Und dann flog Michael Kohns Audi in die Luft. Ein Sprengstoffanschlag. Das nächste Mal werde Kohn drinsitzen, liessen die Attentäter über die Medien ausrichten. «Es gab auch einen Brandanschlag auf meine Wohnung», erinnert sich der heute 82-Jährige. Seither ist seine Wohnungstür gepanzert. Michael Kohn, Initiant des Atomkraftwerks Kaiseraugst und Präsident der Kernkraftwerke Gösgen AG, von Gegnern «Atompapst» genannt, legte sich Leibwächter zu. Es war Mai 1979, der Höhepunkt der Kaiseraugst-Krise, drei Monate zuvor war schon der Informationspavillon des AKWs Kaiseraugst in die Luft gejagt worden.

Auch Atomkraft-Gegner Hansjürg Weder, damals für den Landesring im Nationalrat, erinnert sich: «Vor der grossen Debatte im Nationalrat durchsuchte man bei uns Atomkraft-Gegnern die Pulte nach Sprengstoff.» Bundesrat Willi Ritschard drohte mit Rücktritt, falls das Militär gegen AKW-Demonstranten eingesetzt würde, sagt sein damaliger Berater, der Schriftsteller Peter Bichsel.

Kaiseraugst spaltete ab den siebziger Jahren die Gesellschaft und brachte das Land an den Rand einer Staatskrise. «Damals glaubten wir, es könne in der Schweiz nie mehr ein AKW gebaut werden», so Weder. Und das glaubt er heute noch.

Er könnte sich täuschen. Kaiseraugst wurde zwar letztlich durch den Widerstand verhindert, hing aber schon vorher am Tropf, wie eine Doktorarbeit des Zürcher Historikers Patrick Kupper zeigt (siehe «Weitere Infos»). Der Widerstand wird überschätzt - er entzündete sich an einem Kadaver. Kaiseraugst war das falsche Projekt am falschen Ort. Leibstadt und Gösgen konnten schliesslich in der gleichen Zeit gebaut werden.

Schlimmster Nuklearunfall der Schweiz
Blenden wir ins Bundeshaus zur Beerdigung am 2. März 1988. Ins Grab gebracht hatten Kaiseraugst eine Handvoll bürgerlicher Parlamentarier um Georg Stucky (FDP), Ulrich Bremi (FDP), Christoph Blocher (SVP) und Gianfranco Cotti (CVP) mit einer bis zuletzt geheim gehaltenen Blitz-Eingabe. Sie forderte, auf Kaiseraugst zu verzichten und die Initianten «angemessen» zu entschädigen. Die Badener Firma Motor-Columbus, mit der Projektleitung von Kaiseraugst beauftragt, war vorgängig informiert worden. «Die wollten eine Entschädigung, weshalb wir diese in den Motionstext einbauten», sagt Georg Stucky heute. Das war der grosse Unterschied zu früheren Kaiseraugst-Verzichtseingaben. «Keine lustige Übung», erinnert sich Ulrich Bremi: «Wir waren schliesslich alle Kernenergiebefürworter.» Doch mit der Leiche Kaiseraugst im Keller liess sich kein Kampf mehr für ein anderes neues Kraftwerkprojekt gewinnen. Sie musste endlich entsorgt werden. Und die Bauherrin konnte zufrieden sein, sie wurde mit immerhin 350 Millionen Franken aus der Bundeskasse entschädigt. Kaiseraugst kostete alles in allem rund 1,3 Milliarden Franken.

Welch Kontrast zur freudigen Geburt fast ein Vierteljahrhundert vorher! 1966 gab die Motor-Columbus die Absicht bekannt, im aargauischen Kaiseraugst, nur zehn Kilometer von Basel, ein Atomkraftwerk zu bauen. Der Gemeinderat atmete auf, denn damit verzichtete das Technologieunternehmen auf das ursprünglich geplante konventionelle thermische Kraftwerk am Ort. Die Atomkraftwerke Beznau, Mühleberg, Leibstadt und Verbois waren bereits angekündigt worden. 1965 war Spatenstich in Beznau, 1967 in Mühleberg.

Nur noch das Wettrennen auf den Mond übertrumpfte damals das Wettrennen um das erste AKW. Es gab keine nennenswerte Opposition, Sicherheit war kaum ein Thema, nicht mal, als sich im Versuchsreaktor der Nationalen Gesellschaft zur Förderung der industriellen Atomtechnik in Lucens 1969 ein schwerer Unfall ereignete. Die Anlage wurde dabei vollständig zerstört. Doch weitere Gesellschaften kündigten weitere AKW-Projekte an. «In erster Linie kämpfte jedes Projekt gegen alle anderen», schreibt Historiker Kupper. Was sich als fatal für die Atomwirtschaft erweisen sollte, weil jede Unternehmung das Lehrgeld für Planung und Bewilligungsverfahren selber zahlen musste. Das Feindbild einer miteinander verwachsenen und verklumpten «Atomwirtschaft» lässt sich im Nachhinein kaum mehr aufrechterhalten. Von einer gemeinsamen strategischen AKW-Planung jedenfalls kann nicht die Rede sein.

1971 verbot der Bundesrat die Flusswasserkühlung an Aare und Rhein. Gewässerschutz war damals das Top-Umweltschutzthema. Alfred Schaefer, Verwaltungsrat der Motor-Columbus und Präsident der Schweizerischen Bankgesellschaft, war der Ansicht, «dass wir die Hoffnung auf eine Verwirklichung von Kaiseraugst aufgeben müssen». Kaiseraugst, ohne Kühltürme geplant, war faktisch erledigt. Doch Motor-Columbus-Direktor Michael Kohn verbiss sich in sein Lieblingsprojekt. «Wenn es hier nicht geht, geht es auch an einem anderen Ort nicht.» Mit dem Domino-Effekt hatten schon die Amerikaner ihr Eingreifen in Vietnam begründet: Der Feind musste am ersten Kriegsschauplatz gestellt und zurückgeschlagen werden. Kohn stilisierte Kaiseraugst zum Vietnam der Schweiz, zum Pro oder Kontra Atomkraft. Das war wahrscheinlich sein grösster Fehler.

In der gleichen Zeit erlebte Kaiseraugst einen brutalen Akzeptanzverlust. Aber nicht wegen atomarer Ängste, sondern weil die beiden Basel bei der Projektierung übergangen worden waren, vor allem auch in steuerlichen Fragen. Dieses verlorene Vertrauen liess sich in der Region nie mehr zurückgewinnen. Kaiseraugst war in einer Sackgasse gelandet.

Erst zu diesem Zeitpunkt, 1975, besetzten AKW-Gegner das Baugelände. An Demos marschierten bis zu 20'000 Leute auf. Der Kabarettist Franz Hohler zog eine Gasmaskenbrille und ein Paar Eishockeyhandschuhe an und rezitierte seine Moritat vom Weltuntergang. Junge Leute wie der damalige Student der Umweltökonomie und spätere Fernseh-Chefredaktor Filippo Leutenegger brachten das Thema Sicherheit und Abfall auf: «Ich war als junger Student nach der Veröffentlichung des Club of Rome besorgt über die Zukunft der Menschheit und fragte mich: Droht uns die kollektive Vergiftung?» Erst nach über zwei Monaten zogen die Besetzer, nach Verhandlungen mit dem Bundesrat, ab. Es ging fortan nicht mehr nur um ein konkretes Atomkraftwerk, sondern um die Zukunft der Menschheit, um die Grenzen des Wachstums. Dieser Knoten sollte nie mehr gelöst werden.

Die Verbissenheit der Bauherren
Während Militante mit Brandanschlägen auf Infopavillons und Autos von Vertretern der Atombranche die Schweiz durchschüttelten, ignorierte das Baukonsortium weitere Warnlichter: Finanzierung, Bauprogramm und Bewilligungsverfahren liefen aus dem Ruder. Bei den Banken verlor das Projekt jegliche Kreditwürdigkeit. Pech auch, dass die Knappheitsszenarien der Stromwirtschaft aus den sechziger Jahren nicht eintrafen. (Auch heute redet man bereits wieder von einer «Stromlücke» in ferner Zukunft, siehe Box «Neue AKW-Pläne».) Der Leiter der Sicherheitsabteilung des Bundes schrieb 1979 zuhanden des Bundesamts für Energiewirtschaft: «Ich gehe davon aus, dass alle Beteiligten sich einig sind, dass das Kernkraftwerk Kaiseraugst nicht realisiert wird, auch wenn niemand das offen sagen kann, da er dann den schwarzen Peter in der Hand hält.» Der Bund hoffte, dass die Initianten von sich aus auf Kaiseraugst verzichten würden. Doch dann hätten sie die Chance auf eine Entschädigung verwirkt.

Dann spielte der Zufall. Im März 1979 geriet das AKW Three Mile Island in Harrisburg (USA) ausser Kontrolle. Dies nutzten die Bundesbehörden, um in Kaiseraugst strengere Vorschriften bezüglich Notfallplanung durchzusetzen. «Es könnte nun aber sein, dass die Kernkraftwerk Kaiseraugst AG dann, wenn die Kommission für die Sicherheit der Kernanlagen, die hier am Zug ist, ihre Forderungen hart auf den Tisch legt, das Handtuch wirft und das Projekt aufgibt», zitiert Historiker Kupper ein internes Behörden-Memo.

Trotzdem glaubt Michael Kohn noch heute: «Ohne Tschernobyl (1986) hätten wir das Projekt vielleicht doch noch durchziehen können.» Aus historischer Sicht eine völlig surreale Einschätzung. Sie illustriert, wie realitätsfremd und verbissen die Bauherren am Schluss agierten.

Nach der Annahme des zehnjährigen AKW-Baumoratoriums 1990 wurde die Debatte um die Atomtechnologie von einer Art Endlagerstimmung umwölkt. Die zehn Jahre sind vorbei - und der Geist ist wieder aus der Flasche, wie Ankündigungen neuer AKW-Projekte zeigen. Franz Hohler ist «erstaunt über die Selbstverständlichkeit» - «als ob es Kaiseraugst nie gegeben hätte». Würde er wieder die Gasmaskenbrille hervorholen für einen allfälligen Widerstand? Nein, wehrt er ab, das würde er diesmal den Jüngeren überlassen.

Neue AKW-Pläne

  • 1988
    Bürgerliche Politiker beerdigen das Projekt Kaiseraugst mit einer Eingabe im Parlament. Der Bund bezahlt eine Entschädigung von 350 Millionen Franken an die Initianten.
  • 1990
    Volksabstimmung: Es dürfen zehn Jahre lang keine neuen AKWs gebaut werden (Moratorium).
  • 2003
    Das Stimmvolk verwirft die Ausstiegsinitiative, die eine schrittweise Stilllegung der AKWs forderte. Auch ein neues Moratorium wird verworfen.
  • 2004
    Revidiertes Kernenergiegesetz: Der Bau neuer AKWs wird dem fakultativen Referendum unterstellt. Faktisch heisst das, dass ein neues AKW die Hürde der Volksabstimmung nehmen muss.
  • 2004
    Die Bernischen Kraftwerke BKW (Mühleberg) ziehen den Bau eines neuen AKWs in Betracht. Auch der Atel-Chef (Gösgen) spricht von der Notwendigkeit eines neuen AKWs.
  • 2005
    Die Axpo (Beznau) spricht von einer «Versorgungslücke»: Es brauche ein neues AKW.
  • 2007, Februar
    Energiepolitik des Bundesrats: Grosskraftwerke werden als einer von vier Pfeilern genannt. Darunter explizit Atomkraftwerke.
  • 2007, März
    Das Aargauer Kantonsparlament befürwortet ein neues AKW als Ersatz für Beznau I und II.
  • 2007, Oktober
    Die Mehrheit des Solothurner Kantonsrats befürwortet ein neues AKW als Ersatz für Gösgen.
  • 2007, Dezember
    Axpo und BKW planen, in Beznau und Mühleberg je ein neues AKW zu bauen. Atel gibt Pläne für Gösgen bekannt. Bis Ende 2008 sollen die Gesuche eingereicht werden.