Selbstverständlich fragt man mich immer als Erstes: Wie kommst du dazu? Ja, wie komme ich dazu, seit Jahren einem Mörder zu schreiben?

Der äussere Anlass war ein Artikel in der Zeitung gewesen. Es gebe einen Schweizer Verein, der Todeskandidaten betreue. Ich schrieb dem Verein eine E-Mail. Eine Frau rief mich an. Vermutlich wollte sie herausfinden, ob mein psychisches Korsett stark genug wäre, um den möglichen Abgang des Todeskandidaten zu verkraften.

Nach einer Weile fragte sie: «Hast du Verwandte in den USA?» – «Du meinst, um ihn zu besuchen?» – «Wer weiss.» – «Egal, gib mir den obersten auf der Liste.»

Der innere Anlass – also mein Motiv – war mir nicht klar; ich trug die Idee tagelang mit mir herum.

«Was meinst du, habe ich ein Helfersyndrom?», fragte ich meinen Freund Josef. «Was meinst du denn selbst?», fragte er zurück. Er ist Psychiater. Die Antwort hatte ich mir schon überlegt: «Ich glaube nicht. Ich bin gegen die Todesstrafe. Kein Staat sollte seine Bürger umbringen.» – «Was die Gesellschaft nicht geben kann, soll sie nicht nehmen», sagte Josef. Weil ich nicht auf Josefs erbitterten Widerstand traf, schmolz mein eigener.

Vor Jahren habe ich «Zufälliger Tod eines Anarchisten» gelesen, ein Theaterstück von Dario Fo. Er stellt darin die Frage, was man als demokratischer Staat tun soll mit einem Bürger, der den Staat aus den Angeln heben will. Mit aller Gewalt.

Soll der Staat dem Anarchisten die tödliche Spritze verpassen? Ihn im Gefängnis schmoren lassen? Und wenn er in der Einzelzelle endlich irr geworden ist, ihn mit Pillen vollpumpen, bis sein Kreislauf versagt?

Fo gibt eine Antwort, aber eigentlich wählt er den Notausgang: In seinem Stück fällt der Anarchist während des Verhörs aus dem Fenster. Ein Zufall?

Der oberste auf der Liste war Esteban. Okay, Esteban. Er sitzt in Texas in der Todeszelle. Und nun? Was würde ich tun, wenn er ein sadistischer Kindsmörder ist? Ein brutaler Serienvergewaltiger? Ein Attentäter, der Dutzende von Schülern erschossen hat?

In den USA ist beinahe jede Akte öffentlich. Man muss sie bloss finden. Ich fand seinen Fall, setzte mich hin und schrieb.

Hier bin ich, dein neuer Pen pal. Mein Name ist René, ich bin ein Mann, geboren in Zürich, aufgewachsen in den Bergen. Ich habe deinen Namen gegoogelt, ich sah dein Gesicht, und ich las, weswegen du verurteilt wurdest.

Dann ging ich zum Kühlschrank und füllte ein Glas mit Weisswein.

Während ich hier am Tisch sitze, meinem Arbeitstisch, der auch mein Esstisch ist, denke ich an dich, ich denke an uns, zwei Männer, die der Zufall zusammengeführt hat. Wir haben zwei Mütter. Die eine wählte für ihr Kind einen spanischen Namen, die andere einen französischen. Und jede der Mütter hoffte, als sie ihren kleinen Sohn im Arm hielt und ihn ansah, er würde glücklich werden und sein Leben ein gutes. Ich dachte gerade: Wie siehst du wohl heute aus? Das Foto, das ich im Internet gesehen habe, ist ein paar Jahre alt. Mein Vater lebt nicht mehr. Ich habe eine Schwester. Ich dachte gerade: Hättest du lieber eine Frau, die dir schreibt? Weisst du, ich habe keinen anderen Brieffreund. Ich hoffe, du hast weitere.

Es ist ruhig geworden in Zürich. Es ist bald Mitternacht. Es ist nicht mehr so heiss jetzt. Ich fülle mir nochmals das Glas.

Wir haben keine Geschichten, die wir teilen. Es ist nicht leicht, jemandem zu schreiben, mit dem man nichts geteilt hat. Wenn du magst, erschaffen wir uns unsere eigene Geschichte. Ich hoffe, du schreibst zurück. Pass auf dich auf. René.

Ich ging zum Treffen der Leute, die Todgeweihten Briefe schreiben. Es waren mit zwei Ausnahmen (ich war eine davon) Frauen.

Die eine sagte: «Meiner ist fast nicht in der Lage zu antworten. Er schreibt wie ein Kind.» Die andere sagte: «Meiner hat sich zu Gott bekehrt. Das war ein schöner Moment.» Die nächste sagte: «Meiner will Geld.» Und dann sagte eine: «Als meiner starb, zündeten wir Kerzen an und weinten.»

Ich schwieg. Und trank mein Bier.

Zu Hause zündete ich eine Kerze an und dachte an die Menschen, die getötet wurden durch die Männer, denen wir schreiben.

In dieser Hinrichtungskammer wird Esteban dereinst sterben – höchstwahrscheinlich:



Der letzte Schweizer wurde im Jahr 1940 hingerichtet. Mit dem Fallbeil. In Sarnen. Das Fallbeil hatte man sich aus Luzern ausleihen müssen. Die Witwe des erschossenen Polizisten hatte sich vergeblich gegen das Töten des Mörders ihres Mannes ausgesprochen.

In den USA werden seit 1977 wieder Menschen von Staates wegen umgebracht. 1418 sind es, während ich diese Zeilen schreibe. Die meisten starben durch eine Spritze. Wie viele Unschuldige waren darunter?

Manche US-Bundesstaaten führen eine Todesliste. Ohio etwa. Bis im Jahr 2017 sollte jeden Monat ein Häftling hingerichtet werden. Doch weil nicht sichergestellt ist, dass man das Gift für die Spritze auftreiben kann, setzte Ohio die Hinrichtungen aus.

Jede Hinrichtung schafft weitere Opfer. Was geht im jungen Enkel vor, dem man sagen muss: «Der Staat hat deinen Grossvater hingerichtet.»? Wie fühlt sich die Ehefrau? Wie trifft der Schlag den Götti? Den besten Freund?

Die Schwester, die ihren Bruder erst umarmen durfte, als er tot war, werde ich nie vergessen. «Es war der schlimmste Tag meines Lebens», sagt sie in einem Film von Fabian Biasio. Sie schluchzt so unkontrolliert, dass mir die Augen überlaufen. Ihr Bruder hatte eine Frau umgebracht. Er war geistig krank, beteuert die Schwester, es war eine unglückliche Situation, er pflückte die Frau irgendwo auf und nahm sie zu sich. Sie ging freiwillig mit. Beide hatten getrunken. Er wollte Sex, die Frau nicht.

«Er hatte eine solche Angst in den Augen, als er dort lag, allein», sagt die Schwester. Als sie ihren Bruder berührte, ein letztes Mal, hatte das Gift seine Venen geflutet.

Esteban schrieb zurück. Als ich seinen Brief fand, zwischen der üblichen Post, schluckte ich leer. Er war gestempelt mit GENERAL OFFENDER CORRESPONDENCE. Esteban darf keine E-Mails senden. Er hat kein Internet. Er hat kein Fernsehen. Alles, was er von mir und anderen liest, und alles, was er schreibt, wird kontrolliert.

Esteban hatte anderthalb Jahre lang auf einen Brief gewartet, schrieb er.

Seine Handschrift war eine Entdeckung. Selten hatte ich eine so schöne Schrift gesehen. Ebenmässig, eigenständig, souverän. Das ist kein Analphabet, der jeden Buchstaben umdrehen muss. Das ist ein heller Geist. Was ist geschehen in seinem Leben? Warum will der Staat diesen Mann auslöschen?

Esteban hat eine Frau getötet. Er brauchte Geld für Heroin. Die Frau hatte keins oder wollte es ihm nicht geben. Es gibt keinen Grund, jemanden umzubringen. Ich schrieb ihm, in meiner Nachbarschaft gebe der Staat Süchtigen Heroin gratis ab. Unter ärztlicher Kontrolle. «Echt?», antwortete er, in seinem Land drehe sich alles ums Geld.

«Vergeben kann man ihnen nicht», hat mein Freund Josef gesagt, «aber man muss sie isolieren, um die Gesellschaft zu schützen.»

Ein Buch durfte ich Esteban schicken, via Amazon oder Hamilton-Books, aber bloss nichts Erotisches. Die Liste verbotener Bücher in texanischen Gefängnissen ist lang. Sie umfasst mehr als 12'000 Bücher. Der Index des Vatikans zählte 6000 Bände. Er wurde im Jahr 1962 aufgehoben.

Esteban schrieb, er stehe stundenlang am Fenster und schaue Vögeln zu. Also schickte ich ihm ein Buch über die in Texas heimischen Vögel. Und weil ich dachte, der arme Kerl hat ja keinen Auslauf in seiner Zelle von sechs Quadratmetern, bestellte ich ihm ein Pilates-Buch. Das gefiel ihm, «vor allem wegen der Girls», die verschiedene Positionen einnahmen. In Leggings.

Wir tauschten frühe Kindheitserlebnisse aus. Ich erzählte ihm von meiner Jugend in den Bergen, er mir von seinen ersten Jahren in der Grossstadt in Texas. Ich, der Geissenpeter, der mit der Grossmutter Arnikablüten sammeln ging und mit dem Onkel Pilze. Er, der verschreckte Dreijährige, den der Vater aus dem Bett hob, als das Haus in Flammen stand. Ich über die Katze, die ich am Schwanz gezogen hatte, und über das Skifahren. Er über den Kiff, den man ihm in die Finger gedrückt hatte, und wie er aus dem Schlaf hochschoss, weil eine sturzbetrunkene Frau in sein Bett gestiegen war. Da war er elf.

Nach zwei Jahren schrieben wir einander: Mein Freund.

Nach drei Jahren verschob man Esteban im Gefängnis eine Reihe näher zur «Execution Chamber», und ich geriet in Panik.

Ich buchte am selben Tag einen Flug. Da ich auf der Besucherliste stand, durfte ich Esteban sehen. Maximal zehn Leute stehen auf der Liste, und die wird bloss alle sechs Monate erneuert. Wir würden uns treffen. Aber nur so, wie er seine neugeborene Enkelin hatte treffen dürfen: durch ein doppelverglastes Fenster. Unterhalten würden wir uns per Telefon.

Houston ist ein Monster ohne Zentrum. Von einem Hochhaus zum nächsten geht man zu Fuss ein paar Minuten. Vom Hotel zum Restaurant nimmt man ein Taxi. Man sitzt ständig im Taxi. Das Gefängnis ist eine Autostunde entfernt.

Per Smartphone am Flughafen fand ich ein Hotel. Die Frau an der Rezeption hiess Gladys. «Oh, Sie kommen aus Europa», sagte sie. «I would die to see Paris.»

Die günstigen Zimmer seien allesamt ausgebucht, bedauerte sie. Aber sie habe eins, das mir gefallen würde. «Have a ball!»

Die Suite lag im 11. Stock und war grösser als meine Wohnung in Zürich. Und etwa zwanzig Mal so gross wie Estebans Zelle.

Ich stand auf dem Balkon, rauchend, und meine Augen suchten die Gegend ab. Das Gefängnis entdeckte ich nicht, wie denn auch? Everything’s big in Texas.

Ich würde Esteban ja bald sehen, dachte ich.

Da klingelte das Telefon. «Ist alles in Ordnung?», fragte mich eine Männerstimme. «Wir haben Rauch gesehen auf Ihrem Balkon.»

Es kam nicht zum Treffen.

Estebans Prozess werde neu aufgerollt, teilte mir sein Pflichtanwalt mit. Der Todeskandidat sei in eine andere Stadt verlegt worden, in ein anderes Gefängnis, und dort gelten andere «rules».

Ich flog zu Freunden nach Mexiko weiter. Weder enttäuscht noch erleichtert. Mit der Liste der «rules» im Kopf, was den Besucher erwartet, wenn er einen Häftling im Todestrakt besucht.

Ich solle mir weniger Gedanken um ihn machen, er sei noch ein paar Jahre am Leben, schrieb er mir und legte eine Zeichnung bei. Sie zeigt mich im Alter von zwanzig Jahren.

Wir schrieben uns etwas weniger, die Abstände wurden länger.

Von meinen letzten Ferien, im September auf Naxos, schickte ich ihm eine Postkarte. Ich wusste, er mag meine Postkarten. Nun liegt die Karte zu seinem Geburtstag bereit.

«Warum hast du keinem Angehörigen der ermordeten Frau geschrieben?», hatte Josef gefragt. «In den Dokumenten war von ihrem Bruder die Rede, aber ich fand seine Adresse nicht.»

Der Berufungsprozess zieht sich hin. Seit einem Jahr ist Esteban im anderen Gefängnis. Die Verwaltung gab ihm eine neue Nummer. Keine mehr, die mit 999 beginnt – den Ziffern der Todeskandidaten.

Er dürfe auf das Dach des Gefängnisses, schrieb er im letzten Brief. Das sei schön, die Weite, die Sonne. Oben habe es Vögel. Beim zweiten Mal nahm er ein Stück Brot mit. Nach fünf, sechs Besuchen hatten die Vögel gelernt, dass Esteban ihnen Futter verteilt. «Die Birds warten schon auf mich», schrieb er. Und er warte jeden Tag darauf, wieder aufs Dach steigen zu dürfen und den Himmel zu sehen und die Vögel zu füttern.

Seine Mitgefangenen gaben ihm einen neuen Namen. Er heisst nun Birdman.

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In einer aufwühlenden Videoreportage hat der Journalist Fabian Biasio unter dem Titel «Leben und Tod in Texas» Todeskandidaten sowie die Angehörigen von Opfern und Tätern begleitet:
Zur Reportage der NZZ

Für diesen Blog schreiben Häftlinge, die in der Todeszelle sitzen:
Blog: Minutes Before Six

Diese Schweizer Organisation koordiniert Brieffreundschaften mit Häftlingen in der Todeszelle:
Lifespark: Bewegung gegen die Todesstrafe