verlust umzugehen. Diese Erfahrung half mir sicher, mich besser in andere einzufühlen, um von dort aus gemeinsam Lösungen zu finden, um wieder Boden unter den Füssen zu gewinnen.

Beobachter: Du bist ja eine Art Lebensaufräumer in deiner Funktion als psychologischer Berater. Wie wichtig ist es, Ordnung im Leben zu haben?
Rohner: Es gibt sicher Leute, die mehr Chaos ertragen können, und andere, die besser funktionieren, wenn sie möglichst viel klar geordnet haben. Aus der Gestaltpsychologie von Frederick Perls stammt der Begriff «unfinished business» (unfertige Angelegenheit). Konkret: Was jemand emotional für sich nicht abgeschlossen hat, beschäftigt ihn das ganze Leben lang. Hier kann Aufräumen, zum Beispiel in einer Psychotherapie, viel helfen.

Beobachter: Hast du dazu ein Beispiel?
Rohner: Ich hatte mal eine Klientin, die als Mädchen sexuell missbraucht worden ist. Darüber hatte sie aber bis weit ins Erwachsenenalter nie richtig gesprochen. Das ist eine nicht abgeschlossene Angelegenheit. In solchen Fällen ist es wichtig aufzuräumen. In einer Therapie das Verdrängte anzusprechen, Schmerz, Kränkung, die Wut auf den Täter. Die Emotionen zuzulassen und zu verarbeiten, um damit abzuschliessen. Die Narbe wird bleiben, aber es ist dann keine offene Wunde mehr.

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«Kulturen, in denen der Lebenskampf und frühe Tode präsenter sind, haben eine andere Einstellung gegenüber der Vergänglichkeit.»

Koni Rohner, Psychologe

30 Jahre ist es her: Die erste Kolumne von Koni Rohner im Beobachter

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Beobachter: Du erhältst auch Fragen zum Thema Burn-out. Das ist ja ein Zeichen von Überforderung, von zu vielen offenen Baustellen. Kann Entschlacken helfen?
Rohner: Ein Burn-out hat zwei Hauptursachen. In vielen Berufen gibt es heute sicher einen stärkeren Leistungsdruck als noch vor ein paar Jahren. Das andere ist die innere Einstellung dazu. Ich kann mir zum Beispiel sagen: Um die gesetzten Ziele zu erreichen, muss es auch reichen, zu 80 Prozent eine gute Leistung zu erbringen. Wer dagegen überall perfektionistisch denkt, riskiert sicher eher, in eine Überforderungssituation zu geraten. Auch wer Aufgaben delegieren kann, lebt diesbezüglich gesünder. Das kann man bis zu einem gewissen Grad auch lernen.

Beobachter: Haben sich die Fragen an Psychologen über die letzten 30 Jahre verändert?
Rohner: Neu hinzu kamen sicher Fragen zu neuen Medien. Etwa das Flirten im Internet oder auf Social-Media-Kanälen. Es kann sehr belastend sein, wenn der Partner plötzlich herausfindet, was der andere da macht. Ist es schon Untreue, wenn man mit jemandem chattet? Wo liegt die Grenze? Da kommen heute neue Fragen, die in Beziehungen geklärt werden müssen. Ich denke auch, dass die Moral sich geändert hat. Vor 30 Jahren war es undenkbar, dass man etwa am Fernsehen öffentlich Werbung für Seitensprungportale macht. 

Beobachter: Wie ist das zu werten? Leiden wir unter einem Werteverlust?
Rohner: Ich würde eher sagen, es gibt einen Wertewandel. Wir verlieren alte Werte, aber wir gewinnen auch neue. Wenn es sich einspielen sollte, dass man auch Seitensprünge haben darf in einer Beziehung, dass das quasi normal wird in einer Gesellschaft, dann ist dagegen eigentlich nichts einzuwenden, solange alle Beteiligten damit leben können. Das kann ja auch als neue Freiheit bewertet werden.

Beobachter: In unserer Multioptionsgesellschaft soll alles möglich sein. Aber überfordert uns das nicht zunehmend?
Rohner: Das ist sicher eine zentrale Frage. Früher gab es diese Optionen nicht. Viele Lebensentwürfe waren aus ökonomischen Gründen quasi vorgegeben. Heute sind wir freier. Aber die Schwierigkeit ist, dass wir auch entscheiden und wählen müssen, was wir wollen.

Beobachter: Kommen wegen solcher Schwierigkeiten heute mehr Leute zum Psychologen?
Rohner: Erstaunlicherweise sind die häufigsten Problemfelder trotz allem gleich geblieben: Partnerschaft, Sexualität, dazu natürlich klassische psychologische Störungen. Etwa Angst vor dem Liftfahren, vor Spinnen, Suchtprobleme oder Depressionen. Darauf folgen Erziehungsprobleme, ganz am Schluss Konflikte am Arbeitsplatz. Auch die Internetsucht von Jugendlichen ist natürlich erst in den letzten Jahren als Erziehungsproblem aufgetaucht.

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«Vieles ist tatsächlich einfacher, als wir es uns vormachen. Oft geht es im Wesentlichen um eine Form der Liebe, die wir uns wünschen.»

Koni Rohner, Psychologe

Top 5: Die meistgelesenen Artikel von Koni Rohner auf www.beobachter.ch

  1. «Schämen die sich denn nicht?»
    Frage: «Im Wellnessbad schmusen immer wieder junge Paare und machen aneinander herum, als ob sie allein wären. Das stört mich. Muss ich mich damit abfinden?»

  2. «Energieräuber erkennen und loswerden»
    Frage: «Ich bin seit mehr als 30 Jahren verheiratet. Nun habe ich ein Buch über Energieräuber in der Beziehung gelesen – und mich endlich verstanden gefühlt.»

  3. «Was ist ein Mutterkomplex?»
    Frage: «Schon bei unserer Heirat hatte mein Mann Depressionen. Er leide unter einem Mutterkomplex, hiess es. Immer häufiger reagiert er aggressiv und zynisch und sagt, das hätte er von seiner Mutter. Können Sie mir erklären, was ein Mutterkomplex ist, damit ich mit unseren Problemen besser umgehen kann?»

  4. «Ich muss viel zu oft weinen»
    Frage: «Ich muss viel zu oft und viel zu heftig weinen, kann es nicht unterdrücken. Ich kann dann nicht mehr richtig reden, und die Leute sind unangenehm berührt und verlegen. In Therapien sagte man mir zwar, mein Weinen sei positiv. Aber ich fühle mich danach wie verkatert und völlig erschöpft.»

  5. «Kränkung: Wie gehe ich damit um?»
    Frage: «Schon öfter hat eine Kollegin ein gemeinsames Treffen kurzfristig abgesagt. Obwohl ich den Grund jeweils nachvollziehen kann, trifft es mich und macht mich ratlos.»

Beobachter: Wann liegt eine Störung vor? Ist das für deine Arbeit überhaupt wichtig?
Rohner: Mein Ansatz war stets die humanistische Psychologie nach Carl Rogers. Der Therapeut legt keinen Wert auf Diagnosen, sondern versucht, sich in den Klienten einzufühlen und ihn zu begleiten, ohne sein Erleben zu bewerten.

Beobachter: Wie muss man sich das vorstellen?
Rohner: Da kam zum Beispiel ein Paar bereits mit einer fertigen Diagnose in meine Praxis. Der Mann leide unter «Angst vor Nähe», das müsse man ihm jetzt abtrainieren. Ich habe diese Definition nicht einfach übernommen, sondern zusammen mit dem Paar unvoreingenommen versucht, den wirklichen Kern des Konflikts zu finden. Es zeigte sich, dass die beiden in Wahrheit unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft der Beziehung hatten. Als das auf dem Tisch lag, konnten wir dazu konstruktive Lösungen suchen.

Beobachter: Hattest du auch Anfragen, auf die du als Psychologe keinen Rat geben konntest?
Rohner: Einer hat mich mal gefragt, ob ich alle Briefe, die ich via Beobachter erhalte, auch vernichte. Es stellte sich heraus, dass er das wissen wollte, weil er Angst hatte, sein Problem zu schildern. Er outete sich als pädophil und litt unter diesem Bedürfnis, um Schulhäuser herumzustreichen, obwohl er wusste, dass das nicht gut war. Ich weiss, dass man diese Veranlagung nicht korrigieren kann, aber ein Therapeut kann Wege aufzeigen, wie man mit diesem Verlangen umgehen kann.

Beobachter: Führst du eigentlich Buch darüber, bei wie vielen Anfragen du helfen konntest?
Rohner: Ich habe über all die Zeit viele Feedbackbriefe erhalten. Vor einigen Jahren hat eine Studentin der Zürcher Fachhochschule für Psychologie bei den Ratsuchenden des Beobachters eine Umfrage gemacht. 18 Prozent der Befragten empfanden die Antwort als eine sehr grosse Hilfe, 52 Prozent als grosse. Wirklich wirksam ist bei tiefer sitzenden Konflikten natürlich nur eine Psychotherapie, in der sich Therapeut und Berater gegenübersitzen und in mehreren Sitzungen miteinander arbeiten. Aber ein Brief an den Beobachter kann ein erster Schritt sein, den Problemen ins Auge zu blicken, was dann in einer Psychotherapie seine Fortsetzung finden kann. 

Beobachter: Dann sind Psychologen bereits hilfreich in ihrer Funktion als «Briefkasten»?
Rohner: In gewisser Weise ja. Wenn man etwas aufschreibt oder, noch besser, einer anderen Person zugänglich macht, kommen Emotionen hervor, die verschüttet waren. Das ist bereits ein erster Schritt auf dem Weg zur Heilung.

Beobachter: Bist du aufgrund deiner Erfahrungen zu einer Art Lebenserkenntnis gelangt?
Rohner: Es war meine Aufgabe, über das Leben und dessen Sinn nachzudenken. Und darüber, wie man mit Schwierigkeiten umgeht, mit Modellen, die helfen können, besser klarzukommen mit Herausforderungen. Vieles ist tatsächlich einfacher, als wir es uns vormachen. Oft geht es im Wesentlichen um eine Form der Liebe, die wir uns wünschen, die wir brauchen, die wir aber auch geben wollen, um das Leben zu meistern. Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis. Dass die Liebe ein Geschenk ist und dass sie sich überall zeigen kann. Wir müssen nur lernen, sie zu sehen.