«Zwei, vier, sechs…»: Martin Trachsels Finger gleitet über die Zeilen. «Vierzehn, sechzehn, siebzehn!» Siebzehn Freiwillige, die sich am Tag der offenen Tür gemeldet haben, um zu helfen. «Das ist nicht schlecht.» Trachsel schaut zufrieden über seinen Schreibtisch. Auf einer Kiste hinter ihm liegt ein Schlüsselbrett: ein paar Nägel, die jemand in eine Leiste geschlagen hat. Auf dem Fensterbrett stapeln sich Videokassetten («Pingu, der Abenteurer»), in einer Ecke stehen ein paar Flaschen Mineralwasser, in einer anderen steht ein kleiner Tresor. Im Büro des Durchgangszentrums für Asylbewerber in Riggisberg, das Trachsel mit Koleiterin Doris Mühlemann teilt, wird improvisiert. Zeit zum Einrichten gab es noch kaum. Am 21. Juli übernahm die Heilsarmee als Betreiberin den Schlüssel, am 26. zogen die ersten Bewohner ein. Mittlerweile sind es 150 Asylbewerber – Vollbestand am Sandgrubenweg 11, mitten im Wohnquartier.

In Riggisberg bleibt man gelassen

Riggisberg, Kanton Bern. Für Berner Oberländer gehört das Dorf zum Mittelland. Stadtberner fühlen sich hier schon fast in den Bergen. Am Wochenende fahren sie mit schweren Motorrädern durch, hinauf zum Gurnigelpass und von dort hinab ins Freiburgische. Die umliegenden Dörfer und Weiler tragen Namen wie Bütschelegg, Rüti, Hinterfultigen oder Wislisau, und Riggisberg ist ihr Zentrum, mit Coop-Filiale und Sekundarschule. Es ist Hügelland, Landwirtschaftsland. 2500 Menschen wohnen hier, etwa 100 von ihnen haben keinen Schweizer Pass.

Fremden gegenüber ist man skeptisch. 1999 etwa befürchtete man im Dorf Sodom und Gomorrha, als der Bund in der unteren Gantrischhütte, zehn Kilometer von Riggisberg entfernt, auf 1500 Metern über Meer ein Asylzentrum einrichtete. Und 2008 kam es gar nicht gut an, dass der Regierungsrat ohne zu fragen verfügte, dass Riggisberg seine Truppenunterkunft für Asylbewerber zu öffnen habe. Man war froh, als der Kanton nach zwei Monaten zurückruderte und auf das Zentrum verzichtete.

Die Schweiz ist seither nicht offener geworden für Flüchtlinge. 2011 etwa sammelten aufgebrachte Bürger des 560-Seelen-Dorfs Bettwil im Aargau 10'000 Unterschriften gegen ein Durchgangszentrum. In Aarburg fanden in den letzten Monaten «Protestpartys» bei Bratwurst und Bier statt, weil man ein «Mega-Asylzentrum» mit 90 Bewohnern verhindern wollte.

Man könnte sich solche Unmutskundgebungen auch in Riggisberg vorstellen. Im Gemeinderat sitzen vier Mitglieder der SVP und drei Parteilose, und an der Urne stimmt man im Zweifelsfall gegen alles, was nach Weltoffenheit riecht. Die Masseneinwanderungsinitiative: 63,8 Prozent Ja. Das kantonale Einbürgerungsverbot für Verbrecher und Sozialhilfeempfänger: mit 63,2 Prozent angenommen. Die Verschärfung des Asylgesetzes: 83 Prozent Ja.

Man wäre deshalb nicht einmal sonderlich überrascht über Opposition gegen das Durchgangszentrum. Doch diesmal tickt Riggisberg anders. Anfang Juli beschliesst der Gemeinderat, die Truppenunterkunft zur Verfügung zu stellen. Mit sieben zu null Stimmen, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Ein paar Tage später informiert er die Bevölkerung, mit Flugblättern und einem persönlichen Brief an die Anwohner, und es passiert – fast nichts. Es gibt weder Protestversammlungen, noch werden böse Briefe verfasst. Am Tag der offenen Tür kommen 200 Leute. Und der eine oder andere versucht gar, mit einem Asylbewerber zu sprechen.

Seither treffen sackweise alte Kleider in der früheren Truppenunterkunft ein. Schon nach wenigen Tagen ist der Sandkasten mit gespendeten Schaufeln und Kesseln gut bestückt. Die Neuapostolische Kirche neben dem Durchgangszentrum stellt ihren Parkplatz zum Spielen und Herumhängen zur Verfügung, nur während der Gottesdienste ist er gesperrt. Und die Tanzgruppe trifft sich jetzt in Rüti, ohne dass sich jemand darüber aufregen mag. Am Dienstag von 14 bis 17 Uhr bietet die reformierte Kirche ein «Kaffee Regenbogen» an. «Alle sind herzlich willkommen», heisst es auf einem Zettel am Anschlagbrett des Durchgangszentrums auf Deutsch und Arabisch.

Wer wissen will, wie Riggisberg zu so viel Solidarität gefunden hat, fängt am besten bei Christine Bär an. Die Pfarrerin ist im Dorf aufgewachsen und sitzt seit dem Jahr 2000 als Parteilose im Gemeinderat. Seit 2008 präsidiert sie das Gremium, das sie «mi Rat» nennt. Parteilos heisst in Riggisberg: etwas links von SVP und FDP. Die Gemeindepräsidentin sei «scho chli ä Soziali», sagt ein Gewerbler im Dorf. Es klingt nicht nach einem Kompliment.

Der Kanton zahlt die Miete

Christine Bär zieht ob solcher Bemerkungen die Schultern hoch. Schliesslich hat sie nicht allein über das Durchgangszentrum entschieden, sondern der Gemeinderat hat das gemeinsam beschlossen. Insgeheim hatte man im Gemeindehaus am Postplatz mit einer Anfrage des Kantons gerechnet, seit in den Medien wieder von «Asyl-Notstand» und «Flüchtlingswellen» die Rede war. «Der Kanton wusste ja, dass wir eine Truppenunterkunft im Dorf haben, die vom Militär nicht mehr gebraucht wird», sagt Christine Bär. »Früher oder später wären die sowieso auf uns zugekommen, um dort ein Durchgangszentrum einzurichten.» Nun zahlt der Kanton Miete für das Haus. Die Rechnung werde wohl gerade so aufgehen, schätzt Bär: «Wir haben auch einiges an Mehraufwand.»

Das Geschäft, innert wenigen Tagen vorbereitet, ging im Gemeinderat durch wie andere Traktanden: mit Fragen, Diskussionen und schliesslich einem positiven Entscheid. «Da war nichts Aussergewöhnliches», sagt Susanne Rüegsegger, die für die SVP im Rat sitzt, «wir haben uns auch nicht vorher in der Partei darüber abgesprochen.» Das sei in Riggisberg nicht üblich, bekräftigt ihr Parteikollege und Gemeinde-Vize Michael «Mike» Bürki, und überhaupt: «Wir machen hier Sachpolitik.»

Die Aufgabe, Leute hinter sich zu bringen

Für Mike Bürki heisst das beim Thema Durchgangszentrum: «Die Leute sind jetzt hier, jetzt muss man etwas tun.» In Bern sehe man bei der SVP halt manches ein wenig anders als in Zürich, sagt Bürki, muss dann aber gleich etwas klarstellen: «Ich trage die Linie der SVP Schweiz selbstverständlich mit.» Will heissen: Bürki ist für eine Verschärfung des Asylrechts.

Hand bieten für ein Durchgangszentrum und gleichzeitig dafür weibeln, weniger Asylbewerber ins Land zu lassen – wie geht das zusammen, Herr Bürki? «Ganz gut, denn seien wir ehrlich: Mit einem Nein hätten wir das Schweizer Asylwesen, wie es heute ist, auch nicht geändert. Und irgendwann hätte uns der Kanton das Durchgangszentrum aufgezwungen.»

Und so zogen die Gemeinderätinnen und Gemeinderäte von Riggisberg Anfang Juli durchs Dorf: «Alle hatten die Aufgabe, ihre Leute hinter sich zu bringen.», sagt Christine Bär. Bisher sei das «nicht schlecht gelungen». Auch sie weiss jedoch, dass die öffentliche Meinung ein fragiles Gut ist. Asylbewerber, die auf dem Postplatz Bier trinken, können reichen, dass spitze Bemerkungen fallen. Und aus spitzen Bemerkungen kann offene Ablehnung werden.

«Man hofft jeden Tag, dass alles gut läuft», sagt sie. Man hofft und arbeitet daran. Jeden Dienstag um 8 Uhr trifft man sich zum runden Tisch, um Probleme zu besprechen und die nächste Woche zu planen. Im Gemeinderatszimmer sitzen dann Christine Bär, die Gemeindeschreiberin, jemand aus der Leitung des Durchgangszentrums, Vertreter des Kantons, der Polizei und der Kirchgemeinde, die Präsidentin des Frauenvereins und Schulleiter Fred Rohrbach.

An dessen Bürotür im Primarschulhaus hängen Packpapierbögen: Zeitpläne für die Einschulung der Flüchtlingskinder, für Deutschkurse und Informationsveranstaltungen für die Eltern der einheimischen Kinder. Seit dem 1. September lernen fünf Jugendliche aus dem Durchgangszentrum an der Schule während neun Stunden pro Woche Deutsch. Daneben besuchen vier kleinere Kinder den ordentlichen Kindergarten. Mit der Schulleiterin der Sekundarschule hat Fred Rohrbach zudem einen Weiterbildungsnachmittag für die Lehrerinnen und Lehrer auf die Beine gestellt, Thema: «Migrationshintergründe, Asylverfahren, interkulturelle Hintergründe, Unterrichtsmaterial».

Ursprünglich plante Rohrbach gar eine Sonderklasse für die Kinder aus dem Durchgangszentrum, 20 Stunden pro Woche, «denn auch für Asylbewerber gilt die Schulpflicht». Rohrbach schrieb noch vor den Sommerferien eine Stelle aus, sichtete Bewerbungen und organisierte Räume für den Spezialunterricht. Alles wäre bereit gewesen für die erste Klasse Flüchtlingskinder, die in Riggisberg je zur Schule gegangen wären, doch die Realität machte einen Strich durch die Rechnung. Erwartet hatte man in Riggisberg vor allem Familien aus Syrien. Die sind zwar gekommen, aber in viel kleinerer Zahl. «Vielleicht haben wir in der Schule etwas über das Ziel hinausgeschossen», sagt Fred Rohrbach: «Dafür sind wir bereit, wenn doch noch mehr Familien kommen.»

Man würde in Riggisberg gerne mehr Familien aus Syrien aufnehmen. Mit ihnen kann man Fernsehbilder verknüpfen, Flüchtlingselend. Die jungen Männer aus Eritrea hingegen, die jetzt die Mehrheit im Durchgangszentrum stellen, sind dann doch dem einen oder anderen ein wenig suspekt.

André Perroud etwa: Am Tag nach der offiziellen Ankündigung durch den Gemeinderat hat er mit einem Nachbarn zusammen die «IG Asylzentrum Riggisberg» gegründet. Mittlerweile soll die IG 14 Mitglieder haben, die aber mehrheitlich anonym bleiben wollen. «Seien wir ehrlich, wirklich Freude haben die wenigsten. Doch verhindern lässt sich das Ganze nicht mehr», heisst es auf der Website der IG, und weiter: «Das Einzige, was bleibt, ist, zu versuchen, im konstruktiven Dialog mit der Gemeinde, dem Kanton sowie der Heilsarmee die nötigen Rahmenparameter zu setzen.»

André Perroud wohnt am Jägerweg, direkt neben dem Durchgangszentrum. Dort, wo der Handyempfang am besten ist. Dass die Asylbewerber nicht vor den Einfamilienhäusern im Quartier telefonieren, ist deshalb einer der «Rahmenparameter». Perroud hat deshalb im Namen der IG am runden Tisch interveniert. Seither ist der Weg hinter dem Durchgangszentrum gesperrt, und die Hausregeln wurden ergänzt: Telefoniert werden darf nur im Eingangsbereich des Zentrums, ab 22 Uhr muss draussen Ruhe sein. Mit Asylbewerbern gesprochen hat Perroud noch nie: «Ich bin nicht der Typ dazu. Ich bleibe lieber unter Kollegen oder gehe fischen.»

In der Welt der IG-Mitglieder gibt es klare Vorstellungen, was stört und was nicht: Das Kieswerk, das 300 Meter entfernt rumpelt, stört nicht. Der Lärm vom benachbarten Werkhof stört nicht. Die Soldaten, die früher ihren WK hier leisteten, störten nicht. Telefonierende Asylbewerber hingegen stören.

Wöchentlich ein runder Tisch

«Die wirklichen Probleme kommen vermutlich erst nach drei, vier Monaten», sagt Perroud, «Das weiss ich von anderen Asylzentren.» Und wenn dann die Probleme tatsächlich eintreffen, dann werde er wieder am wöchentlichen runden Tisch teilnehmen, zu dem die IG eingeladen ist, aber erst einmal dabei war. «Wir gehen, wenn wir ein Anliegen haben», sagt André Perroud. In der neuen Idylle zwischen den Riggisbergern und ihren Asylbewerbern klingt das wie eine Drohung.

Nachtrag

Die Hoffnungen von Gemeindepräsidentin Christine Bär, «dass alles gut läuft», haben sich dann doch nicht erfüllt.

Am Abend des 1. September kam es im Durchgangszentrum zu einer Schlägerei. «Mehrere Dutzend» Asylbewerber seien am Streit beteiligt gewesen, schrieb die Kantonspolizei tags darauf in einem Communiqué. Bilanz: sechs Verletzte, sechs Verhaftete. Der Gemeinderat bedauerte den Vorfall – und reagierte rasch. Bereits in der Nacht darauf patrouillierte ein privater Sicherheitsdienst rund um das Zentrum und an neuralgischen Punkten im Dorf. Seit dem Vorfall sind im Zentrum auch rund um die Uhr mindestens zwei Betreuer anwesend. Das habe man sich von der Heilsarmee, die das Zentrum betreibt, zusichern lassen, sagt Vize-Gemeindepräsident Michael Bürki.

Auch André Perroud und seine «IG Asylzentrum Riggisberg» reagierten umgehend. In einem offenen Brief ist von «Beobachtungen» die Rede, «dass es unter den Asylbewerbern auch vereinzelte kriminelle Elemente hat». Patrouillen und zwei anwesende Betreuer reichten nicht, kritisiert die IG und fordert eine Eingangskontrolle. Dazu, da das Zentrum mehrere Eingänge hat, auch eine Umzäunung des Geländes. Das, so Vize-Gemeindepräsident Bürki jedoch bestimmt, werde es sicher nicht geben. «Wir haben hier ein Durchgangszentrum für Asylsuchende, kein Gefängnis.»