Die ehemalige Geschäftsführerin des Schweizerischen Blindenbundes, Romy Enderli, will nicht mehr länger schweigen: «Der Blindenbund kassiert von der Invalidenversicherung 30 bis 50 Prozent mehr, als dem Verein zustehen würde», sagt sie. Ihre Aussage bestätigen mehrere Kenner des Vereins, die aber alle anonym bleiben wollen. Ein happiger Vorwurf, denn es geht um viel Geld: Knapp drei Millionen Franken bekommt der Blindenbund – pro Jahr.

Die IV hat nicht nur den Auftrag zu versichern, sondern auch, Organisationen wie den Blindenbund zu subventionieren, die Invalide betreuen und beraten. Zuständig ist das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), das in einem 90-seitigen Leistungsvertrag sämtliche Details regelt. Geld gibt es nur für genau festgelegte Leistungen, etwa für spezielle Kurse für Blinde. Die unterstützten Verbände müssen dem Bundesamt ihren Aufwand in Arbeitsstunden ehrlich protokollieren, gestützt darauf fliessen dann die Millionen. Kontrollen gibt es nur stichprobenweise.

Eine solche Stichprobe führte das BSV beim Blindenbund im Herbst 2008 durch. Wie Recherchen des Beobachters jetzt zeigen, stiess das Bundesamt damals auf Missbrauch von IV-Geldern in grossem Stil. Der Kontrolleur fand 8360 protokollierte Arbeitsstunden, die dem Bund grösstenteils zu Unrecht in Rechnung gestellt wurden. Das entspricht sechs Vollzeitstellen und bringt fast eine halbe Million Franken.

Versteckt waren die verrechneten Stunden im Posten «Hilfe zur Selbsthilfe». Dabei handelte es sich vor allem um die Unterstützung sehbehinderter Vorstandsmitglieder. Doch für diesen Zweck dürfen keine IV-Gelder eingesetzt werden. Darauf habe er den Geschäftsführer des Blindenbunds, Claudio Del Degan, bereits zwei Jahre zuvor hingewiesen, hält der BSV-Kontrolleur in seinem Bericht fest. Seine Abklärungen bringen noch weitere Ungereimtheiten beim Blindenbund an den Tag: ein völlig überteuerter Handykurs mit sechs Teilnehmern für 7500 Franken, sowie Klienten, für die mehrere Dossiers angelegt werden, um einen höheren Aufwand vorzutäuschen. Laut Insidern ein gängiger Trick.

Wer nur schon bei einer Stichprobe auf so viele zu Unrecht bezogene Subventionen stösst, müsste eigentlich umgehend eine vertiefte Überprüfung vornehmen. Doch das BSV lässt es bei ermahnenden Worten bewenden, der Ton bleibt freundlich: «Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass (...) eine Person in der Dossierberatung nur einmal gezählt und in der Leistungsstatistik ausgewiesen werden darf», schreibt die Aufsichtsstelle etwa.

Der Blindenbund, rechtlich ein Verein, ist ein eigentliches Familienunternehmen der italienischen Familie Del Degan. Claudio Del Degan hielt als Geschäftsführer zwanzig Jahre lang bis Ende 2008 die Fäden in der Hand. Als Geschäftsführer war er eigentlich dem Vorstand unterstellt, doch er habe diesen «ein Stück weit (...) geführt», gibt eine externe Beraterin an einer ausserordentlichen Delegiertenversammlung im letzten November zu Protokoll. Ihr Fazit nach gründlicher Analyse: «Enge persönliche Bindungen und familiäre Strukturen prägen den Blindenbund stark.» Tatsächlich ist der Buchhalter der Schwager des Geschäftsführers. Auch die Sekretärin Iris ist eine Del Degan. Selbst Schwiegertochter Nadine Del Degan gab ein kurzes Gastspiel, und auf der Geschäftsstelle in Aarau putzt auch noch die Schwester des Buchhalters.

Ursprünglich war vorgesehen, die Familiendynastie mit der neuen Geschäftsführerin Romy Enderli zu durchbrechen. Zur Einarbeitung teilte sie sich mit Claudio Del Degan im Jahr 2008 die Geschäftsführung. Doch obwohl formell Geschäftsführerin, habe sie keinen Zugang zur Abrechnung mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen erhalten. Ab 2009 übernahm Enderli dann allein die Leitung. Kurz bevor sie die halbjährliche Abrechnung für das BSV erstellen sollte und endlich Einsicht in die Bücher bekommen hätte, wurde ihr gekündigt. «Ich machte nie einen Hehl daraus, dass ich nur eine korrekte Abrechnung mit meinem Gewissen vereinbaren könnte», sagt sie.

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion entschied der Vorstand an einem Samstag im Mai 2009, Romy Enderli per sofort freizustellen. «Nachdem ich fast eineinhalb Jahre als Geschäftsführerin gearbeitet hatte, hiess es plötzlich, ich sei dazu nicht in der Lage», sagt sie. Enderli wurde an jenem Samstag auf die Geschäftsstelle bestellt und hatte gerade noch eine Stunde Zeit, um ihr Büro zu räumen. Ihr Nachfolger stand längst bereit: Ein neuer Del Degan – Ivano. Oder auch Jvano: Je nach Firma, die er gerade vertritt, wechselt er die Schreibweise seines Vornamens.

In seiner Stellungnahme auf die Fragen des Beobachters verweist der Blindenbund auf ein Stillhalteabkommen und äussert sich nicht zur Kündigung von Romy Enderli. Sämtliche Vorwürfe bezüglich zu viel kassierter Subventionen weist Geschäftsführer Ivano Del Degan zurück: Der Blindenbund habe seine Arbeitsstunden gestützt auf die Richtlinien des BSV abgerechnet. Trotz der engen Familienbande erachtet er auch seine Wahl zum neuen Geschäftsführer als unproblematisch. Der Vorstand habe ihn erst nach einem externen Selektionsverfahren gewählt. Seine Ehefrau Iris werde deshalb den Blindenbund jetzt verlassen.

Bezüglich der 8360 grösstenteils zu Unrecht abgerechneten Stunden, die bei der Stichprobe vor anderthalb Jahren aufgeflogen waren, spielt der Blindenbund den Ball weiter ans Konsortium, zu dem sich vier subventionsberechtigte Blindenorganisationen zusammengeschlossen haben. Gewicht hat darin neben dem Blindenbund aber nur noch der grössere Blinden- und Sehbehindertenverband. Stephan Kohler, der Geschäftsführer des Konsortiums, weist die Verantwortung von sich: «Was die einzelnen Vereine abrechnen, ist deren Sache.»

Kohlers Vorgängerin, Sabine Aquilini, hat ihre Stelle erst per Ende Juni verlassen. Sie hatte sich geweigert, die neuste Aufwandabrechnung der Blindenorganisationen zu unterschreiben. Schliesslich zeichnete Aquilini nur mit einem Vorbehalt: Sie könne «keine Gewähr übernehmen für Arbeitsstunden, die nicht vom Blinden- und Sehbehindertenverband in Rechnung gestellt würden.» Im Klartext: für die Zahlen des Blindenbunds.

Aufgeschreckt durch die Recherchen des Beobachters will das BSV jetzt doch noch eine Untersuchung aufnehmen. «Sollte sich herausstellen, dass nicht erbrachte Leistungen als erbracht deklariert wurden, würden rechtliche Schritte eingeleitet», teilt das Amt mit.