Der Schiessstand ist schön gelegen, umgeben von Getreidefeldern und Wiesen. Idyll pur. Doch Stefan Hübscher hat Sorgen: «Ich hätte nie gedacht, dass das solche Dimensionen annimmt», sagt der Bauverwalter von Seedorf im Berner Seeland. Abertausende von Gewehrpatronen, die während Jahrzehnten auf die Schiessscheiben abgefeuert wurden, haben das Erdreich im Kugelfang stark mit Blei belastet – es auszubaggern und zu entsorgen kostet 400'000 Franken. Hübscher schüttelt den Kopf. «Das Ganze ist viel zu teuer.»

Wie Hübscher ergeht es derzeit Gemeindevertretern im ganzen Land. Bis 2020 müssen gegen 2500 zivile Schiessstände saniert werden, so will es der Bund. Das ist ungefähr einer pro Gemeinde. Viele empfinden das als Strafaufgabe. In finanzschwachen Kantonen wie Solothurn und Bern schieben klamme Kommunen die Arbeit vor sich her.

Flaues Gefühl wegen der hohen Kosten

So zum Beispiel Sigriswil. Acht Schiessanlagen hat die weitläufige Berner Oberländer Gemeinde. Wie viele saniert werden müssen, ist noch nicht geklärt, trotzdem hat Gemeinderatspräsident Alfred Santschi ein flaues Gefühl im Magen. Er rechnet mit Kosten von gegen einer Million Franken. Es könnte auch mehr werden: Bei den Arbeiten im bergigen Gelände müssen wohl Helikopter zum Einsatz kommen. «Wenn die Gemeinde mehr als 100'000 Franken übernehmen muss, haben wir ein Problem», sagt Santschi. Sigriswil müsste an eine Steuererhöhung denken: «Was die Bevölkerung allerdings ablehnen würde.»

«Warum koordiniert nicht die Armee die Sanierung, statt dass jede Gemeinde für sich wurstelt?»

Stefan Hübscher, Bauverwalter der Berner Gemeinde Seedorf

Bis vor wenigen Jahrzehnten war Schiessen hierzulande patriotische Pflicht. Im Kalten Krieg hatte die Schweiz im Verhältnis zur Bevölkerungszahl eine der grössten Armeen der Welt. Ein rechter Schweizer hatte sein Sturmgewehr zu Hause im Schrank und schoss regelmässig sein «Obligatorisches». In jedem noch so kleinen Dorf gab es einen Schützenverein. Für die männliche Landbevölkerung war Schiessen eine der populärsten Freizeitaktivitäten. Und das aus Tradition: War nicht schon der helvetische Urheld Wilhelm Tell ein Schütze gewesen?

Das Ergebnis der patriotischen Schiesserei: 30'000 bis 40'000 Tonnen Blei sowie bis zu 2000 Tonnen Antimon stecken in Schweizer Böden, schätzt das Bundesamt für Umwelt. Macht pro Gemeinde im Schnitt etwa 15 Tonnen Blei, die potenziell Grundwasser, Gewässer und Böden gefährden. Und damit auch Mensch und Tier: Blei lagert sich nach regelmässiger Aufnahme in den Knochen ab und wird nur sehr langsam wieder ausgeschieden. Das kann zu einer chronischen Vergiftung führen. Antimon ist ähnlich toxisch wie Arsen und schädigt Herz, Niere und Leber. Also muss das Gift weg. Im Rahmen eines landesweiten Aufräumens von Altlasten.

In Seedorf führt Bauverwalter Stefan Hübscher mit einer Mischung aus Ärger über den Aufwand und Stolz auf das Erreichte durch den Schiessstand Löhr. Bei der Bodenanalyse hatte sich herausgestellt, dass ein viel grösserer Teil des Erdreichs schadstoffbelastet war als angenommen – vor Jahrzehnten war Material umgeschichtet worden, das trieb nun die Sanierungskosten in die Höhe. Dabei, sagt Hübscher, kämen kleinere Gemeinden bei diesen Projekten nicht nur wegen der Kosten an ihre Grenzen.

Auch die Zusammenarbeit mit den zuständigen Ingenieurbüros sei sehr aufwendig. «Man könnte das viel professioneller umsetzen», kritisiert er. «Die Armee hat dafür Profis. Warum koordinieren nicht die diese Schiessstandsanierungen, statt dass jede Gemeinde für sich wurstelt?»

Grosse Belastung für kleine Gemeinde

Der Schiessstand Löhr ist nur einer von mehreren in Seedorf. Wie viele saniert werden müssen, ist unklar, zu welchem Preis ebenfalls. Von der Rechnung von gut 400'000 Franken für die Anlage Löhr bezahlt die Gemeinde etwas mehr als 50'000. Der Kanton übernimmt rund 250'000 Franken, der Bund 80'000. Der Schützenverein bezahlt nur 10'000 Franken.

Die Beseitigung der Altlasten kostete 400'000 Franken: Stefan Hübscher, Bauverwalter von Seedorf, im Schiessstand Löhr.

Quelle: Simon Iannelli

Dass der Hauptverursacher der Bodenbelastung nur zu einem Bruchteil zur Kasse gebeten wird, widerspricht zwar dem Verursacherprinzip – doch es scheint dem politischen Konsens zu entsprechen, die einst als fast schon staatstragend betrachteten Schützenvereine grosszügig zu entlasten.

Höhere Kosten würden die Vereine ohnehin ruinieren, zumal viele mangels Nachwuchs aufgelöst oder zusammengelegt werden. Dazu kommt: Auch Armeeangehörige haben eifrig zur Bodenbelastung beigetragen. In erster Linie durch das ausserdienstliche obligatorische Schiessen, aber auch durch Truppen im Dienst, die zivile Schiessanlagen nutzten.

Streit um das «Obligatorische»

Lieber als die Schützen attackieren Lokalpolitiker daher die Eidgenossenschaft – und insbesondere die Armee. Der Bund zahlt heute schweizweit 8000 Franken pro Scheibe, diese Beträge sind fix und decken in der Regel etwa 40 Prozent einer Schiessstand-sanierung. Das ist zu wenig, findet der Seedorfer Bauverwalter Hübscher. Und zahlreiche kommunale und kantonale Offizielle denken wie er: Zusätzlich zu den fixen Bundesbeiträgen müsse die Armee zahlen.

Das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) zahlt an die Schiessstandsanierungen heute nur den – meist minimen – Verursacheranteil der Truppen im Dienst. Für das «Obligatorische» vergütet das VBS nichts. Berner Kantonsparlamentarier wollten das ändern und via Standesinitiative höhere Armeebeiträge erzwingen. Die Kantonsregierung lehnte dieses Vorgehen zwar ab, will sich aber auf anderem Weg beim Bund für eine höhere VBS-Beteiligung einsetzen.

Forscher geht der Kanton Zürich vor: Bei der Sanierung des Schiessstands in Hüntwangen fand Zürich, das VBS sei für die durch das ausserdienstliche Schiessen entstandene Umweltbelastung haftbar, da es das «Obligatorische» ja schliesslich verordnet habe. Die entsprechenden Kosten wurden kurzerhand dem Verteidigungsdepartement verrechnet.

Es geht um 500 Millionen Franken

Dieses rekurrierte, blitzte aber Anfang Jahr vor dem Zürcher Verwaltungsgericht ab. Nun kommt der Fall vor Bundesgericht. Das VBS sieht sich dank einem früheren Urteil im Recht. Das höchste Gericht befand 2005 im Fall Arth-Goldau, der Bund schreibe zwar das ausserdienstliche obligatorische Schiessen vor, dessen «Vollzug wie auch der Betrieb der Anlagen» obliege aber den Kantonen und Gemeinden. Daher seien diese haftbar.

«Wir haben viel Geld ausgegeben, einen offensichtlichen Nutzen haben wir aber nicht.»

Simone Wisler, Gemeinderätin von Hölstein

Sicher ist: Ein Entscheid des Bundesgerichts gegen das Departement von Verteidigungsminister Ueli Maurer hätte Konsequenzen. Das Bundesamt für Umwelt schätzt die landesweiten Gesamtkosten für Schiessstandsanierungen auf 500 Millionen Franken. Von den bereits aufgewendeten 120 Millionen Franken übernahm das VBS bisher bloss vier Millionen.

Falls Kommunen und Kantone nun hoffen, künftig einen grossen Kostenanteil auf das VBS abwälzen zu können, dürften sie enttäuscht werden. Gestützt auf die Schusszahlenstatistik, beziffert das VBS den Anteil des obligatorischen Schiessens an der Gesamtbleibelastung auf maximal elf Prozent: rund 50 der 500 Millionen Franken. Nebenbei: Die Armee muss auch noch ihre eigenen Schiessanlagen aufräumen – was schätzungsweise ebenfalls 500 Millionen Franken kostet.

Sanierungen «völlig übertrieben»

In Hölstein BL sind die Bagger wieder weg. Das Waldenburger-Bähnchen tuckert gemächlich vorüber. Jenseits der Gleise befinden sich die zwei Schiessstände – mitten im Grundwassergebiet. Sie sind bereits saniert. Für das finanzschwache Hölstein waren die Kosten von 100'000 Franken beträchtlich, so Gemeinderätin Simone Wisler. Sie moniert: «Das Blei war jahrzehntelang im Boden, Schäden wurden nie festgestellt. Wir haben viel Geld ausgegeben, einen offensichtlichen Nutzen haben wir aber nicht.»

Das Grundwasser sei nicht mit Blei belastet, bestätigt der für das Projekt zuständige Geologe Wilhelm Fries. Er spricht von einer «administrativ beschlossenen Sanierungspflicht». Ins gleiche Horn wie Wisler blasen die Gemeindevertreter von Seedorf und Sigriswil: Die Sanierungen seien völlig übertrieben, früher hätten Schafe im Kugelfanggebiet geweidet, keines sei je verendet. Die Bevölkerung sehe den Sinn des teuren Aufräumens nicht.

Solche Aussagen bringen Ursin Ginsig auf die Palme. Als Umweltnaturwissenschaftler und Geschäftsführer der Klotener Entsorgungsfirma Eberhard Recycling ist er Altlastenexperte. Blei sei keineswegs ungefährlich, stellt er klar. Auf Kugelfängen weidende Tiere seien schon verendet. Längerfristig könne das Gift zudem ins Wasser gelangen. Eine Studie des Umweltbüros Geotest hält ausserdem fest: Wegen der geringen Mobilität von Blei im Boden sei zwar meist keine unmittelbare Gefährdung gegeben, eine signifikante Grundwasserbelastung «erst nach mehreren Jahrhunderten» zu erwarten. Bei Antimon seien die Fristen aber kürzer – insgesamt gehe von Kugelfängen daher ein «erhebliches Schadstoffpotenzial» aus. Je nach Bodenbeschaffenheit könne eine Grundwasserbelastung sehr schnell eintreten, betont auch das Bundesamt für Umwelt: «Gelangen Blei und Antimon aus den Schiessanlagen in die Nahrungsmittelkette, so werden die Konsumenten chronisch gefährdet.»

Doch wohin mit dem Abfall? Stark belastete Erde wird in speziellen Waschanlagen gereinigt, das Blei rezykliert. Schwächer belastetes Material hingegen landet, Blei inklusive, auf Deponien: laut Experten eine Wertstoffverschwendung. Viel Blei bleibt auch im Boden. Wo weder Landwirtschaftsland noch Wasser gefährdet sind, wird nicht aufgeräumt. 1500 Schiessanlagen – etwa in Wäldern – werden den nachfolgenden Generationen überlassen. Mitsamt dem Gift.

Wie kommt man vom Blei weg?

In Seedorf erklärt Bauverwalter Hübscher, wie die Bleiverschmutzung bei neuen Anlagen vermieden wird: Hinter jeder Schiessscheibe fängt ein Kunststoffkasten die Kugeln ab, das Blei wird eingesammelt. «Man könnte ja auch virtuell schiessen», meint Hübscher, um vom Blei wegzukommen. Was er halb scherzhaft meint, ist zu einem gewissen Grad Realität: Laut einem Armeesprecher trainiert das Militär seit Jahrzehnten mit Simulatoren. Er schränkt aber ein: «Es ist klar: Den ‹scharfen› Schuss wird man damit nie vollständig ersetzen können.»

Das Verschiessen von Blei bleibt der Schweiz also erhalten. Laut Angaben des Bundesamts für Umwelt landen in den Kugelfängen jedes Jahr etwa 200 zusätzliche Tonnen des giftigen Schwermetalls.