Willkommen in unserem Schloss», sagt Informatiker Shadi Hammad und lächelt, als er die Tür zum Zimmer öffnet, in dem er mit seiner Frau und den drei Kindern wohnt. Vier auf vier Meter. Fünf Betten, zwei Kochplatten und ein Plastikeimer, der als Klo dient. Auf das Gemeinschafts-WC trauen sich Suha Hammad und die Kinder abends nicht mehr, seit sie dort von betrunkenen Zentrumsbewohnern bedrängt worden sind.

Hinter den vielen Türen der Notunterkunft Embrach ZH leben Menschen, die vom Staat nur noch das Allernotwendigste erhalten: Nothilfe – ein Dach über dem Kopf, wenns nicht mehr anders geht einen Arzt und Fr. 8.50 täglich für Erwachsene, durchschnittlich fünf Franken pro Kind. Dieses Geld muss für alles reichen: Essen, Hygieneartikel, Kleider.

So beschloss es 2008 das Schweizer Stimmvolk. Der Gedanke dahinter: Wer keinen Asylgrund geltend machen kann, soll das Land möglichst bald wieder verlassen. Wer trotzdem bleibt, bekommt deshalb nur noch Nothilfe. 68 Prozent stimmten der Vorlage zu.

Die Realität sieht freilich anders aus: Bloss 37 Prozent der Nothilfebezüger reisen im ersten Jahr kontrolliert aus. Für die andern ist die Schweiz auch ohne Perspektive noch immer die bessere Alternative als eine Heimkehr. Sie tauchen unter oder beziehen Nothilfe. Jahrelang. Mit ihnen ihre Kinder. Die haben keine Wahl. Viele haben noch nie etwas anderes erlebt als ein Leben auf der Flucht oder in der Enge einer Notunterkunft.

2363 Kinder lebten von 5 Franken am Tag

«Als Mutter weiss ich, dass nicht nur erwachsene Flüchtlinge leiden, sondern ganz besonders ihre Kinder», sagt Barbara Schmid-Federer, CVP-Nationalrätin und Präsidentin des Schweizerischen Roten Kreuzes Kanton Zürich. «Kinder müssten doch besonders stark geschützt werden. Aber Kinder, die von Nothilfe leben, werden von der Politik gar nicht beachtet.» Ende letzten Jahres reichte Schmid-Federer eine Interpellation ein. Sie beauftragte den Bundesrat abzuklären, welche Auswirkungen die Nothilfestrukturen auf Kinder und Jugendliche haben.

Der Bericht liegt nun vor. Er zeigt Beunruhigendes: Im Jahr 2012 lebten 2363 Kinder von Nothilfe. 24 davon waren sogenannte unbegleitete Minderjährige, die ohne Verwandte in die Schweiz geflüchtet sind. Einige der Kinder leiden unter Mangelernährung, andere seien nicht adäquat gekleidet, und viele haben nur beschränkten Zugang zu ärztlicher Versorgung. Dazu kommen eine hohe psychische Belastung und fehlende Möglichkeiten, die Freizeit sinnvoll zu gestalten.

Auch im Zimmer der Familie Hammad ist kein Platz zum Spielen. Suha Hammad serviert löslichen Kaffee. Als Sitzgelegenheit dient das Bett, in dem sie, ihr Mann und die dreijährige Layan schlafen. Einen Platz, an dem Waleed seine Hausaufgaben machen könnte, gibt es nicht.

Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt

Eine schwangere Afghanin reiste mit ihrem Mann und drei Kindern illegal von Norwegen in die Schweiz ein. Auf das Asylgesuch wurde nicht eingetreten. Da die Rückführung nach Norwegen zunächst scheiterte, wurden die Eltern zur Sicherstellung der späteren Überstellung separat inhaftiert. Das inzwischen geborene Baby blieb bei der Mutter, die übrigen Kinder mussten ins Heim.

Das Ehepaar beschwerte sich erfolgreich bis vor Bundesgericht gegen die Haft. Dieses hält fest, dass durch die separate Inhaftierung und Trennung von den Kindern das durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierte Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt worden sei. Ein Eingriff in dieses Grundrecht dürfe nur bei überwiegend öffentlichem Interesse erfolgen. Bei der Interessenabwägung käme dem Kindeswohl eine herausragende Bedeutung zu. Die Inhaftierung der Eltern und Fremdplatzierung der Kinder sei nur als letztes Mittel zulässig. Die Behörden hätten zuerst mildere Massnahmen – wie etwa die Platzierung der Familie in einer kantonseigenen Liegenschaft oder einem Durchgangsheim – prüfen müssen.

Obwohl dieses Urteil der afghanischen Familie nichts mehr nützt, zeigt es den Kantonen auf, wie sie in Zukunft vorzugehen haben.

Bundesgerichtsurteil vom 26. April 2017 (2C_1052/2016 und 2C_1053/2016) / Hanneke Spinatsch (26.05.2017)

Auf keinen Fall zurück nach Palästina

Vor drei Jahren flohen die Hammads aus Angst vor den israelischen Bombenangriffen aus dem Flüchtlingslager Jabalia im Gazastreifen. Mit ungültigen Ausweispapieren wollten sie nach Schweden, wo Suha Hammad einen Onkel hat. Bei einem Zwischenstopp am Flughafen Zürich griff die Schweizer Polizei die Familie auf und hielt sie 49 Tage lang im Transitbereich fest. Hammads mussten einen Asylantrag stellen, der abgelehnt wurde. Die Familie wurde getrennt. Shadi Hammad wurde für drei Monate in Ausschaffungshaft genommen, Suha und die Kinder kamen in ein Nothilfezentrum.

Noch einmal versuchte Shadi Hammad, mit seiner Familie in Schweden unterzukommen, aber das Dublin-II-Abkommen verbietet Flüchtlingen, in einem anderen europäischen Land einen weiteren Asylantrag zu stellen. Zurück nach Palästina will Shadi Hammad auf keinen Fall. «Unsere Nachbarn sind bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Wie kann jemand von uns verlangen, unsere Kinder an diesen Ort zurückzubringen?»

Eine Wegweisung in die palästinensischen Gebiete sei grundsätzlich möglich, schreibt das Bundesamt für Migration auf Anfrage. Der Vollzug werde dann angeordnet, wenn er zulässig, zumutbar und möglich sei.

«Mut und Hoffnung nicht verlieren»

Waleed, 7, Mariam, 5, und Layan, 3, leben gefühlt schon immer hier. In Notunterkünften. Trotzdem geht es ihnen im Verhältnis zu anderen Kindern, die in derselben Situation sind, gut: Beide Elternteile sind bei ihnen und gesund. «Unsere grösste Aufgabe als Eltern ist, den Mut und die Hoffnung nicht zu verlieren», sagt Shadi Hammad. Gerne würden die beiden den Deutschkurs für anerkannte Flüchtlinge im Zentrum besuchen oder noch viel lieber arbeiten gehen. Aber beides ist ihnen nicht erlaubt, schliesslich wurde ihr Asylgesuch abgewiesen.

Kaum politischer Spielraum

Das Dilemma ist offensichtlich. Einerseits muss das Asylrecht, um glaubwürdig zu bleiben, abgewiesene Flüchtlinge des Landes verweisen, anderseits ist der Vollzug dieser Ausweisung wie im Fall der Familie Hammad nicht immer zumutbar. Waleed besucht deshalb seit bald einem Jahr die erste Klasse im Dorf, seine Schwester geht in den Kindergarten. Doch für den Theaterkurs an der Schule fehlt das Geld genauso wie für den Musikunterricht. Und steht ein Schulausflug an, wirds eng im Budget der Familie Hammad.

Es sei schwer, als Vater seinen Kindern kein anständiges Leben ermöglichen zu können, sagt Shadi Hammad und blickt auf den gelben Linoleumboden. «Aber was kann ich tun?»

Für Stefanie Kurt von der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht eine unhaltbare Situation: «Eine gesunde Entwicklung ist unter solchen Umständen für Kinder nicht möglich», sagt sie. «Das Leben auf engstem Raum, ohne Geld, ohne Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung ist für Familien schon bei kurzen Aufenthalten an der Grenze des Erträglichen», sagt Kurt, die den Bericht zur Lage der Kinder in der Nothilfe verfasst hat. «Dass wir aber Kinder ihre ganze Kindheit in solchen Umständen verbringen lassen, ist der Schweiz unwürdig.»

Wie eine würdigere Lösung aussehen könnte, bleibt vorerst offen. Der Bundesrat sieht jedenfalls keinen Grund, besondere Massnahmen für Minderjährige zu ergreifen, die auf Nothilfeleistungen angewiesen sind. In seiner Antwort schreibt er: «Der Kinderrechtskonvention kann nicht entnommen werden, dass sie generell über Nothilfeleistungen hinausgehende Unterstützung an Kinder gebieten würde.»

Ein Satz der knappen bundesrätlichen Antwort lässt Barbara Schmid-Federer allerdings hoffen: «Bislang sieht der Bundesrat keine besonderen Massnahmen für Kinder und Jugendliche vor, die mehr als sechs Monate auf Nothilfeleistungen angewiesen sind», heisst es.

«Bislang», sagte sich Schmid-Federer und reichte eine Motion nach, die einen Massnahmenkatalog für diese Kinder fordert. Waleed, Mariam und Layan wissen, welche Massnahme sie sich wünschen würden: einmal den Löwen im Zoo Zürich besuchen.

Was heisst Nothilfe?

Asylsuchende, auf deren Gesuch nicht eingetreten wird, werden seit April 2004 von der Sozialhilfe ausgeschlossen. Der Ausschluss wurde 2008 ausgedehnt und betrifft nun zusätzlich alle Personen, die nach einem durchlaufenen Asylverfahren einen negativen Asylentscheid erhalten haben. Das sind viele: 2013 betrug die Anerkennungsquote 15,4 Prozent. Alle anderen Gesuche wurden abgelehnt oder wegen eines Nichteintretensentscheids gar nicht erst behandelt.

Nothilfe beinhaltet Nahrung und Hygiene in Form von Sach-, Geldleistungen oder Gutscheinen, einfache Unterkunft, oft Kollektivunterkunft, Kleider in Form von Sachleistungen und medizinische Versorgung. Wenn Familien von der Nothilfe leben, dürfen die Kinder weiterhin die Schule besuchen. 2012 lebten 2363 Kinder von Nothilfe, darunter 24, die ohne Begleitung in die Schweiz geflohen sind. Durchschnittlich sind Kinder 224 Tage im Nothilfe-Status.