Zur Person

Seit 2001 berät der Sozialarbeiter im Beobachter-Beratungszentrum Ratsuchende bei sozialen Anliegen oder bei Fragen zu Themen wie Schulrecht, Erwachsenenschutz- und Familienrecht. Seit 2013 ist Walter Noser auch Geschäftsführer der Stiftung SOS Beobachter.

Quelle: Thinkstock Kollektion

Beobachter: Warum gibt es die KESB überhaupt?
Walter Noser: Der Bundesrat sowie National- und Ständerat waren der Ansicht, dass der Vorgänger des Erwachsenenschutzrechts, das Vormundschaftsrecht, nicht mehr den Anforderungen der heutigen Zeit gerecht wird. Als man vor über 100 Jahren das Vormundschaftsrecht schrieb, ging man davon aus, dass schwierige Leute bei Anwendung gewisser Härte brav spuren. Das Erwachsenenschutzrecht ist eine Abkehr von dieser altväterischen Auffassung. Heute wird das Selbstbestimmungsrecht grossgeschrieben – auch bei Leuten, die nicht spuren. Oder anders ausgedrückt: Auch bei Leuten, die Probleme haben. Zudem waren sich alle einig, dass die Schwierigkeiten Einzelner nicht von Laien beurteilt, sondern von Profis angegangen werden sollten.

Beobachter: In den Vormundschaftsbehörden amteten Laien. Was für Leute arbeiten bei der KESB? Wie sind diese ausgebildet?
Noser: Das Gesetz schreibt vor, dass eine Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, kurz KESB, interdisziplinär zusammengesetzt sein soll. Aus diesem Grund arbeiten bei der KESB Leute, die von Berufs wegen helfen müssen: Sozialarbeiter, Juristen, Ärzte und Psychologen.

Beobachter: Das Thema KESB beschäftigt aber viele Menschen, die im Beratungszentrum des Beobachters anrufen und um Rat fragen. Hören Sie vor allem Klagen über die KESB?
Noser: Eigentlich ausschliesslich.

Beobachter: Kein Wohlwollen?
Noser: Nein. Niemand hat Beratungsbedarf, wenn alles rundläuft. Aber viele sind erstaunt, wenn wir erklären, dass eine KESB nicht nur Kinder platziert und Beistandschaften errichtet, sondern für Dinge zuständig ist, von denen wir alle profitieren können. 

«Es ist nicht so, dass die KESB in der Dämmerung graue Gestalten losschickt, die um die Häuser schleichen.»

Walter Noser

Beobachter: Zum Beispiel?
Noser: Die KESB muss einschreiten, wenn Ärzte sich über eine Patientenverfügung eines im Koma liegenden Menschen hinwegsetzen oder wenn sich die Angehörigen darüber streiten, ob bei der dementen und hochbetagten Mutter lebensverlängernde Operationen durchgeführt werden sollen. Sie muss Entscheide fällen, wenn zwei sorgeberechtigte Elternteile sich nicht einig sind, ob das Kind geimpft werden soll, und sie muss Verträge über die Unterhaltspflicht genehmigen. Weiter händigt die KESB dem Ehegatten einer urteilsunfähigen Person eine Urkunde aus, mit der dieser die Bankgeschäfte und andere Angelegenheiten besorgen kann.

Beobachter: Aber oft hört man, dass die KESB sich ungefragt in familiäre Angelegenheiten einmische.
Noser: Glaubt man den sozialen Medien und Boulevard-Journalisten, bekommt man tatsächlich den Eindruck, dass die KESB im Morgengrauen oder beim Eindunkeln graue Gestalten losschickt, die um die Häuser schleichen und ihre Nasen in fremde Angelegenheiten stecken. Dem ist nicht so: Bei der KESB arbeiten Menschen, keine Wirrköpfe. Die KESB wird in aller Regel erst tätig, wenn jemand eine Gefährdungsmeldung macht.

Beobachter: Wer macht solche Meldungen?
Noser: Jedermann kann eine Gefährdungsmeldung machen, wenn er das Gefühl hat, dass jemand auf Hilfe und Unterstützung angewiesen ist. Die KESB muss dann von Amtes wegen abklären, ob Handlungsbedarf besteht.

Fakten zum Erwachsenenschutzgesetz

Die vom Bundesrat vorgeschlagene Gesetzesrevision, die den Wechsel von der Vormundschaftsbehörde zum Erwachsenenschutz veranlasste, wurde im Parlament im Jahr 2008 verabschiedet. Der Nationalrat stimmte damals der Revision mit 144:41 Stimmen zu (bei 3 Enthaltungen), der Ständerat gar einstimmig. Das neue Gesetz ist per 1. Januar 2013 schweizweit in Kraft getreten.

Weitere Beobachter-Publikationen zum Thema:

Was darf die KESB? Vier Modellfälle
KESB: Was soll die Hysterie?

Beobachter: Und dann greift die KESB ein?
Noser: Sie schaltet sich ein. Möglich ist aber, dass die KESB zum Schluss kommt, dass sie nicht einschreiten muss, weil alles in Ordnung ist. Sie errichtet aber eine Massnahme, wenn jemand an einer geistigen Behinderung, einer psychischen Störung oder einem ähnlichen Zustand leidet und darüber hinaus nicht in der Lage ist, sich um seine Angelegenheiten zu kümmern. Sie greift auch ein, wenn sich ein Kind psychisch, physisch, emotional, geistig, kulturell und sozial nicht gut entwickeln kann. Kurz: wenn das Kindeswohl gefährdet ist.

Beobachter: Trotzdem ärgern sich viele Leute über die KESB. Warum? Was ärgert die Leute am meisten?
Noser: Das Gleiche, was auch mich ärgern würde, wenn jemand der KESB mitteilen würde, dass ich womöglich Hilfe wider Willen benötige. Es wäre auch für mich nicht einfach, wenn ich gegenüber fremden Leuten belegen müsste, dass in meinem Leben alles in Ordnung ist – oder wenn ich wider Willen Hilfe annehmen müsste. Niemandem gefällt es, wenn sich jemand in sein Leben einmischt. Die KESB kann aber nicht anders: Sie muss sich gegebenenfalls in die Privatsphäre der Bürger einmischen. 

«Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler. Das mag im Einzelfall tragisch sein, ist aber kein Grund für einen Volksaufstand.»

Walter Noser

Beobachter: Was raten Sie mir, wenn ich es mit der unliebsamen KESB zu tun hätte?
Noser: Ich würde Ihnen zu einem Umdenken raten: Die Behörde arbeitet nicht gegen, sondern für Sie. Die KESB wird sich nicht lange mit Ihnen befassen, wenn Sie keine Hilfe benötigen. Ferner sollten Sie keine Gespräche verweigern, denn die KESB wird sich mit Ihnen befassen, auch wenn Sie dies nicht wollen. Und ich würde Ihnen einen simplen Ratschlag mit auf den Weg geben: Es ist keine Schwäche, sondern eine Stärke, wenn man erkennt, dass man Hilfe benötigt. Und ich würde Sie über die Rechtslage informieren: Wenn die KESB einen Entscheid fällt, mit dem Sie nicht einverstanden sind, können Sie das Gericht einschalten.

Beobachter: Fällt die KESB in Ihren Augen keine Fehlentscheide?
Noser: Ob sie Fehlentscheide trifft, haben die Gerichte zu beurteilen, nicht ich. Doch ich halte fest: Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler. Das mag im Einzelfall tragisch sein, ist aber kein Grund für einen Volksaufstand. Wenn ein Ärztegremium eine Fehldiagnose stellt, wäre es auch vermessen, die Ärztekammer, die Gesundheitsbehörden und sämtliche Spitäler abzuschaffen. Ich halte deshalb nichts von der Idee, die KESB und das Erwachsenenschutzrecht wieder rückgängig zu machen.

Beobachter: Kritiker sagen, die KESB sei überheblich, distanziert, bürokratisch und menschenfeindlich. Deshalb müsse sie abgeschafft werden.
Noser: Ich kenne diese Meinung. Ich teile sie aber nicht. Wollen denn die Kritiker zurück zum Vormundschaftsrecht? Damals entschieden Laien über das Leben von hilfs- und schutzbedürftigen Menschen, und die Beschwerdemöglichkeiten gegen Entscheide waren sehr eingeschränkt.

Beobachter: Was kann die KESB tun, um ihren schlechten Ruf zu verbessern?
Noser: Nichts. Es ist nicht Aufgabe der KESB, ihr Tun und Lassen vor den Medien oder der Bevölkerung zu rechtfertigen. Ihre Aufgabe ist vielmehr, hilfsbedürftigen Menschen die nötige Hilfe zukommen zu lassen. In der Verantwortung stehen unsere Politiker und Politikerinnen: Sie haben in National- und Ständerat das neue Gesetz ziemlich klar durchgewinkt. Es geht deshalb nicht an, dass konservative und bürgerliche Kandidaten kurz vor den Wahlen mit KESB-Bashing auf Stimmenfang gehen. Andererseits geht es auch nicht, dass die Linke einfach schweigt, weil sie niemanden vergraulen will. Unsere Politiker müssen der Bevölkerung die Vorteile des neuen Rechts erklären.