Bei Familie Wille gibt es Grund zum Feiern im Herbst 1912. Ulrich Wille senior, der spätere General, empfängt im September Kaiser Wilhelm II. Der deutsche Gast besucht Manöver, die Wille leitet. Diesen freut die Kaiservisite umso mehr, als er mit der Deutschen Clara Gräfin von Bismarck verheiratet ist; sie haben zwei Töchter und drei Söhne, einer davon ist Ulrich Wille junior, Major der Schweizer Armee. Der Junior darf bei den Manövern das Amt des Platzkommandanten versehen.

Am 10. November 1912 können Willes erneut die Sektgläser füllen. In Olten trifft sich der Stiftungsrat einer neuen Organisation zur konstituierenden Sitzung; es ist die Geburtsstunde der Pro Juventute. Präsident der Stiftungskommission und Vizepräsident des Stiftungsrats ist Ulrich Wille junior, der bis zum Tod 1959 im Amt bleibt. Zwei Jahre lang hat er mit der Tuberkulosekommission und der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft die Gründung vorbereitet.

Er will für Deutschland in den Krieg

Ulrich Wille war eine zentrale Gründerfigur der Pro Juventute. Daran erinnert sich die Stiftung, die dieses Jahr ihren 100. Geburtstag feiert, jedoch nicht gern. Als er am 14. Februar 1959 mit 82 Jahren starb, würdigten Stiftungsleitung und Prominenz das Wirken Willes noch in höchsten Tönen. Walter Schneider-Mousson, Präsident der Bezirkskommission Zürich, meinte: «Ulrich Wille […] hat bis in die Bezirke hinab keine Aufgabe gescheut und tatkräftig sich allen Notwendigkeiten gestellt. Er hat entscheidend mitgewirkt, dass die Stiftung eine der schönsten schweizerischen Einrichtungen der Gemeinnützigkeit geworden ist.» Später ist man leiser geworden, weil viel Zweifelhaftes zur Person Wille ans Licht kam. In der Festschrift zum 75-jährigen Bestehen 1987 wird Wille nur mit zwei Zeilen erwähnt: «Das Präsidium der Stiftungskommission übernahm der damalige Major Ulrich Wille […]. Der spätere Korpskommandant hatte sich schon im Vorfeld der Gründung grosse Verdienste erworben.» Nun betont die Stiftung, die «Gesinnungen und Handlungen der Personen jener Zeit» seien für die heutige Pro-Juventute-Generation «in keinster Weise nachvollziehbar» (siehe nachfolgende Box «Pro Juventute»).

Denn Wille, 1877 geboren, ist nicht nur Menschenfreund, sondern in erster Linie Militär. Als Dr. iur. schlägt er eine steile Armeekarriere ein und veröffentlicht zahlreiche Schriften, etwa zum «Alten, wahren Soldatengeist» (1904). 1910 wird er Major, 1917 Oberstleutnant, 1922 Oberst, 1928 Divisionär, 1933 Korpskommandant. Den preussischen Militarismus bewundert er noch mehr als sein Vater. 1906/07 leistet er Dienst in Potsdam und schwärmt: «Ich habe mein Ausland-Kommando […] angetreten mit dem Bewusstsein, dass ich seit meinem ersten militärischen Denken die deutsche Armee mit Augen der Bewunderung betrachtet habe.» Fazit des damals 30-Jährigen: «Ich habe die deutsche Armee verlassen mit der Überzeugung, dass [sie] zuversichtlich in einen Krieg ziehen darf.»

1914, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, will Ulrich Wille «in die deutsche Armee übertreten und Deutschland in seinem Kampf aktiv unterstützen», wie Historiker Alexis Schwarzenbach in seiner Familienchronik «Die Geborene» (2004) festhält. Er ist Nachfahre von Renée Schwarzenbach-Wille, der Schwester von Wille junior. Nur mit Mühe kann die Familie den heissblütigen Sohn vom fremden Kriegsdienst abbringen; die Armee seines Vaters hätte ihn als Deserteur aburteilen müssen. Wenig später sollte es der Vater sein, der Geschichte schreibt: Als General lässt er seine Truppen 1918 beim Landesstreik aufs aufgebrachte Volk schiessen.

«Er wäre der Mussolini für Deutschland»

Gleich nach dem Ersten Weltkrieg knüpft Wille junior Kontakte zu führenden Köpfen der völkischen Bewegung in Deutschland. Ab 1919 reist er nach München und Berlin und besucht politische Veranstaltungen, wo er auch Reden hält. Laut Alexis Schwarzenbach tritt er etwa beim Alldeutschen Verband auf, der «durch antidemokratische, antisozialistische und antisemitische Propaganda aufgefallen war». Sein Engagement ist so glühend, dass Schwester Renée ins Tagebuch notiert: «Ach, er wäre wohl der Mussolini für Deutschland. Aber das geht nicht, leider.» Im Oktober 1922 kommen Mussolinis Faschisten in Italien an die Macht, bald gilt Hitler als der «Mussolini Deutschlands». Immerhin kann Wille Mussolini einst persönlich treffen, als er Ferien in der deutschen Botschaft in Rom macht.

1922 freundet sich Wille mit Rudolf Hess an, dem späteren Hitler-Stellvertreter, der damals in Zürich studiert und fortan einmal pro Woche zum Mittagessen in Willes Zürcher Prunkvilla Schönberg einkehrt. Durch Hess lernt Wille die Nationalsozialistische Partei NSDAP und deren Führer Adolf Hitler kennen. Ab Herbst 1922 sind Hess und andere NSDAP-Spitzen regelmässig zu Besuch bei Willes in Zürich oder Horgen, wo der Clan einen Landsitz hat. Laut Alexis Schwarzenbach geht es bei diesen Visiten vor allem darum, Geld für die Partei zu sammeln. Die Spenden erfolgen anonym, «damit keine schriftlichen Beweise für die Unterstützung einer Partei existierten, die sich mit ihren Umsturzplänen auf dem Weg in die Illegalität befand».

Wille junior unterstützt die antidemokratische Bewegung tatkräftig. 1922 entwickelt er mit Grossadmiral Alfred von Tirpitz «Pläne zur Errichtung einer Diktatur in Deutschland», so Schwarzenbach. Weil er abklären will, ob Hitler bei diesem Umsturz hilfreich sein kann, reist Wille im Dezember 1922 an eine Hitler-Veranstaltung nach München. Er trifft ihn zu zwei Privatgesprächen und berichtet: «Heute will ich nur melden, dass Hitler mir einen guten Eindruck gemacht hat und seine Person und Arbeit für die Zukunft von grosser Bedeutung ist.» Bei einem dieser Treffen übergibt Wille Hitler 2000 Franken.

Hitler und Hess zum Essen eingeladen

Ein Jahr später doppelt Wille nach: Er lädt Hitler nach Zürich in seine Villa ein, damit der «Führer» einen Vortrag halten und eine Kollekte aufnehmen kann. Dieses Treffen, das der Historiker Willi Gautschi akribisch nachgezeichnet hat, findet am 30. August 1923 statt. Hitler hat «zu Studienzwecken» ein Visum für acht Tage erhalten. Das deutsche Generalkonsulat in Zürich notiert, der «Münchner Antisemitenführer Adolf Hitler» habe in der Schweiz «mit alldeutschen Kreisen Fühlung [auf-]genommen». Besonders herzlich sei der Empfang in Zürich verlaufen, so Gautschi; dort sei er «zusammen mit Hess an den Tisch der Familie Wille eingeladen» worden.

Laut einem Dokument des bayrischen Staatsministeriums des Äussern ist es Hitler damals gelungen, «30'000 Schweizerfranken aufzubringen». Heute wären das über 600'000 Franken. Hitler revanchiert sich drei Jahre später: Wille erhält von ihm eine signierte Ausgabe der Streitschrift «Mein Kampf», in der Hitler unter anderem die Vernichtung der jüdischen Rasse fordert. Wille bedankt sich artig bei Hitler.

Die Nazi-Kontakte fliegen auf

1927 kommt es zu einer Episode, die Willes Gesinnung offenkundig macht. Am 4. März befasst sich der Bundesrat mit einem Vortrag Willes bei der Generalversammlung der kantonalen Offiziersgesellschaft. Darin behauptet Wille, der Schweiz könnte von Frankreich und Italien ein militärischer Angriff drohen. Zudem kritisiert er den Völkerbund und das Haager Schiedsgericht als «uneidgenössisch». Darauf klopft der italienische Gesandte in Bern bei Bundespräsident Giuseppe Motta an und verlangt eine Klarstellung. Motta wiegelt ab: Die militärischen Szenarien hätten «rein technischen Charakter» gehabt – dass Wille aber Völkerbund und Haager Tribunal ablehne, sei «unbedingt zu beanstanden».

Auch im Januar 1933, zur Zeit der Machtergreifung Hitlers, behält Wille Kontakt zu den Nazis, vor allem zu Rudolf Hess. Ihm gegenüber lobt er Anfang 1933 den Machtantritt der Nazis; postwendend bedankt sich Hess beim getreuen Schweizer: «Die Anerkennung des Erfolgs Hitlers gerade von Ihrer Seite […] war mir eine besondere Genugtuung.» Im März 1934 reist Wille erneut nach München. Nach dem Mittagessen mit Hess erscheint auch Hitler zum Tee, man diskutiert angeregt. Ein Begleiter Hess’ gibt zu Protokoll, das Treffen sei eines der «angenehmsten» mit Hitler gewesen; selten habe er diesen «so aufgeschlossen» und den Schweizer Offizier Wille «auf solcher Höhe staatsmännischer und wehrpsychologischer Geschicklichkeit» erlebt.

Ulrich Wille kann seine Nazi-Kontakte bisher vor der Öffentlichkeit verbergen, indem er familiäre Beziehungen vorschiebt (zwei seiner Töchter leben in Deutschland). Doch im September 1934 kommt es zum Eklat: Die Presse erfährt von den engen Kontakten des hohen Militärs, mehrere Parlamentarier fordern seine sofortige Entlassung aus der Armee. Am 6. November 1934 muss Bundesrat Rudolf Minger im Parlament Stellung nehmen – er kann den Rauswurf Willes knapp verhindern. Der Gesamtbundesrat rügt jedoch den Militär: «Etwas mehr Vorsicht von Seiten des Herrn Wille [wäre] am Platze gewesen.» Im August 1939 folgt dessen herbste Niederlage: Das Parlament wählt den Welschen Henri Guisan zum General – Wille geht leer aus.

Allmählich beginnt der Lack vom Denkmal «Wille jun.» abzublättern. Ende der dreissiger Jahre bildet sich in der Schweiz eine antideutsche Offiziersbewegung, deren gewichtigstes Feindbild Wille junior ist: «Es ist klar, dass Ully [Übername von Wille] als der gefährlichste deutschfreundliche Offizier gilt», merkt Alexis Schwarzenbach an. Die Zürcher Polizei führt über Wille ein Dossier wegen Verdachts auf Landesverrat. Laut Niklaus Meienbergs Studie «Die Welt als Wille und Wahn» (1987) hat Wille auch Beziehungen zu Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels, Reichsführer SS Heinrich Himmler und anderen Nazigrössen.

Wurden wichtige Dokumente vernichtet?

Wille ist seit geraumer Zeit Mitglied des Volksbunds für die Unabhängigkeit der Schweiz, einer deutschfreundlichen Gruppierung aus dem Dunstkreis der Schweizer Frontisten. 1940 drängt er Bundesrat Ernst Wetter dazu, die Führer der Nationalen Bewegung der Schweiz, die vom Deutschen Reich als «repräsentative nationalsozialistische Organisation in der Schweiz» bezeichnet wird, im Bundeshaus zu empfangen. Im November 1940 wird sie wegen ihres extremen Gedankenguts verboten. 1941 macht sich Wille in einem vertraulichen Memorandum an Bundespräsident Wetter gar zum persönlichen Fürsprecher des «Führers», «weil Hitler gleich wie jeder Deutsche im Grunde seines Herzens schwer darunter leidet, überall mit den Hunnen u.s.w. verglichen zu werden. Er [Hitler] habe wenigstens bei uns, die wir Deutschland benachbart sind, allmählich auf eine anständigere und gerechtere Beurteilung gehofft.»

1942 wird der in Verruf geratene 65-Jährige aus der Armee entlassen – «aus Altersgründen», wie es offiziell heisst, wobei sein Vater ja noch im Alter von 66 Jahren General geworden war. Das Erste, was der Geschasste tut: Er reist wieder nach Deutschland und besucht hohe Nazis, unter anderem Gottlob Berger, Chef des Berliner SS-Hauptamtes. Berger notiert, Wille sei «sehr alt geworden» und komme als Kollaborateur nicht mehr in Frage: «Er scheidet meiner Meinung nach für eine politische Führungsaufgabe aus.» Im Klartext: In früheren Jahren wäre Wille junior als Umsturzhelfer mit Sitz in der Schweiz für die Nazis eine Option gewesen. Der Schweizer seinerseits hält seinem engsten Nazi-Freund treu die Stange: Noch 1945, als Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess als Kriegsverbrecher angeklagt ist, lässt ihm Wille herzliche Grüsse ins Gefängnis übermitteln.

Hat die politische Gesinnung Ulrich Willes dessen Engagement für Pro Juventute und speziell fürs «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», das Kinder von Fahrenden ihren Familien entzog, beeinflusst? Aus den verfügbaren Akten kann das nicht abgeleitet werden, obwohl es Wille junior ist, der 1929 mit Erfolg Bundessubventionen fürs «Hilfswerk» beantragt. Sicher ist: Wille hat ein grosses Beziehungsnetz und grossen politischen Einfluss. Engagiert lobbyiert er für die Sache der Pro Juventute, und sein Wort hat Gewicht. Ein Beispiel: Braucht er für seine Stiftungskommission ein Sitzungszimmer, kann er auch mal kurzerhand das Vorzimmer des Ständeratssaals im Bundeshaus reservieren.

Laut dem Basler Volkskundler Walter Leimgruber ist gerade die Gründungszeit des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» «sehr schlecht dokumentiert»; vermutlich sei nach dem Krieg vieles weggeworfen worden. Das Privatarchiv Wille wiederum steht für Nachforschungen nicht zur Verfügung, wie die Familie dem Beobachter mitteilt. Der Zufall will es, dass sowohl Stiftungsinitiant Wille als auch «Hilfswerk»-Leiter Alfred Siegfried Ende der fünfziger Jahre fast gleichzeitig abtraten. Es ist nicht auszuschliessen, dass bei dieser Gelegenheit das Archiv entrümpelt wurde – wo doch von Ulrich Wille junior das Bonmot überliefert ist: «Das beste Archiv ist der Papierkorb.»

Pro Juventute: «Tiefes Bedauern»


«In Bezug auf die Geschichte der Stiftung ist es Pro Juventute ein Anliegen, umfassend und transparent zu informieren, auch im Jahr des 100-jährigen Jubiläums und auch zu dunklen Kapiteln wie ‹Kinder der Landstrasse›.» So umschreibt Pro-Juventute-Direktor Stephan Oetiker die Haltung seiner Institution im laufenden Jubiläumsjahr. Betreffend die Jenischenverfolgung sei die Position der Pro Juventute unverändert: Die Stiftung drücke ihr «tiefes Bedauern» aus, dass sie das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» zu verantworten habe. Die mehrfach geäusserte Entschuldigung gelte weiterhin und werde bekräftigt.

Man wolle aktiv dazu beitragen, das Thema «Kinder der Landstrasse» nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Konkret lege die Stiftung «einen Schwerpunkt auf die interne und externe Kommunikation zum ‹Hilfswerk›» und werde den Jenischen bei den Jubiläumsanlässen sowie in der Festschrift einen Platz einräumen.

Auf die Pro-Juventute-Gründerfigur Ulrich Wille junior und den «Hilfswerk»-Leiter Alfred Siegfried geht die Stiftung nicht im Detail ein; das sei Aufgabe der Geschichtsforschung. Wichtig in der Darstellung solcher Themen sei es aber, «die vorhandenen Quellen und Gesamtsicht der angesprochenen Jahrzehnte und Personen zu konsultieren», hält Pro Juventute fest. Und distanziert sich ausdrücklich vom damals vorherrschenden Gedankengut: «Aus heutiger Sicht sind die Gesinnungen und Handlungen der Personen jener Zeit in keinster Weise nachvollziehbar.»