Kritik funktioniert richtig gut, wenn man sie in eine Geschichte verpackt. Beim «Stern» geht das so: Am 4. Juni besteigt der 88-jährige Klaus Seidel, begleitet von seinem Neffen Fritz, in Flüelen klammheimlich den 12.10-Uhr-Zug. Seidel flüchtet, weil die Urner Kesb ihn in einem Heim versorgen will. Knapp zwei Stunden später überqueren sie bei Basel unerkannt die deutsche Grenze. Im deutschen Asyl erklärt Klaus Seidel dem Reporter, er habe nur diese Wahl gehabt: «entweder in einem Heim völlig zu verblöden. Oder: Flucht».

Dafür habe er seine Frau zurücklassen müssen, die er wohl nie wiedersehen werde. Es sei vermutlich ein Abschied ohne Wiederkehr, wie damals bei den DDR-Flüchtlingen. Wer einmal gehe, der gehe für immer. Schuld daran sei die Urner Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, die Kesb.

Die Geschichte vom guten Herrn Seidel und der bösen Schweizer Behörde hat einen Haken: Sie schildert nur die eine Seite der Wahrheit. Die Geschichte des Urner Obergerichts zeigt die andere Seite. Nämlich die: Nach einem Schlaganfall kann der an Demenz und Alzheimer erkrankte Klaus Seidel nicht mehr für sich und seine Frau sorgen. Deshalb sollen die beiden in eine Pflegewohngruppe verlegt werden. Seidel und seine Familie wehren sich. Doch sie reichen trotz Aufforderung kein Konzept ein, wie sie Seidels Pflege sicherstellen wollen. Bedingung wäre eine Bezugsperson mit Pflegeerfahrung gewesen. Deshalb sei der Kesb nichts anderes übriggeblieben, als das Paar in ein Heim einzuweisen.

«Das war reinster Psychoterror!»

Zoë Jenny, Schriftstellerin und Mutter

So funktionieren viele Kesb-Geschichten. Sie handeln von einer selbstherrlichen Behörde, die durch Fehlentscheide ohnmächtige Menschen ins Elend stürzt und Unsummen an Steuergeldern verschleudert. Es sind Tragödien, die von einer himmelschreienden Ungerechtigkeit berichten. Schuld ist immer die Kesb. Sie ist zum perfekten Ziel für Wut und Hass gegen den Staat geworden. Man kann sie verhöhnen und verteufeln, als Stasi-Behörde abstempeln, den Inbegriff des Unrechtsstaats. Die Kesb, das anonyme Monster, das Familien zerstört.

Eine Kritikerin der ersten Stunde ist die Schriftstellerin Zoë Jenny. Sie will die Kesb abschaffen, weil sie ihr das Leben zur Hölle gemacht und sie aus der Heimat vertrieben habe. Die Kesb, sagt Jenny, wolle ihr die Tochter wegnehmen. Der «Schweizer Illustrierten» schilderte sie in drei Sätzen, was Sache ist: «Man führte einen Krieg gegen uns – so habe ich es empfunden. Daher spreche ich auch von Exil. Das war reinster Psychoterror!» Jenny, die besorgte Mutter, verteidige nur ihre Familie gegen die übermächtige Kesb. Die Methode: ins Ausland fliehen und von dort aus zurückschlagen, um den Drachen zu töten. Jennys Waffen sind nicht die Schwerter, sondern Interviews und die Androhung einer Volksinitiative.

Der Vater reist aus Bali an

Was seine Familie zerstöre, sei nicht die Kesb, sondern Zoë Jenny, sagte ihr Exmann Matthew Homfray in der «SonntagsZeitung», nachdem er lange geschwiegen hatte. Jenny verhindere mit allen Mitteln, dass er das gemeinsame Sorgerecht für die Tochter ausüben könne. Alle zwei Monate fliege er von Bali nach Wien, um wenigstens ein paar Stunden mit seiner Tochter verbringen zu können. Mehr toleriere seine Exfrau nicht. Sobald eine Behörde seine Besuchszeiten auf die Nacht ausweite, wechsle Jenny den Wohnsitz. Deshalb sei sie vom Kanton Basel ins italienische Grosseto, in den Kanton Zürich, weiter nach Schwyz und schliesslich nach Wien umgezogen. Seine Einschätzung ist diametral anders als diejenige seiner Exfrau: «Die Kesb muss im Interesse des Kindes handeln. Genau das hat sie in meinem Fall immer getan.»

Das Muster ist immer dasselbe: Hört man sich eine Seite an, ist die Empörung gewiss. Vernimmt man die andere, empört man sich gleich nochmals. Und bleibt konsterniert zurück.

Eigenartig am Kesb-Bashing ist: Experten, die mit der Sache vertraut sind, schildern die Arbeit der Kesb fast durchwegs als positiv. Sie kritisieren einzelne Entscheide und verweisen auf Probleme, mit denen die Behörde kämpft. Alle sagen jedoch: Die Kampagne, die gegen die Kesb laufe, sei nicht repräsentativ.

«Die Behörde ekelte uns aus der Schweiz»: Zoë Jenny bekämpft die Kesb auch noch von Wien aus.

Quelle: Jürgen Bauer / Süddeutsche Zeitung Photo

Eine Einschätzung, die die Experten des Beobachter-Beratungszentrums teilen, die fast täglich Klagen über die Kesb zu hören bekommen. «Unter dem alten System waren wir immer wieder mit Willkürentscheiden lokaler Behörden konfrontiert, die mitunter gegen geltendes Recht verstiessen», sagt Walter Noser. «Inzwischen beschränkt sich unsere Beratung fast ausschliesslich darauf, den Betroffenen Entscheide der Kesb zu erklären; etwa, was ein gemeinsames Sorgerecht für die getrennten Eltern und ihre Kinder konkret bedeutet.» Das Verrückte dabei sei: «Die meisten verstehen das dann auch.»

Selbstverständlich gibt es gewichtige Kritik. So bemängeln Experten das Fehlen von Pikettdiensten rund um die Uhr, zu knapp bemessene Stellenpläne, die hohe Personalfluktuation oder die Tendenz, Entscheidungsgremien personell aufzublähen, damit am Schluss niemand für einen Entscheid geradestehen muss.

Dass die Kesb Kritik auf sich zieht, liegt in der Natur ihrer Aufgabe. Sie muss von Gesetzes wegen einschreiten, wenn jemand schutzbedürftig oder gefährdet ist. Und Entscheide fällen, die tief ins Private hineinreichen und einschneidende Konsequenzen für das Leben der Betroffenen haben können. Dass es immer wieder solche gibt, die nicht alle Parteien zufriedenstellen, versteht sich von selbst.

Das José-Mourinho-Prinzip

In diesem Klima der Kesb-Hetze kann es leicht passieren, dass Täter zu Opfern werden. Wie beim Fussball, wenn ein Spieler wegen eines üblen Fouls rotsieht und der Schiedsrichter hinterher schuld an der Niederlage gewesen sein soll. Ein Meister solcher Verdrehungen ist Startrainer José Mourinho, der alles und jeden beleidigt, der dem Erfolg im Weg steht.

Das Mourinho-Prinzip der Diffamierung ist in der Schweiz angekommen. Das geht dann so: Eine Behörde nimmt den Eltern die Kinder weg. Die Mutter kämpft mit allen Mitteln gegen diesen Entscheid. Über die Feiertage können die Kinder heim zu ihr.

An Silvester teilt der Bezirksrat der Anwältin der Mutter schriftlich mit, dass ihre Beschwerde abgewiesen worden sei und die Kinder zurück ins Heim müssten. Die Mutter erfährt am Neujahrstag per E-Mail davon. Am Nachmittag berät sie sich mit ihren Eltern. Sie kommen zum Schluss, dass Mutter und Kinder untertauchen müssen. In der Nacht, allein zu Hause, sieht die Mutter keinen Ausweg mehr. Die Grosseltern berichten hinterher, die Mutter habe ihre zweijährige Tochter und ihren fünfjährigen Sohn vom Kinderheim «erlösen» wollen. Ein halbes Jahr später begeht die Mutter in der Untersuchungshaft Suizid. Ein schreckliches Drama.

Diese Geschichte, der sogenannte Fall Flaach, ist für Kesb-Gegner wie Zoë Jenny der Beweis, dass man die Kesb abschaffen sollte. Für sie trägt allein die Behörde die Schuld daran, dass Alessia und Nicolas sterben mussten. Die Mutter habe nicht anders gekonnt.

Da wird eine Täterin zum Opfer verklärt und mit einer Tragödie Politik gemacht. Solche Geschichten, die beweisen sollen, wie unmenschlich die Kesb agiert und dass sie besser heute als morgen abgeschafft gehört, funktionieren nur, wenn man sich mit der halben Wahrheit zufriedengibt.