Zur Person

Elisabeth Baumgartner ist Leiterin der Abteilung für Vergangenheitsbewältigung bei der Schweizerischen Friedensstiftung (Swisspeace) in Bern. Zuvor arbeitete die Rechtsanwältin und Expertin für Menschen- und Völkerrecht für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Kolumbien und Äthiopien sowie am Sondertribunal für Sierra Leone.

Quelle: Reuters

Beobachter: Über 7000 muslimische Jungen und Männer im Alter von 13 bis 78 Jahren wurden in einer Uno-Schutzzone systematisch ermordet: Kann sich ein solches Massaker wiederholen?
Elisabeth Baumgartner: Leider ja. Im Kongo etwa werden trotz Uno-Schutztruppen ganze Dörfer ausgelöscht. 

Beobachter: Hat man nichts aus Srebrenica gelernt?
Baumgartner: Doch, durchaus. Seit den Genoziden dort und in Ruanda umfassen die Mandate von Uno-Friedensmissionen klar auch den Einsatz von Waffen zum Schutz der Zivilbevölkerung.

Beobachter: War der in Srebrenica nicht erlaubt?
Baumgartner: Die Uno-Truppen durften sich selber verteidigen. Doch mit nur 400 leichtbewaffneten Blauhelmen war die Verteidigung der Zivilbevölkerung in der Schutzzone Srebrenica nicht möglich. Zudem war die angeforderte Unterstützung durch die Luftwaffe ausgeblieben. Offensichtlich hatte man die Lage vor Ort falsch eingeschätzt.

Beobachter: Wie konnte das passieren?

Baumgartner: Man darf nicht vergessen, dass Länder mit gut ausgebildeten Truppen häufig kein Interesse daran haben, ihre Leute in Konfliktgebiete zu schicken. Immer wieder muss man deshalb auch mit schlecht ausgebildetem militärischem Personal arbeiten. 

Beobachter: Tausende Menschen verloren ihr Leben, weil man die Lage falsch einschätzte?
Baumgartner: Das war sicherlich einer der Gründe. Eine andere Problematik ist, dass die Uno grundsätzlich dazu da ist, den Erhalt des Friedens vor Ort zu sichern – und nicht, um Teil des bewaffneten Konflikts zu werden und Partei zu ergreifen. Die Entscheidung, ob man – als Friedensmission – zu Waffen greifen soll, ist also nicht so einfach, wie es von hier aus scheinen mag. 

Beobachter: Seit dem Massenmord sind 20 Jahre vergangen. Ist Srebrenica heute überhaupt noch ein Thema?
Baumgartner: Ja, absolut. Srebrenica hat einen grossen Symbolcharakter. Das Völkerstrafrecht und die Vergangenheitsarbeit wären nicht da, wo sie heute sind. Zudem bin ich davon überzeugt, dass es den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ohne die Völkermorde in Srebrenica und Ruanda damals nicht geben würde.

«Viele Angehörige haben bis heute keinen Franken erhalten.»

Elisabeth Baumgartner

Beobachter: Warum?
Baumgartner: Die Idee eines permanenten Welt-Strafgerichtshofs war zwar schon nach dem Zweiten Weltkrieg und den Nürnberger Prozessen da; während des Kalten Kriegs fehlte jedoch der politische Wille und Druck. Unter den Eindrücken der entsetzlichen Geschehnisse in Srebrenica und Ruanda gab es in den neunziger Jahren ein politisches Momentum, in dem man versuchen wollte, mittels einer solchen internationalen Institution das humanitäre Völkerrecht besser durchzusetzen und dadurch den Frieden zu erhalten. 

Beobachter: Warum wollte man nicht weiterhin Kriegsverbrechertribunale wie zu Srebrenica einsetzen?
Baumgartner: Bei diesen Gremien handelt es sich um Ad-hoc-Tribunale mit sehr beschränkten geografischen und zeitlichen Mandaten, weshalb man sie nicht mit einer internationalen und permanenten Institution vergleichen kann. Hinzu kommt, dass diese Tribunale vom Uno-Sicherheitsrat eingesetzt wurden, also von einem sehr politisierten und nicht repräsentativen Gremium. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wird hingegen von seinen Mitgliedstaaten getragen und geniesst dadurch auch mehr Legitimität.

Bosnienkrieg und Srebrenica: Eine Chronologie

1. März 1992:

Ein überwiegender Teil der stimmberechtigten Personen in Bosnien entscheidet sich für die Unabhängigkeit ihres Landes von Jugoslawien. Nachdem zahlreiche westliche Länder diese Unabhängigkeit akzeptiert hatten, eskaliert im April die Lage und der Krieg bricht aus.

16. April 1993

Während der Kämpfe zwischen bosnischen Serben und Bosniaken im Osten Bosniens erklärt der Uno-Sicherheitsrat Srebrenica zur Schutzzone für die Zivilbevölkerung. 

mladic.jpg6. Juli 1995

Vor allem Muslime aus Bosnien-Herzegowina suchen in Srebrenica Schutz vor den Soldaten des serbischen Generals Ratko Mladić (siehe Bild). Ab Juli 1995 belagert seine Armee die Stadt und bombardiert die Schutzzone.

 11. Juli 1995

srebrenica3.jpgTausende fliehen verzweifelt vor Mladićs Armee in Gebiete, die von muslimischen Bosniern kontrolliert werden (siehe Bild). Andere suchen Schutz in der sechs Kilometer von Srebrenica entfernten Uno-Basis im Dorf Potočari. Am 11. Juli erklärt der Uno-Sonderbeauftragte, serbische Kräfte hätten Srebrenica eingenommen. 

12./13. Juli 1995

Von Srebrenica aus rücken Mladićs Einheiten in das Dorf Potočari ein. Am 12. und 13. Juli beginnen die Soldaten – teilweise unter Mithilfe der Uno-Blauhelme aus den Niederlanden –, Frauen und Kinder auf Lastwagen und in Autobussen abzutransportieren. Danach bringen sie über 7000 vorwiegend muslimische bosnische Männer und Jungen um. Der Massenmord von Srebrenica ist das grösste Massaker in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bis heute findet man in der Umgebung von Srebrenica Überreste Ermordeter.

21. November 1995

Der Krieg wird mit der Annahme des Vertrages von Dayton offiziell beendet. Das Abkommen legte die Unabhängigkeit und die international anerkannten Grenzen der Republik Bosnien-Herzegowina fest. Der Krieg forderte insgesamt rund 100'000 Todesopfer. 

2015

Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat 161 Personen angeklagt und 80 verurteilt; 14 Verfahren laufen noch. Im April endete der zehnte Srebrenica-Prozess mit der Verurteilung des früheren Generals Zdravko Tolimir zu lebenslanger Haft. Die Urteile im Verfahren gegen die beiden mutmasslichen Hauptverantwortlichen des Völkermords, Radovan Karadžić und Ratko Mladić, stehen noch aus.

7355 Opfer des Massakers von Srebrenica sind inzwischen namentlich bekannt: Gedenkstätte in Potocari.

Quelle: Reuters

Beobachter: Wie viel bringt der Internationale Strafgerichtshof tatsächlich?
Baumgartner: Das ist die grosse Frage, die ich mir auch immer wieder stelle. 

Beobachter: Und wie lautet die Antwort?
Baumgartner: Die Wirkung ist schwer messbar und kaum erforscht. Was man mit Sicherheit sagen kann: Strafgerichtsbarkeit ist ein Mittel zur Vergangenheitsaufarbeitung. Vertreter der Opfer in Srebrenica betonen immer wieder, wie wichtig es für sie war, dass das Gericht feststellte: Es war ein Genozid.

Beobachter: Und was ist mit den Einzelnen? Kann die Strafe für einen Täter je hoch genug sein, um das Leid einer Frau, deren Mann und Sohn ermordet wurden, zu lindern?
Baumgartner: Nein. Eine Frau, die in Srebrenica ihren Mann und ihre Söhne verloren hat, wird kaum je das Gefühl haben, dass die Strafe angemessen ist. Aber darum geht es nicht. Ein solches Unrecht muss strafrechtliche Konsequenzen haben. Und es ist wichtig, dass man parallel dazu weitere Massnahmen zur Vergangenheitsbewältigung ergreift, sonst kann ein Urteil die Gesellschaft noch weiter spalten. Gerade im Balkan war der Widerstand gegen die Entscheide des Kriegsverbrechertribunals in gewissen Staaten gross. Zudem waren viele Opfer, die dem Gericht positiv gegenübergestanden hatten, von dessen Rechtsprechung enttäuscht. 

Beobachter: Weshalb?
Baumgartner: Damit ein Urteil gefällt werden kann, müssen die Opfer vor Gericht immer und immer wieder erzählen, was ihnen angetan worden ist. Das ist sehr schmerzhaft. Wenn es allerdings nicht genügend Beweise gibt, wird ein mutmasslicher Täter freigesprochen. So funktioniert Strafrecht. Für die Opferzeugen ist das verständlicherweise äusserst belastend. Hinzu kommt, dass es für die Opfer auch sehr schwierig zu verstehen ist, wie man so viel Geld in ein Gericht investieren konnte.

Beobachter: Während die Zivilbevölkerung weiterhin auf Wiedergutmachung wartet.
Baumgartner: Genau das ist das Problem. Viele Angehörige haben auch 20 Jahre nach Srebrenica noch keinen Franken Reparation erhalten. Diese Frauen müssen ihre magere Rente beim Amt abholen, wo unter Umständen jemand sitzt, der in vergangenes Unrecht involviert war. Vor allem aber die Tatsache, dass bis heute nach sterblichen Überresten Verschwundener gesucht wird, macht es Angehörigen fast unmöglich, in die Zukunft zu schauen. Aber auch hier haben wir viel aus den Versäumnissen in Srebrenica gelernt und versuchen es besser zu machen.

Der neue Beobachter

Lesen Sie das vollständige Gespräch mit Elisabeth Baumgartner in der aktuellen Ausgabe des Beobachters. Weitere Themen: Faszination Hagel, wie eine Amateur-Radfahrerin über drei Schweizer Pässe strampelt und wie sich die Freiwilligenarbeit neuer Beliebtheit erfreut.

Der Beobachter 14/2015 erscheint am Freitag, 10. Juli 2015. Sie erhalten die Ausgabe am Kiosk, als E-Paper oder im Abo.

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Quelle: Reuters