Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass in Sisseln AG gegen ein Elternpaar wegen «Entziehung von Minderjährigen» ermittelt wird. Nach der Familientragödie in Flaach ZH, wo Anfang Jahr eine junge Mutter ihre zwei kleinen Kinder tötete, heizt dieser Fall die aufgeflammte Stimmung gegen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) zusätzlich an. Das Blut der Kinder klebe an den Händen der KESB, fasste «20 Minuten» die Meinung seiner Leser Anfang Jahrzusammen. Auch im Fall Sisseln sind sich aufgebrachte Bürger einig und tippen ihre Wut ins Internet: Die KESB ist schuld. Doch hätten die Familientragödien verhindert werden können?

Um diese Frage zu erörtern, ist ein Blick zurück angebracht: Vor zweieinhalb Jahren löste das Erwachsenenschutzgesetz das über hundertjährige Vormundschaftsrecht ab. Die Vorarbeiten dauerten ziemlich genau zwei Jahrzehnte. Nicht etwa, weil es so kompliziert wäre, ein neues Gesetz zu schreiben, sondern weil sich ausser Berufsverbänden niemand dafür interessierte. Als es dann fertig war, wurde es von National- und Ständerat mehr oder weniger einfach durchgewinkt. Weil die Presse wenig darüber schrieb, interessierte sich auch die Bevölkerung nicht für das neue Gesetz.

Das änderte sich schlagartig, als das Erwachsenenschutzrecht samt einigen geringfügigen Änderungen im Kindsrecht in Kraft trat und als Folge davon die regionalen Fachbehörden namens KESB ihre Arbeit aufnahmen und sich die kommunalen (Laien-)Vormundschaftsbehörden auflösten. Prominente wie etwa die Schriftstellerin Zoë Jenny oder die Psychotherapeutin Julia Onken lassen an den neu geschaffenen Behörden seither kein gutes Haar: Sie seien schlicht unfähig. Vertreter der SVP wollen die Kompetenzen der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden mit einer Unterschriftensammlung beschränken – sie scheinen vergessen zu haben, dass Christoph Blocher als Bundesrat die Schaffung eines Fachgremiums mit Juristen, Psychologinnen und Sozialarbeitern unterstützte. In Sozialen Medien wird gar unzimperlich gefordert, dass Köpfe rollen sollen.

«Leider sind aufgebrachte Wutbürger für Argumente nicht empfänglich.»

Was wäre, wenn ...?

Die Fälle sind Wasser auf die Mühle derjenigen, die das neue Gesetz wieder abschaffen wollen. Schliesslich sei mit seiner Einführung alles nur schlimmer statt besser geworden. Einige versteifen sich sogar zur Behauptung, dass alles in bester Ordnung wäre, wenn sich die KESB nie einschalten würde. Das ist genauso Unsinn wie die Hoffnung, es gebe plötzlich keine Fehlentscheide mehr. Kein Gesetz und keine Behörde der Welt kann schwierige Familiensituationen verhindern. Dennoch braucht ein Rechtsstaat gut funktionierende Behörden, wie schon Leo Tolstoi wusste: «Als ob es ohne Behörden gehen könnte! Da möchte ja jeder über andere herfallen», schrieb er in «Krieg und Frieden».

Seit Monaten beginnen viele Ratsuchende am Beobachter-Beratungstelefon ihre Frage mit einem Rätsel: «Raten Sie mal, womit ich Probleme habe?» Des Rätsels Lösung liefern sie gleich selbst: «Natürlich mit dieser idiotischen KESB!» Viele sind erstaunt, wenn ich nicht ins gleiche Horn blase. Das neue Gesetz ist nämlich eine Abkehr vom altväterischen Verständnis des alten Vormundschaftsrechts und setzt die Selbstbestimmung und die Menschenwürde ins Zentrum. Was kann so falsch daran sein, dass eine Fachbehörde dies umsetzen soll? Sicher nichts.

Problematisch ist jedoch, dass die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden wegen Sparmassnahmen keine Pikettdienste rund um die Uhr anbieten dürfen und das Personal davonläuft. Letzteres liegt aber nicht am Auftrag, sondern an der Belastung: Die Mitarbeiter müssen tausende alter Massnahmen dem neuen Recht anpassen und arbeiten deswegen nicht selten halbe Nächte durch. Wegen Zeitmangels sind sie kaum in der Lage, den Schutz von Kindern und Erwachsenen zu gewährleisten. Finden sie Zeit, ists auch nicht recht: Die Massnahmen seien zu teuer und zudem seien die Behörden zu weit weg von der Bevölkerung, heisst es. Als ob geografische Nähe eine Garantie für Menschlichkeit wäre: Das Steueramt im zürcherischen Dürnten, das einen Bürger fast in den Ruin trieb, weil er mit Steuererklärungen überfordert war, bewies kürzlich das Gegenteil.

Auch ist es keineswegs neu, dass die Sozialbehörden bezahlen müssen, was die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden beschliessen. Auch Beschlüsse der Vormundschaftsbehörden mussten von den Sozialbehörden bezahlt werden. Bis zur Einführung des neuen Gesetzes wurde aber oft die billigste Lösung gewählt. Schliesslich war die Vormundschaftsbehörde vielerorts gleichzeitig die Sozialhilfebehörde. Das war so absurd wie es absurd wäre, wenn die Sozialbehörden ein Mitentscheidungsrecht hätten, ob ein Straftäter freigesprochen oder zu einer teuren Verwahrung verurteilt wird. Solche Entscheide gehören in die Hände von unabhängigen Profis, die den Menschen und nicht die Finanzen ins Zentrum stellen. Das gleiche gilt im Kindes- und Erwachsenenschutz.

Als Berater beim Beobachter wünsche ich mir nicht die Zeiten zurück, als die Leser verzweifelt anriefen, weil ihnen nach Gutdünken die Freiheit entzogen wurde oder weil sie von Laien entmündigt wurden. Ich erkläre gern, dass die Rechte von bedürftigen Menschen verbessert wurden. Ich erkläre gern, dass Laien bei komplexen Fällen wie familiärer Gewalt, Verwahrlosung oder Missbrauch von Kindern schlicht überfordert waren. Dass die Hürden für Fremdplatzierungen sehr hoch sind und die Tendenz zeigt, dass es seit Einführung des neuen Rechts weniger Fremdplatzierungen gibt. Dass es nicht mehr der Nachbar Huber ist, der die Frau Müller oder ihre Kinder ins Heim stecken kann. Dass es nicht mehr die Vormundschaftssekretärin Meier ist, die sich bei allen beliebt machen will und deshalb lieber wegschaut, wenn gehandelt werden sollte. Leider sind aufgebrachte Wutbürger für Argumente nicht empfänglich.

Hinweis: Dieser Artikel ist im Original im Januar 2015 im   Beobachter  erschienen. Er wurde nun der Aktualität angepasst und erneut publiziert.