Das Mitgefühl hielt sich in engen Grenzen, als Daniela Widmer und David Och 2011 im pakistanischen Belutschistan entführt wurden: Selber schuld, hiess es; es gab ja eine Reisewarnung für das Gebiet. Als sie achteinhalb Monate später gerettet wurden, mussten sie sich Schimpf und Schande anhören. Volk und Politiker warfen ihnen Eigensinn vor, pochten auf «mehr Eigenverantwortung».

Nur die Rückführungskosten von 20'000 Franken mussten die beiden übernehmen – das war vielen Steuerzahlern ein zu kleiner Beitrag an die 2,3 Millionen Franken, die ihre Rettung gekostet haben soll.

Quelle: Thilo Rothacker

Die befreiten Geiseln hatten das falsche Hobby. Sie hätten bergsteigen sollen.

Künftig sollen befreite Geiseln mehr zahlen, falls sie fahrlässig gehandelt haben. Das sieht die neue Gebührenverordnung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor, die am 1. November in Kraft tritt. «Fahrlässig» handelt der Verordnung zufolge, wer «die Empfehlungen des Bundes, namentlich die Reisehinweise und die individuellen Empfehlungen des EDA, nicht beachtet». Wer sich trotz Empfehlungen in Gefahr begibt, dem wird also die gesellschaftliche Solidarität gekündigt.

Sie sagen zu Recht: Wir waren nicht schuld

Dass dafür eine EDA-Verordnung als Rechtsgrundlage herhalten muss, entlarvt den wahren Geist des Bestrebens: Leute wie Och und Widmer haben sich das falsche Hobby ausgesucht. Statt globetrotten hätten sie bergsteigen sollen. Bergsteigen hat ein gutes Image, dabei ist es gesellschaftlich mindestens so sinnfrei wie Weltreisen – und ebenfalls gefährlich: Steinschlag, Lawinen, Wetterumschwünge, Materialschwächen oder nur schon ein Misstritt können schnell tragische Folgen haben oder eine aufwendige Rettungsaktion nötig machen.

Trotzdem ist mit entsprechender Ausrüstung, Vorbereitung und Kenntnis selbst bei erheblicher Lawinengefahr eine Bergtour möglich. Und auch bei besten Verhältnissen kann ein Unglück passieren. Dann hatte man eben Pech. Genau das nahmen die beiden Exgeiseln für sich in Anspruch. Sie sagen zu Recht: Wir sind nicht schuld. Wir waren uns der Gefahren bewusst – und wir waren vorbereitet. Wir haben die örtliche Polizei über unsere Route informiert, bewaffneten Geleitschutz organisiert – und Pech gehabt. Schuld an der Entführung sind die Entführer.

Wie viel Selbstbestimmung wollen wir uns leisten?

Widmer und Och sind ein Risiko eingegangen. Das tun wir alle manchmal; die einen mehr, die anderen weniger. Doch wenn sich die Mehrheit entscheidet, etwas Riskantes nicht zu tun, bezeichnet sie das gern als vernünftig. Nun liegt Vernunft aber nicht darin, sich nie in Gefahr zu begeben, sondern diese mit einer seriösen Vorbereitung möglichst zu minimieren. Wie beim Bergsteigen. Die Diskussion sollte sich um das Mass an Selbstbestimmung drehen, das wir uns leisten wollen – leisten, weil der Allgemeinheit tatsächlich oft Kosten entstehen, wenn etwas schiefgeht.

Stattdessen erklärt man nicht risikofreies Verhalten mehr und mehr zur Privatsache. Man fordert Verbote, und das kollektive Sicherheitsverständnis beginnt schleichend, unsere Selbstbestimmung einzuschränken. Solange sich das gegen Randgruppen richtet, sind wir schnell einverstanden: Waghalsige Extremsportler, jugendliche Rauschtrinker und in Geiselhaft geratene Abenteuerreisende handeln fahrlässig und sollen darum selber blechen.

Wen triffts als Nächste? Die Velofahrer?

Schon erklärt die IV einen Kopfsprung in den Fluss zum «grossen Wagnis», damit sie weniger zahlen muss. Politiker und Krankenkassen schielen auf Raucher und Dicke, um sie für ihren «riskanten» Lebenswandel zur Kasse zu bitten. Und eine grosse Versicherung erklärte Velofahren zur gefährlichen Fortbewegungsart. Wir sollten überlegen, wohin das führt. Selbstbestimmung ist unbezahlbar. Sie zu verlieren ist für einen Menschen das Allerschlimmste, sagen Widmer und Och. Sie wissen, wovon sie reden.