«Ihr Sohn ist bei uns auf dem Posten, steht füdliblutt da und weint», habe der Polizist gesagt. «Er macht auf Mitleid. Aber das machen alle.» So schildert Marianne Hediger (Namen der Betroffenen geändert) das erste Telefongespräch mit dem zuständigen Kantonspolizisten in Wetzikon ZH im Mai letzten Jahres. Man habe ihren 14-jährigen Sohn Raphael wegen Teilnahme an einem Raubüberfall verhaftet, habe der Polizist erklärt. Die Mutter war geschockt.

Eine halbe Stunde zuvor standen vier Polizisten vor der Schulzimmertür der Oberstufenklasse in Wetzikon. Raphael Hediger und sein Kollege Cyrill Amherd wurden getrennt auf den Posten gefahren. Auf Raphaels Frage, was los sei, habe der Polizist erwidert, er solle nicht so unschuldig tun. Cyrill habe man gefragt, ob er es nicht gleich zugeben wolle. «Ich dachte, es sei ein Scherz, versteckte Kamera», erzählt er.

Doch es war kein Scherz. Die beiden kamen in Einzelzellen – keine Fenster, Türen ohne Klinken – und durften mit den Eltern keinen Kontakt aufnehmen. Beide hatten noch nichts zu Mittag gegessen.

Der Vorwurf: Raubüberfall, 10 Franken Beute

Cyrills Mutter, Ursula Amherd, erlebte die Polizei ebenfalls als unhöflich und voreingenommen. Ihr Sohn und drei weitere Jugendliche hätten einen Mitschüler in einer Unterführung niedergeschlagen und ihm 10 Franken gestohlen, erfuhr sie von der Polizei erst Stunden nach der Verhaftung. Auch die beiden anderen 14-Jährigen wurden später festgenommen. Am Verdacht sei etwas dran, habe der Polizist gesagt, erzählt Ursula Amherd. «Aber solange das nicht bewiesen ist, können Sie das doch noch nicht wissen», habe sie entgegnet. Er habe halt Erfahrung, habe der Polizist gesagt.

«Das sind haltlose Vorwürfe gegen die Polizei», erklärt Marcel Strebel, Mediensprecher der Kantonspolizei Zürich. Beim fraglichen Telefonat habe der zuständige Kaderfunktionär den Eltern dargelegt, dass einer der Jugendlichen weine, was nach seiner Erfahrung nichts Aussergewöhnliches sei. «Die Leibesvisitation fand aber in einem dafür vorgesehenen separaten Raum statt, wie das üblich ist.» Mit Sicherheit sei den Eltern nicht gesagt worden, die Kinder hätten die Tat begangen, sagt Strebel. Ihnen sei aber der dringende Tatverdacht mitgeteilt und eröffnet worden, dass die Kinder von einem Opfer konkret beschuldigt würden. Das gehöre zur Pflicht der Polizei.

Als sie von Cyrills Verhaftung erfuhr, kamen Ursula Amherd dann doch Zweifel: «In was hat er sich da reinziehen lassen?» Abklärungen bei einem Anwalt ergaben, dass sie in den ersten 24 Stunden nichts für ihr Kind machen könne. «Das Schlimmste war, dass wir nicht einmal das Recht hatten, mit ihnen zu reden», klagen die Eltern.

Die Söhne wurden am Nachmittag verhört. «Wenn Sie meinen, dass ich das gemacht habe, muss ich jetzt diese Krankheit haben, bei der man alles vergisst», sagte Raphael den Polizisten. Gegen 18 Uhr wurden die Jugendlichen in Handschellen und im Gitterwagen einzeln nach Zürich ins Polizeigefängnis gefahren. Erst dort bekamen die 14-Jährigen zu essen und zu trinken. Mediensprecher Marcel Strebel bezweifelt, dass die Jungen so lange ohne Nahrung waren, kann es aber nicht ausschliessen. In der Regel biete man Festgenommenen auf dem Posten zu essen und zu trinken an.

«Es mags mir keiner glauben»

Raphael verbrachte die Nacht in einer Zweierzelle, zusammen mit einem 18-jährigen Straftäter. Cyrill fand lange keinen Schlaf. Am Morgen, als sie in ihren Zellen aufwachten, brachen beide zusammen. Cyrill weinte, Raphael schrieb unter Tränen einen Brief an seine Mutter. «Ich bin eigentlich unschuldig, aber es mags mir keiner glauben. Ich hoffe nur, dass ich am Samstag wieder draussen bin wegen deinem Geburtstag…»

Wieder in Handschellen und im Gitterwagen wurden sie nach Uster zum zuständigen Jugendanwalt gebracht. Der befragte sie kurz und liess sie dann frei. Trotzdem wurde Raphael vom Wachpersonal in Handschellen herangeführt, als ihn die Eltern in Empfang nehmen wollten. Abgenommen wurden die Fesseln erst, als die Eltern beim Jugendanwalt protestierten.

Die Strafverfahren wurden nach fünf Monaten eingestellt. Eine fachärztliche Begutachtung des Anzeigeerstatters kam zum Schluss, dass dieser den Raubüberfall erfunden hatte. Nun wird gegen ihn ermittelt.

Für die erlittene Unbill erhielten Raphael und Cyrill eine Entschädigung von je 100 Franken. Doch um die Einstellungsverfügung mussten sich die Eltern wochenlang, um das Geld gar monatelang bemühen. Vater Amherd versteht zwar die allgemein härtere Gangart gegen Jugendliche. «Aber müssen wirklich vier Polizisten Kinder in der Schule verhaften, sie stundenlang in Einzelzellen gefangen halten und in Handschellen herumfahren?» Die Hysterie um die Jugendkriminalität treibe seltsame Blüten.

«Die Polizisten haben korrekt und verhältnismässig gehandelt», entgegnet Polizeisprecher Marcel Strebel. «Es ging um ein Raubdelikt, also nicht um eine Bagatelle, und es bestand dringender Tatverdacht.» Keinen Gedanken verschwendet die Kantonspolizei offenbar daran, wie sie in Zukunft ähnliche Fehler vermeiden könnte – dass sie etwa den Anzeigeerstatter etwas genauer hätte unter die Lupe nehmen können. Dieser war erst seit zwei Tagen als Schnupperschüler in Cyrills und Raphaels Klasse, kam aus einem Heim und war seit Jahren in psychologischer Behandlung.

Auf den Punkt brachte es Cyrill nach seiner Freilassung. Er fragte: «Kann ich denn jetzt einfach zur Polizei gehen und sagen, der und der hat mir etwas gestohlen, und dann kommt der in die Kiste?»

Polizeidatenbank: Einmal drin, immer drin?

Auf Begehren der Eltern löschte die Zürcher Kantonspolizei zwar die erkennungsdienstlichen Daten wie Fingerabdrücke der unschuldig verhafteten Jugendlichen Cyrill und Raphael (siehe oben im Haupttext). Doch der Eintrag des Strafverfahrens in der Polizeidatenbank Polis bleibe bestehen, man füge bloss «Verfahren eingestellt» hinzu. «Somit bleibt ein Tolggen im Reinheft – obwohl sie unschuldig sind», kritisieren die Eltern. Die Polizei dagegen ist überzeugt, das Anliegen «im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben umgesetzt zu haben».

Genau das ist aber nicht der Fall. Das Bundesgericht hat am 30. September 2008 (Urteil 1C_51/2008) festgehalten, dass die Polizei sämtliche Daten löschen muss, wenn «der Betroffene versehentlich in eine Strafuntersuchung geraten ist». Das war hier offensichtlich der Fall: Die Jungen wurden von einem psychisch kranken Mitschüler zu Unrecht angezeigt. Die Kantonspolizei Zürich widersetzt sich also dem Bundesgericht.

Datenlöschungs-Mustergesuch (.doc; 98 kb)