Zur Person

Tina Hascher, 51, ist Professorin für Schul- und Unterrichtsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern.

Beobachter: Waren Sie eine gute Schülerin?
Tina Hascher: Eigentlich nicht. Ich bin zwar erfolgreich durchs Schulsystem gekommen, aber ich war eine sehr pragmatische Schülerin.

Beobachter: Das heisst?
Hascher: Ich habe immer genau ausgerechnet, welchen Notenschnitt es braucht, um ein Jahr weiterzukommen, und dann genau so viel getan, damit es gereicht hat. Ich bin in Bayern in eine katholische Klosterschule gegangen. Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Es war sehr streng, die Fächerinhalte waren rückständig. Fast alle Lehrpersonen waren Klosterschwestern und hatten ein sehr enges Weltbild.

Beobachter: Was macht im Gegensatz dazu eine gute Lehrperson aus?
Hascher: Sie muss eine kognitiv anregende Lernumgebung schaffen, also auf das Vorwissen der Kinder eingehen, damit diese sich eigenständig mit dem Stoff auseinandersetzen können. Eine klare Struktur und ein gutes Klassenmanagement sind nötig, damit die Schüler konzentriert arbeiten und die Inhalte verstehen können. Zudem ist die Beziehungsebene extrem wichtig. Die Lehrkraft muss den Kindern weitergeben, dass ihr das Lernen aller am Herzen liegt, dass sie sozusagen Lernpartner ist. Und die Kinder müssen den Unterricht mitgestalten können.

Beobachter: Wie soll das gehen?
Hascher: Nehmen wir das Thema Haustiere, damit hat fast jedes Kind Erfahrungen. Als Lehrerin kann ich dieses Vorwissen nutzen und die Kinder bitten, ihr Wissen über ein Tier aufs Papier zu bringen. Name, Alter, Rasse, Verhalten, Bedürfnisse, Beziehung und so weiter. Wenn man dagegen einfach ein Arbeitsblatt über Haustiere verteilt, geht man über die Lebenswelten der Kinder hinweg.

Beobachter: Wie motiviert man Kinder im Unterricht?
Hascher: Laut der Selbstbestimmungstheorie gilt es, drei Grundbedürfnisse zu berücksichtigen. Erstens: die soziale Einbindung. Das Kind muss sich wohl fühlen in der Klasse, mit der Lehrperson. Zweitens: das Kompetenzerleben. Jedes Kind will dazulernen und muss auch die Chance dazu haben. Und drittens: das Autonomieerleben. Das Kind muss spüren, dass Lernen sinnvoll ist. Die Relevanz der Lerninhalte muss einleuchten.

Beobachter: Wie bringe ich die Schüler dazu, auch «Ungeliebtes» zu tun? Vokabeln büffeln, etwas über die Römer lernen?
Hascher: Indem Lern- und Leistungsphasen besser getrennt werden. Wenn sich die Kinder im Unterricht wegen Noten oder Lernberichten zum Teil unter Dauerbeobachtung fühlen, führt das zu Stress. Doch Schule ist zum Lernen da. Besser ist es, wenn die Lehrperson klar sagt: «Jetzt lernen wir diesen Stoff, ihr dürft fragen, ausprobieren, Fehler machen. Aber bis nächste Woche müsst ihr die Vokabeln können, am Mittwoch gibt es dazu einen Test.»

«Kinder müssen den Unterricht mitgestalten können.»

Beobachter: Ab welchem Alter sind Zeugnisnoten sinnvoll? 
Hascher: Wenn schon, dann möglichst spät, also frühestens ab der Mittelstufe. Lernkultur und Lernfreude müssen sich vorher frei entwickeln können, denn es ist halt einfach so, dass Kinder sofort Noten untereinander vergleichen. Das kann so weit gehen, dass sie sich gegenseitig abstempeln oder sogar fertigmachen. Die starke Orientierung an der nackten Zahl, die dann im Zeugnis steht, obwohl es ja eigentlich Ermessensspielraum gäbe, muss möglichst spät angesetzt werden. Noten können sich sehr negativ auf die Motivation auswirken. Eigentlich wäre ich dafür, gar keine Noten zu geben.

Beobachter: Wäre das denn immer noch leistungsorientiert? Fehlt dann nicht die Grundlage für die Übertritte in andere Schulen und Stufen?
Hascher: Es ist richtig, dass man Standards setzt und schaut, dass diese erreicht werden. Ein Beispiel: Man setzt eine Sprunghöhe fest und gibt an, welches Ziel es zu erreichen gilt, zum Beispiel 1,40 Meter. Dann wird bewertet, wer es darüberschafft. Dafür muss ich nicht differenzieren, ob das Kind 1,42 oder 1,43 Meter erreicht hat, und das dann als Note setzen. Es reicht, wenn das Hauptkriterium erfüllt ist. So können es theoretisch auch fast alle Kinder schaffen. Das macht die Bewertung auch für die Lehrer einfacher. Dann muss es mich auch nicht irritieren, wenn alle Kinder eine 5 oder 5,5 erhalten und ich nachträglich den Notenschnitt nach unten korrigieren muss.

Beobachter: Manche Lehrer geben in der Unterstufe bei Prüfungen keine Noten in Ziffern, sondern verwenden etwa Farben: Blau ist «sehr gut», Gelb ist «gut» und so weiter. Ist das sinnvoll?
Hascher: Ich finde das klug, weil es die Fixierung auf die Zahl durchbricht und trotzdem Orientierung bietet, wenn man eine Einteilung beibehalten will. Farben lassen sich zudem nicht zusammenrechnen. Und blau wie der Himmel, das ist doch ein schönes Ziel!

Beobachter: Wenn man dann aber doch Ziffernnoten geben muss, weil das so vorgeschrieben ist: Wie läuft eine möglichst gerechte Notengebung? 
Hascher: Transparenz ist ganz wichtig, also aufzuzeigen, wie die Note zustande gekommen ist. Dem Kind wie auch den Eltern gegenüber. Parallel muss die wertschätzende Beurteilung laufen, in der auch auf die individuelle Entwicklung Bezug genommen wird. Im Lernprozess muss das wie selbstverständlich einfliessen, damit das Kind weiss, wo es steht und woran es noch arbeiten muss, um sich zu verbessern. Kein Kind möchte eine schlechte Note.

Beobachter: Wie motiviert man Schüler, die schlechte Noten haben? 
Hascher: Es gibt relativ einfache Regeln. Zum Beispiel, sich kleine Ziele zu setzen, die innerhalb von Tagen oder Wochen realistisch erreichbar sind. Das gibt dann bereits ein kleines Erfolgserlebnis, wenn man es geschafft hat. Schlechte Noten haben vor allem eine lähmende Wirkung. Nach unten brauchen wir kein hochdifferenziertes System, ein «ungenügend» reicht.

Beobachter: Mit dem Lehrplan 21 soll die Schülerbeurteilung verfeinert werden. Wie genau? 
Hascher: Die Beurteilungskompetenz bleibt sicher bei der Lehrperson, aber die individuelle Lernentwicklung soll stärker miteinbezogen werden. Die Frage ist auch, inwiefern nichtfachliche Kompetenzen einfliessen sollen. Sollen Bemühen und Engagement auch benotet werden? Darüber herrscht Unsicherheit. Ich bin aber zuversichtlich, dass man sich finden wird. Eigentlich müsste man gemäss Lehrplan 21 ja keine Noten geben, aber so weit sind wir noch nicht.

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Quelle: Janosch Abel