Der Abschied des Chefs wurde mit einer Sondervorstellung im Zirkus Conelli gefeiert. Dierk Maass, Gründer und leitender Arzt des Herz-Neuro-Zentrums Bodensee in Kreuzlingen und des Herz-Zentrums Bodensee im benachbarten Konstanz, wollte sich auf den 65. Geburtstag hin aus seinen Firmen zurückziehen und mit Personal und geladenen Gästen angemessen feiern. Man freute sich am Zirkusspektakel, tafelte und lauschte den Lobesreden auf den Gefeierten.

Sechs Jahre später ist Dierk Maass weiterhin im Amt, doch zu feiern hat er nichts mehr. Viele der Gäste seiner vermeintlichen Abschiedsfeier haben die Kliniken im Streit verlassen. Und statt Artisten stehen plötzlich Maass und die beiden anderen Geschäftsleitungsmitglieder der Kliniken im Scheinwerferlicht, CEO Martin Costa und seine Ehefrau und Vizedirektorin Antoinette Airoldi. Sie sehen sich mit einer langen Liste von Vorwürfen konfrontiert.

Einer der gravierendsten betrifft seltsame Vorgänge nach dem Tod des Tamilen Sellathuray S. Laut offiziellen Papieren verschied der in Frauenfeld wohnhafte Flüchtling am 3. Mai 2004 in Kreuzlingen. Unterlagen aus der Klinik weisen jedoch darauf hin, dass der Mann in Tat und Wahrheit in Konstanz starb – und damit für einen in der Schweiz ansässigen Asylbewerber auf der falschen Seite der Grenze. Damals am Herz-Zentrum Bodensee Angestellte erzählen nun, wie der Leichnam, an Geräte angeschlossen, per Ambulanzfahrzeug der Firma Rescuemed – sie gehört Klinik-CEO Martin Costa – nach Kreuzlingen transportiert worden sei. Erst dort füllte ein Arzt den Totenschein aus.

Im besagten Fall ermittelt nun die Staatsanwaltschaft Kreuzlingen. Das entsprechende Dossier ist allerdings aus dem Klinikarchiv verschwunden. In einem Informationsschreiben an die Belegschaft erklärte Klinikdirektor Martin Costa Mitte November, dass die damaligen Vorgänge «nach fast zehn Jahren bedauerlicherweise nicht mehr restlos nachvollziehbar» seien. Hätte sich die Sache wie geschildert abgespielt, so wäre das «formal sicher unkorrekt und ein Fehler gewesen».

Einem Angestellten fielen Rechnungen auf

«Unkorrekt» waren möglicherweise weitere Dinge um die beiden Privatspitäler, die beide zur CHC Holding AG von Dierk Maass gehören. Unter anderem sollen Ärzte ohne Bewilligung operiert haben, in einem Raum in der Klinik in Kreuzlingen soll Schimmelpilz gefunden worden sein, und die beiden Kliniken sollen zeitweise nur ein gemeinsames Ärzteteam für Notfälle im Einsatz gehabt haben – je nachdem in Kreuzlingen oder Konstanz. Auch die Arbeitsbedingungen sind seit längerer Zeit ein Thema. Schon 2004 warnte ein Arzt in einem Onlineforum des «Deutschen Ärzteblatts», das Management sei «grottenschlecht und dilettantisch», es herrsche eine «hohe Dienstbelastung» und ein «schlechtes Arbeitsklima». Der Kommentar wurde kurze Zeit später gelöscht – angeblich auf Betreiben der Klinik.

Bereits 2010 kursierte unter Klinikangestellten zudem die Vermutung, dass die Geschäftsleitung weniger an das Wohl der Patienten als ans eigene Portemonnaie denke. Einem Angestellten war damals ein eigenartiges Dokument aufgefallen. Eine Firma Proventis Care Solutions AG mit Sitz im zugerischen Oberägeri stellte Rechnungen für sogenannte DE-Stents der Firma Boston Scientific aus. Das sind kleine Katheter, die zur Erweiterung von Herzgefässen verwendet werden. Der Mann wunderte sich nicht nur darüber, dass die Kliniken die Produkte nicht direkt bei Boston Scientific bezogen, sondern auch über den stolzen Preis der Katheter. Er recherchierte und fand Erstaunliches heraus: Die Proventis gehörte Dierk Maass, Martin Costa und Antoinette Airoldi, kurz: der Geschäftsleitung der beiden Herz-Zentren.

Patienten zahlen bis zu 2554 Franken für einen Stent, der einen Bruchteil davon kostet.

Quelle: Nana Do Carmo, «St. Galler Tagblatt»
Herzchirurgie: Günstig einkaufen, überteuert verkaufen

Proventis, die den Chefs der Herzklinik gehört, liefert den Herzkliniken Stents (Katheder).

Quelle: Nana Do Carmo, «St. Galler Tagblatt»
Bis zu 422 Prozent Gewinn auf Kathetern

Dokumente, die dem Beobachter vorliegen, zeigen, wie das Geschäft funktioniert: Boston Scientific lieferte etwa zwischen März 2011 und Februar 2012 insgesamt 1152 DE-Stents an die beiden Kliniken. Nach Abzug der Rabatte – 20 Prozent für Konstanz, 10 Prozent für Kreuzlingen – resultierte ein durchschnittlicher Einkaufspreis von 604 Franken pro Stent.

Gemäss geltender Tarifvereinbarungen hätte das Herz-Neuro-Zentrum Bodensee dafür den Krankenkassen einen Zuschlag von zehn Prozent sowie die Mehrwertsteuer verrechnen dürfen, also 717 Franken. Auf den Rechnungen an die Krankenkassen, ausgestellt von Proventis, figurierten jedoch andere Beträge. Bei einer Patientin wurden solche Stents zu 2554 Franken pro Stück verrechnet, wie eine dem Beobachter vorliegende Rechnung zeigt. Das entspricht einer Marge von stolzen 422 Prozent zugunsten der Proventis Care Solutions AG in Oberägeri – und damit direkt zugunsten der Geschäftsleitungsmitglieder der zwei Kliniken: Dierk Maass, Martin Costa und Antoinette Airoldi. Auf die Geschäfte der Proventis angesprochen, meldet sich ein von der Klinik engagierter Krisenkommunikator. Über «Liefer- und Bezugsverhältnisse sowie auch Geschäftsabläufe» mag er keine Auskunft geben. Es sei jedoch «Fakt, dass das Herz-Neuro-Zentrum auch von Proventis Medizinalprodukte immer unter Listenpreis, auf Marktniveau oder darunter bezieht», erklärt er.

Auf der deutschen Seite der Grenze laufen die Ermittlungen gegen das Herz-Zentrum bereits seit letztem Sommer. In der Schweiz hingegen blieb es lange still, sehr lange. Dabei wussten die Thurgauer Behörden von den Vorwürfen – oder hätten davon wissen können.

Bereits «vor fünf oder sechs Jahren», so erzählt der Berner Herzchirurgie-Professor Thierry Carrel, habe er als Sekretär der Schweizerischen Gesellschaft für Herz- und thorakale Gefässchirurgie (SGHC) anonym ein dickes Dossier über das Herz-Neuro-Zentrum zugeschickt bekommen. Darin befanden sich Dokumente und Belege zu «einzelnen Vorwürfen, die heute im Raum stehen». Da die Fachärztegesellschaft dafür der falsche Adressat war, schickte Carrel das Dossier umgehend weiter an die Direktion von Regierungsrat Bernhard Koch. «Es gab keine Reaktion», sagt Carrel, «keine Empfangsbestätigung und auch keine Nachfragen, nichts.»

Im Departement von CVP-Regierungsrat Koch erinnert man sich nicht an das Paket aus Bern.

Der Regierungsrat als Festredner

Im Umfeld der Klinik beäugt man Kochs Rolle schon seit einiger Zeit misstrauisch. Als Koch vor einigen Monaten in der Klinik einen Verwandten besucht habe, sei «die halbe Geschäftsleitung mit Blumensträussen angetanzt», sagt ein ehemaliger Angestellter. Andere erinnern sich an die Schirmherrschaft für ein von der Klinik organisiertes Symposium, das Koch übernommen habe, oder an die Festrede, die Koch zum Abschied von Klinikdirektor Dierk Maass im Zirkus Conelli hielt. Koch weist jeden Verdacht auf eine zu grosse Nähe zur Herzklinik weit von sich: «Ich bin mit Herrn Maass weder näher bekannt noch befreundet. Die Kontakte mit ihm standen alle in Zusammenhang mit meiner Tätigkeit als Regierungsrat.»

Im «Tages-Anzeiger» vom 18. November weist Koch auch jegliche Verantwortung von sich: «Bei uns ist in den vergangenen Jahren keine einzige Aufsichtsbeschwerde gegen die Klinik eingegangen, weder von Patienten noch von Ärzten noch von anderen Personen.»

Was formal stimmen mag – eine Aufsichtsbeschwerde wurde tatsächlich nie eingereicht –, ist inhaltlich zumindest grosszügig interpretiert, denn in der Direktion für Finanzen und Soziales versickerten weitere Informationen zu den Vorgängen am Herz-Neuro-Zentrum. 2010 weihten besorgte Angestellte der Kreuzlinger Klinik die kantonale SP-Präsidentin Barbara Kern in die von ihnen gesammelten Vorwürfe und Belege ein. Weil sie aus Angst um ihren Arbeitsplatz anonym bleiben wollten, übernahm es die Grossrätin, Bernhard Koch zu informieren. Kern habe ihn mündlich angefragt, ob er bereit sei, Personen aus dem Umfeld der Klinik zu empfangen, bestätigt Koch: «Es wurden gar Termine vereinbart. Leider wurde alles wieder abgesagt, als ich darauf bestand, die Informationen auch verwenden zu können.»

Kerns Version der Geschichte lautet leicht anders: «Regierungsrat Koch hat mir damals erklärt, dass er nicht auf anonyme Hinweise eingehen könne», sagt die Grossrätin und Stadträtin von Kreuzlingen. Und einer, der damals anonym bleiben wollte, formuliert es noch deutlicher: «Koch interessierte sich vor allem dafür, wer hinter den Vorwürfen steckt, und viel weniger dafür, was schiefläuft an der Herzklinik.»

Die Klinik plant einen 45-Millionen-Bau

Welche Version auch immer stimmt: Die Vorwürfe an die Klinikleitung blieben ein weiteres Mal liegen. Unangenehme Enthüllungen über das Herz-Neuro-Zentrum, das seit Jahren auf der Thurgauer Spitalliste steht und in den letzten Jahren regelmässig Investitionsbeiträge in sechsstelliger Höhe erhielt, wären für den Thurgau zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt gekommen. Kanton und Klinik standen 2010 gerade in Verhandlungen über den Baurechtsvertrag für einen Neubau des Herz-Neuro-Zentrums auf dem Gelände des Kantonsspitals Münsterlingen. Der geplante 45-Millionen-Bau soll drei Operationssäle und rund 60 Betten aufweisen. An einer Medienkonferenz im September 2010 schwärmten die Verantwortlichen des Kantonsspitals und des Herz-Neuro-Zentrums von den Vorteilen, die sich durch die Zusammenarbeit ergeben.

Das Projekt, von dem Regierungsrat Bernhard Koch einst erklärte, es werde «schweizweit Beachtung finden», ist derzeit durch Einsprachen blockiert, und das Schwärmen ist Koch mittlerweile vergangen. Stattdessen hat er – wenn auch erst aufgrund der Medienberichte der letzten Wochen – eine Administrativuntersuchung in die Wege geleitet. Die Richtung dafür gab er im «Tages-Anzeiger» bereits vor: «Im Thurgau ist alles sauber gelaufen», liess er sich zitieren.